Die Frage der Arzthaftung bei Diagnosefehler des Unfallchirurgen stellte sich, nachdem die Radiusköpfchen-Luxation eines Kindes im Krankenhaus übersehen wurde und dauerhafte Gelenkschäden nach sich zog. Das OLG Frankfurt musste klären, ob dieser schwerwiegende Befunderhebungsfehler aufgrund der Seltenheit der Verletzung als entschuldbarer Irrtum galt.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Wann führt ein Diagnosefehler des Unfallchirurgen zur Arzthaftung?
- Ein Sturz mit unerwarteten Folgen: Der Fall im Detail
- Welche rechtlichen Maßstäbe gelten bei einem Diagnoseverdacht?
- Warum entschied das Gericht so – und nicht anders?
- Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann gilt das Übersehen meiner Verletzung als grober Behandlungsfehler?
- Wer haftet für Diagnosefehler des externen Radiologen: das Krankenhaus oder der Arzt?
- Habe ich Anspruch auf Schmerzensgeld, wenn die Diagnose verzögert wurde?
- Was unterscheidet einen Befunderhebungsfehler von einer reinen Fehldiagnose?
- Wie kann ich einen groben Diagnosefehler juristisch nachweisen?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 17 U 58/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt am Main
- Datum: 24.09.2025
- Aktenzeichen: 17 U 58/23
- Verfahren: Zivilrechtliches Urteil
- Rechtsbereiche: Arzthaftung, Schadensersatzrecht
- Das Problem: Eine im Jahr 2012 geborene Klägerin stürzte auf ihren rechten Arm. Sie wirft dem behandelnden Unfallchirurgen vor, einen Diagnosefehler begangen zu haben. Die Klägerin fordert Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen der übersehenen Verletzung.
- Die Rechtsfrage: Hat der Chirurg einen vorwerfbaren Fehler gemacht, als er die isolierte Auskugelung des Radiusköpfchens übersah? Ist das Krankenhaus als Trägerin auch für die Befundungsfehler des hinzugezogenen Radiologen verantwortlich?
Wann führt ein Diagnosefehler des Unfallchirurgen zur Arzthaftung?
Ein alltäglicher Sturz eines Kindes auf den Spielplatz, gefolgt von einem Besuch in der Notaufnahme – eine Situation, die unzählige Eltern kennen. Doch was passiert, wenn eine schwerwiegende Verletzung im Krankenhaus übersehen wird und zu dauerhaften Schäden führt? Genau diese Frage musste das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in einem Urteil vom 24.09.2025 (Az.: 17 U 58/23) beantworten. Der Fall beleuchtet die feine, aber entscheidende Linie zwischen einem entschuldbaren Diagnoseirrtum und einem vorwerfbaren Behandlungsfehler, der zu Ansprüchen auf Schmerzensgeld und Schadensersatz führen kann. Im Zentrum der richterlichen Analyse stand nicht nur das Handeln des diensthabenden Unfallchirurgen, sondern auch die heikle Frage, inwieweit ein Krankenhaus für die Einschätzung eines externen Spezialisten geradestehen muss.
Ein Sturz mit unerwarteten Folgen: Der Fall im Detail
Im Mai 2020 stürzte die damals achtjährige Klägerin und verletzte sich am rechten Arm. Im Krankenhaus der Beklagten wurde sie vom diensthabenden Unfallchirurgen untersucht. Da der Verdacht auf einen Knochenbruch bestand, ordnete dieser eine Röntgenuntersuchung des Ellenbogens in zwei Ebenen an. Die Bilder wurden von einem externen Radiologen ausgewertet, der zur Befundung hinzugezogen wurde. In dessen schriftlichem Bericht stand: „Kein Nachweis einer frischen knöchernen Verletzung.“ Basierend auf diesem Befund und seiner eigenen Untersuchung diagnostizierte der Unfallchirurg eine Ellenbogenprellung und empfahl, den Arm zu schonen.
Doch die Schmerzen des Mädchens ließen nicht nach. Erst bei einer späteren Untersuchung durch einen anderen Arzt kam die wahre Ursache ans Licht: eine isolierte Radiusköpfchen-Luxation. Dabei handelt es sich um eine seltene, aber schwere Gelenkverletzung, bei der der Speichenkopf aus seiner Position im Ellenbogengelenk springt. Weil diese Verletzung nicht sofort erkannt und behandelt wurde, leidet die junge Patientin heute unter einer dauerhaften Bewegungseinschränkung des Arms. Sie forderte vom Krankenhaus und dem behandelnden Chirurgen ein Schmerzensgeld sowie den Ersatz aller zukünftigen Schäden, die aus der verspäteten Diagnose resultieren.
