Skip to content
Menu

Arzthaftung bei Geburtsschaden – maßgebender Zeitpunkt für Schmerzensgeldbemessung

LG Frankfurt – Az.: 2/4 O 23/19 – Urteil vom 05.02.2020

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 550.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.12.2003 aus 500.000,00 Euro abzüglich am 16.03.2018 gezahlter 300.000,00 Euro zu zahlen.

Im Übrigen ist die Klage dem Grund nach gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung eines weiteren Schmerzensgelds, Schadensersatz wegen Mehraufwendungen sowie Verdienstausfall und Haushaltsführungsschaden.

Wegen einer fehlerhaften Behandlung bei ihrer Geburt leidet die am 18.02.1993 geborene Klägerin an einer schweren hypoxisch-ischämischen Encephalopathie in Form einer Leukomalazie mit schweren spastischen motorischen Behinderungen mit Lennox-Epilepsie. Sie wird seit mehr als 24 Jahren mittels einer PEG-Sonde versorgt, weil sie nicht in der Lage ist, Nahrung selbstständig zu sich zu nehmen. Sie leidet an vollständiger Harn- und Stuhlinkontinenz sowie täglich an tonisch, dialeptischen und myoklonischen Anfällen in unterschiedlicher Häufigkeit und Dauer. Ferner besteht eine schwere Intelligenzminderung. Die Klägerin ist zu gezielten Bewegungsabläufen nicht in der Lage und kann sich nicht selbst fortbewegen. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Die hochgradig seh- und hörbehinderte Klägerin kann nicht sprechen oder ihre Befindlichkeiten äußern. Sie ist auf dauerhafte Pflege und Betreuung angewiesen, über deren Umfang die Parteien streiten.

Die Haftung der Beklagten für die fehlerhafte Behandlung bei der Geburt der Klägerin war (und ist) zwischen den Parteien dem Grunde nach nicht streitig. Die Parteien streiten über die Höhe der Ansprüche.

Mit Schreiben vom 01.12.2003 ließ die Klägerin die Haftpflichtversicherung der Beklagten auffordern, ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000,00 Euro bis zum 15.12.2003 sowie laufende Mehrbedarfsrente in Höhe von 4.000,00 Euro monatlich für 130 Monate sowie den zurückliegenden Mehrbedarfsschaden für den Zeitraum 2/93 (Geburt) bis Anspruchsanmeldung (12/03) in Höhe von 520.000,00 Euro zu zahlen.

Mit Schreiben vom 16.08.2010 legte die Klägerin einen Mehrbedarf sowie einen Mehrzeitaufwand von insgesamt 41.751,80 Stunden zu je 16,50 Euro/h dar und bezifferte das Schmerzensgeld und den Schadensersatz (759.389,00 Euro) bis zum 8/2010 gegenüber dem damals tätigen Prozessbevollmächtigten der Beklagten. Die Klägerin forderte mit Fristsetzung bis Ende August 2010 die Beklagte auf, den Mehrbedarfsschaden auszugleichen.

Mit Schreiben vom 17.07.2018 bezifferte die Klägerin weiteren Mehrbedarf von 18.352,95 Stunden, mithin bei 16,50 Euro/h von 267.443,17 Euro, sachlichen Mehrbedarf von 34.717,89 Euro, Verdienstausfall von 151.200,00 Euro sowie einen Haushaltsführungsschaden von 91.800,00 Euro, sowie eine Mehrbedarfsrente ab Juni 2018 von 2.771,56 Euro auf 575.583,00 Euro sowie einen Verzugszinsschaden von 401.349,00 Euro wegen weitergehende Schadensersatzansprüche wegen personeller und materieller behinderungsbedingter Mehraufwendungen, Verdienstausfall und Haushaltsführungsschaden.

Die Haftpflichtversicherung der Beklagten, …, leistete am 16.03.2018 eine Vorauszahlung in Höhe von 300.000,00 Euro auf das Schmerzensgeld und eine weitere Vorauszahlung in Höhe von 400.000,00 Euro auf den Schadensersatz im Jahr 2018.

Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte befinde sich infolge der Aufforderung bis Ende August 2010 Schadensersatz und infolge der Aufforderung bis zum 15.12.2003 Schmerzensgeld zu zahlen, in Verzug.

Ein Schmerzensgeld in Höhe von 550.000,00 Euro sei angemessen.

Die Klägerin behauptet, ihr sei infolge der fehlerhaften Behandlung ein Schaden wegen personeller und materieller behinderungsbedingter Mehraufwendungen in Höhe von 1.334.927,00 entstanden.

Eine monatliche Mehrbedarfsrente sei ab August 2018 in Höhe von 2.771,56 Euro angemessen.

Seit August 2018 entstehe ihr monatlich ein Verdienstausfallschaden in Höhe von 1.800,00 Euro netto.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 550.000,00 Euro nebst fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz seit dem 16.12.2003 aus 500.000,00 Euro abzüglich am 16.03.2018 gezahlter 300.000,00 Euro zu zahlen, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin den weiteren, überschießenden Schadensersatz wegen personeller und materieller behinderungsbedingter Mehraufwendungen in Höhe von 1.334.927,00 Euro nebst fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz aus 759.389,00 Euro seit dem 15.09.2010 sowie aus 575.583,00 Euro seit dem 17.08.2018 abzüglich am 18.10.2018 gezahlter 400.000,00 Euro zu zahlen, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin eine monatliche Mehrbedarfsrente ab August 2018 in Höhe von 2.771,56 Euro zu zahlen, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen monatlichen Verdienstausfallschaden seit August 2018 in Höhe von 1.800,00 Euro netto zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Ansicht, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei auf den Zeitpunkt der Geburt der Klägerin abzustellen, nicht auf die heutigen Schmerzensgeldvorstellungen, so dass ein Betrag in Höhe von 300.000,00 Euro angemessen sei.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist dem Grunde und hinsichtlich des Schmerzensgeldes auch der Höhe nach entscheidungsreif und begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld dem Grunde nach wegen einer fehlerhaften ärztlichen Heilbehandlung durch Ärzte der Beklagten bei ihrer Geburt, §§ 611, 280 Abs. 1 BGB. Schadens- und Schmerzensgeldanspruch sind dem Grunde nach zwischen den Parteien nicht streitig ist.

Die Höhe des der Geschädigten nach § 253 BGB zustehenden Schmerzensgeldes ist aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen, wobei das Schmerzensgeld als Ausgleich und Genugtuung für die erlittenen Verletzungen dient. Dabei steht die mit der Verletzung verbundene Lebensbeeinträchtigung im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen an der Spitze. Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden bilden das ausschlaggebende Moment für den angerichteten immateriellen Schaden. Im Übrigen lässt sich ein Rangverhältnis der zu berücksichtigenden Umstände nicht allgemein aufstellen, weil diese Umstände ihr Maß und Gewicht für die vorzunehmende Ausmessung der billigen Entschädigung erst durch ihr Zusammenwirken im Einzelfall erhalten (BGH, Urteil vom 20. Januar 2004 – VI ZR 70/03 –, Rn. 7