Welche rechtlichen Maßstäbe gelten bei einem Diagnoseverdacht?

Um diesen Fall zu bewerten, mussten die Richter mehrere juristische Konzepte aus dem Arzthaftungsrecht prüfen. Dreh- und Angelpunkt ist der sogenannte Behandlungsfehler. Ein solcher liegt vor, wenn ein Arzt vom anerkannten medizinischen Standard abweicht, also nicht die Sorgfalt anwendet, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Situation erwartet werden darf.
Innerhalb der Behandlungsfehler unterscheidet das Gesetz zwischen verschiedenen Arten, die für den Fall entscheidend waren:
Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt die notwendigen medizinischen Untersuchungen unterlässt, um eine Diagnose abzusichern. Hätte der Chirurg zum Beispiel auf ein Röntgenbild verzichtet, obwohl alles auf einen Bruch hindeutete, wäre das ein klassischer Befunderhebungsfehler gewesen.
Ein Diagnosefehler hingegen tritt auf, wenn ein Arzt die korrekt erhobenen Befunde falsch interpretiert. Das bloße Stellen einer falschen Diagnose ist jedoch nicht automatisch ein vorwerfbarer Fehler. Die Gerichte unterscheiden hier zwischen einem entschuldbaren Diagnoseirrtum und einem groben Behandlungsfehler. Ein grober Fehler liegt nur dann vor, wenn die Fehldiagnose aus medizinischer Sicht schlechterdings nicht mehr verständlich ist und einem Arzt schlicht nicht unterlaufen darf.
Eine weitere zentrale Frage war die Haftung des Krankenhauses. Nach § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) haftet ein Schuldner – hier das Krankenhaus aufgrund des Behandlungsvertrags – für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen. Das sind Personen, deren sich der Schuldner zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient. Die entscheidende Frage für das Gericht war also: Zählt ein externer Radiologe, der lediglich Befunde liefert, als Erfüllungsgehilfe des Krankenhauses?
Warum entschied das Gericht so – und nicht anders?
Das Oberlandesgericht Frankfurt wies die Klage des Mädchens ab, genau wie schon die Vorinstanz am Landgericht Frankfurt. Die Richter kamen nach sorgfältiger Prüfung zu dem Schluss, dass weder dem Unfallchirurgen noch dem Krankenhaus ein rechtlich vorwerfbares Fehlverhalten nachzuweisen war. Ihre Argumentation stützte sich auf mehrere Pfeiler, die durch ein medizinisches Sachverständigengutachten untermauert wurden.
Warum war das Vorgehen des Chirurgen nicht vorwerfbar?
Das Gericht stellte klar, dass der Unfallchirurg seine Pflicht zur Befunderhebung vollständig erfüllt hat. Er stand vor der Aufgabe, eine unklare Armverletzung bei einem Kind abzuklären. Seine Reaktion – die Anordnung einer Röntgenaufnahme in zwei Ebenen – entsprach exakt dem medizinischen Standard. Damit hat er alle notwendigen Schritte unternommen, um sich eine Grundlage für seine Diagnose zu verschaffen. Ein Befunderhebungsfehler lag somit nicht vor.
Auch ein vorwerfbarer Diagnosefehler konnte ihm nicht angelastet werden. Der Chirurg erhielt einen schriftlichen Befund von einem Facharzt für Radiologie, der explizit eine knöcherne Verletzung ausschloss. Das Gericht argumentierte, dass sich ein Unfallchirurg in der Notaufnahme grundsätzlich auf den Befund eines hinzugezogenen Spezialisten verlassen darf, solange dieser nicht offensichtlich unplausibel oder widersprüchlich ist. Da der radiologische Befund klar und eindeutig formuliert war, handelte der Chirurg nicht fehlerhaft, als er seine eigene Diagnose darauf stützte.
Haftet das Krankenhaus für einen Fehler des externen Radiologen?
Dies war der juristisch komplexeste Punkt. Die Klägerin argumentierte, selbst wenn den Chirurgen keine Schuld treffe, müsse das Krankenhaus für den Fehler des Radiologen haften. Das Gericht stimmte im Grundsatz zu: Das Krankenhaus schuldete der Patientin eine umfassende Behandlung, wozu auch die korrekte Auswertung von Röntgenbildern gehört. Wenn es diese Aufgabe an einen externen Radiologen auslagert, wird dieser zum Erfüllungsgehilfen im Sinne des § 278 BGB. Das Krankenhaus ist also prinzipiell für dessen Fehler verantwortlich.
Der entscheidende Punkt war jedoch, dass auch dem Radiologen nach Ansicht des Gerichts kein vorwerfbarer Fehler unterlaufen ist. Der Sachverständige erklärte, dass eine isolierte Radiusköpfchen-Luxation eine extrem seltene und auf Röntgenbildern sehr schwer zu erkennende Verletzung ist. Die Fehlstellung sei oft nur minimal und könne leicht mit der Darstellung eines normalen Gelenks bei einem Kind im Wachstumsalter verwechselt werden. Das Übersehen dieses Befunds sei zwar im Nachhinein objektiv eine Fehldeutung, aber eine, die auch einem erfahrenen Radiologen unterlaufen kann. Es handle sich daher um einen entschuldbaren Diagnoseirrtum und nicht um einen groben Fehler, der aus medizinischer Sicht unverständlich wäre.
Diagnoseirrtum oder grober Behandlungsfehler: Wo liegt die Grenze?
Letztlich scheiterte die Klage daran, dass die hohe Hürde für einen haftungsbegründenden Diagnosefehler nicht übersprungen wurde. Die Rechtsprechung schützt Ärzte vor der Haftung für jeden Irrtum, da die Medizin keine exakte Wissenschaft ist und Diagnosen oft auf Indizien beruhen. Eine Haftung kommt erst dann ins Spiel, wenn die Fehlinterpretation der Befunde fundamental und nicht mehr nachvollziehbar ist.
Im vorliegenden Fall bestätigte der Gutachter, dass die Diagnose schwierig war. Da weder die Erhebung der Befunde (Röntgen) noch deren Interpretation (Befundung durch den Radiologen) einen groben Verstoß gegen medizinische Standards darstellte, gab es keine Grundlage für einen Schadensersatzanspruch. Das tragische Ergebnis für die junge Patientin – eine dauerhafte Beeinträchtigung – führte somit nicht zu einer rechtlichen Verantwortlichkeit der behandelnden Ärzte oder des Krankenhauses.
Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
Dieses Urteil verdeutlicht eindrücklich mehrere Kernprinzipien des Arzthaftungsrechts, die für Patienten von großer Bedeutung sind. Es zeigt, dass ein für den Patienten noch so schwerwiegendes medizinisches Ergebnis nicht automatisch bedeutet, dass jemand dafür juristisch haftbar gemacht werden kann.
Die erste zentrale Erkenntnis ist die klare Trennung zwischen dem medizinischen Prozess und dem Behandlungsergebnis. Das Recht bewertet nicht, ob das Ergebnis perfekt war, sondern ob der Weg dorthin den anerkannten fachlichen Standards entsprach. Ein Arzt schuldet keinen Heilungserfolg, sondern eine sorgfältige Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Solange er alle gebotenen diagnostischen Schritte unternimmt und sich auf anerkannte Spezialisten stützt, ist er rechtlich oft auf der sicheren Seite – selbst wenn sich die Diagnose später als falsch herausstellt.
Zweitens macht der Fall die weitreichende Verantwortung eines Krankenhauses deutlich. Wenn Sie einen Behandlungsvertrag mit einer Klinik schließen, haftet diese nicht nur für ihre angestellten Ärzte, sondern auch für externe Dienstleister wie Radiologen oder Laborärzte, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben heranzieht. Für Patienten bedeutet dies, dass ihr primärer Ansprechpartner im Haftungsfall das Krankenhaus ist. Die Klinik kann sich in der Regel nicht damit herausreden, ein externer Partner habe den Fehler gemacht. Die Voraussetzung für eine Haftung ist jedoch immer, dass überhaupt ein vorwerfbarer Fehler vorliegt.
Drittens unterstreicht das Urteil die hohe Hürde, die für den Nachweis eines haftungsrelevanten Diagnosefehlers gilt. Nicht jeder Irrtum führt zu Schmerzensgeld. Die Gerichte erkennen an, dass Diagnosen oft schwierig und uneindeutig sind. Eine Haftung wird erst dann ausgelöst, wenn ein Fehler als „grob“ eingestuft wird – also wenn er einem Arzt schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen. Dies schützt Mediziner vor einer überzogenen Haftung, macht es für geschädigte Patienten aber zugleich schwer, ihre Ansprüche durchzusetzen, insbesondere bei seltenen und schwer zu diagnostizierenden Krankheitsbildern.
Die Urteilslogik
Die Sorgfaltspflicht des Arztes bestimmt sich nach dem eingehaltenen medizinischen Standard, nicht nach dem tatsächlichen Heilungserfolg.
- [Einhaltung des Standards durch Delegation]: Ein behandelnder Arzt erfüllt seine Befunderhebungspflicht vollständig, wenn er alle gebotenen diagnostischen Schritte anordnet und sich auf die schriftlichen Ergebnisse hinzugezogener Spezialisten verlassen darf, sofern diese nicht offensichtlich unplausibel sind.
- [Verantwortung für Externe Spezialisten]: Die Krankenhausträgerin haftet für das Verschulden externer Fachärzte (wie Radiologen), sofern diese zur Erfüllung des Behandlungsvertrages herangezogen werden und damit als ihre Erfüllungsgehilfen agieren.
- [Hohe Hürde für Diagnosefehler]: Eine fehlerhafte Diagnose führt erst dann zu einem Schadensersatzanspruch, wenn die Fehlinterpretation der erhobenen Befunde fundamental und aus medizinischer Sicht schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar ist.
Das Arzthaftungsrecht schützt Mediziner vor der Verantwortung für jeden Irrtum, da die Medizin stets eine sorgfältige Abwägung komplexer Indizien erfordert.
Benötigen Sie Hilfe?
Wurde bei Ihnen oder einem Angehörigen eine relevante Verletzung übersehen? Nutzen Sie die Möglichkeit zur unverbindlichen Ersteinschätzung Ihres Anspruchs.
Experten Kommentar
Viele Menschen gehen davon aus: Wenn eine Fehldiagnose zu einem dauerhaften Schaden führt, muss das Krankenhaus dafür geradestehen. Dieses Urteil zeigt die kalte Realität des Arzthaftungsrechts, denn es macht klar, dass eine objektive Fehldiagnose nicht gleich ein haftungsrelevanter Fehler ist. Die zentrale Erkenntnis für geschädigte Patienten ist: Die Gerichte schützen Ärzte konsequent vor Haftung, wenn der Befund schwer zu erkennen war. Nur ein grober Verstoß gegen den Standard, der einem Arzt schlicht nicht hätte unterlaufen dürfen, löst eine Zahlungspflicht aus – das ist die hohe Hürde, die hier nicht übersprungen wurde.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann gilt das Übersehen meiner Verletzung als grober Behandlungsfehler?
Die juristische Hürde für einen groben Behandlungsfehler ist extrem hoch. Ein Diagnosefehler wird erst dann als grob eingestuft, wenn er aus medizinischer Sicht schlechterdings nicht mehr verständlich ist und einem Arzt dieses Fachgebiets keinesfalls hätte unterlaufen dürfen. Ein reiner Diagnoseirrtum, der auch einem sehr erfahrenen Experten passieren kann, genügt für diese Qualifikation nicht.
Die Unterscheidung ist von entscheidender Bedeutung, denn bei einem groben Fehler tritt die Beweislastumkehr ein. Normalerweise müssen Sie als Patient den Nachweis führen, dass der Fehler kausal zu Ihrem Schaden führte. Liegt jedoch ein grober Fehler vor, muss das Krankenhaus beweisen, dass der Gesundheitsschaden auch ohne das ärztliche Versäumnis eingetreten wäre. Der Fehler muss fundamental gegen elementare medizinische Standards verstoßen, wie das Ignorieren eines offensichtlichen, klaren Befundes auf einem Röntgenbild.
Gerichte messen die Schwere des Fehlers primär an der Unverzeihlichkeit der ärztlichen Handlung, nicht an der Tragik der entstandenen Folgen. Bei extrem seltenen oder auf Bildern nur minimal sichtbaren Verletzungen stufen Gerichte den Fehler oft nur als entschuldbaren Irrtum ein, selbst wenn der Schaden schwerwiegend ist. Sie müssen belegen, dass die ärztliche Handlung ein fundamentaler Verstoß gegen die gebotenen Regeln der ärztlichen Kunst war.
Fordern Sie umgehend eine Kopie des vollständigen ärztlichen und radiologischen Berichts an, um festzustellen, ob dort klare Warnzeichen aufgeführt waren, die der Arzt anschließend ignoriert hat.
Wer haftet für Diagnosefehler des externen Radiologen: das Krankenhaus oder der Arzt?
Wenn ein externer Radiologe einen Befund falsch interpretiert, haftet primär das Krankenhaus und nicht zwingend der behandelnde Arzt. Schließen Sie einen Behandlungsvertrag mit der Klinik, schuldet diese die gesamte Behandlung. Die Klinik kann die Verantwortung für Fehler des externen Spezialisten nicht einfach abwälzen. Der Radiologe gilt juristisch als Erfüllungsgehilfe der Klinik.
Die Haftung des Krankenhauses stützt sich auf § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Das bedeutet: Wenn die Klinik Dritte, wie einen Radiologen, zur Erfüllung ihrer vertraglichen Pflichten einsetzt, muss sie für deren Verschulden einstehen. Der Behandlungsvertrag mit dem Patienten umfasst die korrekte Ausführung aller notwendigen Leistungen, einschließlich der Befundung von Röntgenbildern. Es ist unerheblich, ob der Radiologe intern angestellt oder freiberuflich tätig war.
Der behandelnde Unfallchirurg haftet in der Regel nicht, wenn er die notwendigen Untersuchungen korrekt anordnet und sich auf den klaren, schriftlichen Befund des externen Radiologen verlässt. Er hat damit seine eigene Sorgfaltspflicht erfüllt. Eine Haftung des Krankenhauses tritt jedoch nur ein, wenn dem Radiologen überhaupt ein vorwerfbarer Fehler nachzuweisen ist. Handelt es sich lediglich um einen entschuldbaren Diagnoseirrtum bei schwierig zu deutenden Befunden, greift die Haftungskette nicht.
Richten Sie Ihre Haftungsanzeige deshalb formal immer an die Krankenhausleitung als Ihren primären Vertragspartner.
Habe ich Anspruch auf Schmerzensgeld, wenn die Diagnose verzögert wurde?
Ein Anspruch auf Schmerzensgeld aufgrund einer verzögerten Diagnose besteht nur unter strengen Voraussetzungen. Die Verzögerung muss die direkte Folge eines vorwerfbaren Fehlers des Arztes sein, etwa eines groben Diagnosefehlers oder eines Befunderhebungsfehlers. Entscheidend für die Haftung ist dabei immer die Kausalität: Der ärztliche Fehler muss nachweislich zu einem vermeidbaren und dauerhaften Gesundheitsschaden geführt haben. Eine schwere Folge der Verzögerung allein genügt für einen Anspruch nicht.
Die rechtliche Bewertung trennt klar zwischen dem tragischen Behandlungsergebnis und der Einhaltung medizinischer Standards. Ein Arzt schuldet dem Patienten keinen Heilungserfolg, sondern lediglich eine sorgfältige Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Solange die diagnostischen Schritte fachgerecht erfolgten, liegt keine Haftung vor, auch wenn sich die Diagnose später als falsch herausstellt oder zu spät kommt. Gerichte prüfen primär, ob der Weg zum Ergebnis den anerkannten Standards entsprach.
Sie müssen konkret beweisen, dass der erlittene Schaden bei einer zeitgerechten und standardgemäßen Diagnose ausgeblieben wäre. Wenn beispielsweise ein Befundbild so schwierig zu interpretieren war, dass der Fehler auch einem erfahrenen Spezialisten hätte unterlaufen können, liegt lediglich ein entschuldbarer Irrtum vor. Nur wenn der Fehler fundamental gegen elementare ärztliche Standards verstieß, liegt ein haftungsbegründender, grober Fehler vor, der die Kausalität zu Ihrem Schaden begründet.
Lassen Sie Ihren aktuellen, unabhängigen behandelnden Arzt schriftlich festhalten, inwiefern der verzögerte Behandlungsbeginn die Schwere Ihrer jetzigen Beeinträchtigung objektiv erhöht hat.
Was unterscheidet einen Befunderhebungsfehler von einer reinen Fehldiagnose?
Die Unterscheidung zwischen einem Befunderhebungsfehler und einer reinen Fehldiagnose ist entscheidend für Ihre juristische Argumentation. Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn der behandelnde Arzt notwendige diagnostische Untersuchungen gänzlich unterlässt, um die Verdachtsdiagnose abzusichern. Demgegenüber bezeichnet eine Fehldiagnose (Diagnosefehler) die falsche Interpretation von Befunden, die zuvor korrekt und vollständig erhoben wurden.
Der Fokus bei diesen Fehlerarten liegt auf dem Stadium der Behandlung. Bei der Befunderhebung geht es um das Versäumnis, vorgeschriebene Tests wie Röntgenbilder oder Labortests durchzuführen, die bei einem bestimmten Krankheitsbild zum medizinischen Standard gehören. Ein Nichthandeln wird juristisch oft schneller als Verstoß gegen den ärztlichen Standard gewertet. Dies liegt daran, dass das bewusste Unterlassen wichtiger Schritte weniger entschuldbar ist als ein Irrtum bei der Deutung komplexer medizinischer Daten.
Ein Beispiel macht den Unterschied klar: Hätte ein Chirurg bei Verdacht auf Knochenbruch auf das Anfertigen eines Röntgenbildes verzichtet, läge ein Befunderhebungsfehler vor. Wird das Röntgenbild korrekt angefertigt, aber der Radiologe deutet darauf eine seltene Verletzung falsch, handelt es sich um einen Diagnosefehler. Gerichte stufen das Übersehen seltener Befunde oft als entschuldbaren Irrtum ein, sofern die Basisuntersuchungen vollständig und fachgerecht durchgeführt wurden.
Um Ihre Erfolgsaussichten zu prüfen, listen Sie chronologisch auf, welche Untersuchungen zur Abklärung der gängigen Differentialdiagnosen hätten durchgeführt werden müssen und welche davon der Arzt tatsächlich unterlassen hat.
Wie kann ich einen groben Diagnosefehler juristisch nachweisen?
Ein grober Diagnosefehler wird fast ausschließlich durch ein unabhängiges medizinisches Sachverständigengutachten nachgewiesen. Dieses Gutachten muss die Fehldiagnose objektiv als schlechterdings nicht mehr verständlich einstufen. Nur so lässt sich belegen, dass der Fehler dem behandelnden Arzt unter keinen Umständen hätte unterlaufen dürfen, was die zentrale Anforderung der Rechtsprechung darstellt.
Gerichte benötigen die objektive Expertise eines Sachverständigen, um die medizinische Komplexität eines Falles bewerten zu können. Als Laie können Sie die Verletzung der medizinischen Standards nicht selbst beurteilen oder juristisch verwertbare Argumente liefern. Der Gutachter stellt fest, ob die Fehlinterpretation fundamental war und somit gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstieß. Der juristische Nachweis muss immer auf diesen objektiven Standards basieren und nicht auf Ihren subjektiven Erwartungen an den Behandlungserfolg.
Die gesamte juristische Argumentation im Haftungsprozess steht und fällt mit der Aussage dieses Experten. Wenn der Sachverständige den Fehler lediglich als entschuldbaren Irrtum einstuft, scheitert die Klage, weil die Beweislastumkehr nicht eintritt. Sie sollten sich daher nicht darauf verlassen, dass eigene Recherchen oder die mündliche Meinung eines anderen Arztes ausreichen. Nur ein gerichtlich bestellter oder anerkannter Gutachter kann die hohe juristische Hürde der Grobheit objektiv beurteilen und die nötige Beweiskraft liefern.
Kontaktieren Sie umgehend einen Fachanwalt für Medizinrecht, um Akteneinsicht beim Krankenhaus zu beantragen und ein medizinisches Vorab-Gutachten zu initiieren.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Behandlungsfehler
Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Mediziner von den anerkannten medizinischen Standards abweicht und nicht die Sorgfalt anwendet, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Situation erwartet wird. Das Arzthaftungsrecht will sicherstellen, dass Patienten das Recht auf eine Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst haben und bei fahrlässiger Abweichung entschädigt werden können.
Beispiel: Im vorliegenden Fall musste das Gericht prüfen, ob die Fehldeutung der Röntgenbilder durch den externen Radiologen als schuldhafter Behandlungsfehler einzustufen ist.
Befunderhebungsfehler
Dieser Fehler ist ein Mangel in der Diagnostik, bei dem der Arzt notwendige Tests oder Untersuchungen unterlässt, die zur Absicherung der Verdachtsdiagnose nach medizinischem Standard erforderlich gewesen wären. Das Gesetz verpflichtet Ärzte, alle gebotenen diagnostischen Schritte zu unternehmen, um eine sichere Grundlage für die Behandlung zu schaffen, da das bewusste Unterlassen wichtiger Befunde oft schwerer wiegt als ein Deutungsirrtum.
Beispiel: Hätte der diensthabende Unfallchirurg im Notfall gänzlich auf das Anordnen einer Röntgenaufnahme verzichtet, wäre ihm ein klarer Befunderhebungsfehler angelastet worden.
Beweislastumkehr
Die Beweislastumkehr ist ein juristischer Mechanismus, der eintritt, wenn ein grober Behandlungsfehler nachgewiesen wird, wodurch nun der Haftungspflichtige (Krankenhaus oder Arzt) beweisen muss, dass der Gesundheitsschaden auch ohne das Fehlverhalten eingetreten wäre. Diese Regelung erleichtert es geschädigten Patienten, ihre Ansprüche durchzusetzen, weil sie andernfalls oft nur schwer nachweisen können, dass der konkrete Fehler kausal für ihren Schaden war.
Beispiel: Da das Oberlandesgericht im Fall der jungen Patientin keinen groben Behandlungsfehler sah, trat keine Beweislastumkehr ein, und die Klägerin musste die Kausalität selbst beweisen.
Diagnoseirrtum
Juristen nennen einen Diagnoseirrtum eine bloße Fehldiagnose, die einem Arzt unterlaufen kann, ohne dass ihm dabei ein Verstoß gegen elementare ärztliche Pflichten vorgeworfen werden kann. Die Rechtsprechung anerkennt damit, dass die Medizin keine exakte Wissenschaft ist und schützt Mediziner vor Haftung für Irrtümer, wenn die Interpretation der Befunde fachlich noch vertretbar war.
Beispiel: Das Oberlandesgericht stufte die Übersehung der seltenen Radiusköpfchen-Luxation als entschuldbaren Diagnoseirrtum ein, weil die Verletzung auf den Röntgenbildern extrem schwer zu erkennen war.
Erfüllungsgehilfe
Ein Erfüllungsgehilfe ist eine Person, die ein Schuldner – meist das Krankenhaus im Rahmen des Behandlungsvertrags – zur Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten gegenüber dem Patienten einsetzt. Nach § 278 BGB haftet das Krankenhaus automatisch für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen; es kann die Verantwortung für Fehler des Personals oder externer Spezialisten nicht einfach abwälzen.
Beispiel: Obwohl der hinzugezogene Radiologe extern tätig war, wurde er im Arzthaftungsfall als Erfüllungsgehilfe des beklagten Krankenhauses betrachtet, was prinzipiell eine Haftung der Klinik für dessen Fehler begründet hätte.
Grober Behandlungsfehler
Als Grober Behandlungsfehler gilt eine Abweichung vom medizinischen Standard, die schlechterdings nicht mehr verständlich ist und einem Arzt der jeweiligen Fachrichtung unter keinen Umständen hätte passieren dürfen. Nur wenn die Fehlerhaftigkeit des ärztlichen Handelns evident und fundamental ist, wird die hohe Hürde für eine Haftung übersprungen, da eine solche Grobheit oft auf besonders mangelnde Sorgfalt hindeutet und die Beweislast umkehrt.
Beispiel: Weil die Fehlinterpretation der Röntgenbilder durch den Sachverständigen nicht als fundamental unverständlich eingestuft wurde, konnte die Klägerin keinen groben Behandlungsfehler nachweisen, der zur Haftung des Krankenhauses geführt hätte.
Das vorliegende Urteil
OLG Frankfurt – Az.: 17 U 58/23 – Urteil vom 24.09.2025
* Der vollständige Urteilstext wurde ausgeblendet, um die Lesbarkeit dieses Artikels zu verbessern. Klicken Sie auf den folgenden Link, um den vollständigen Text einzublenden.
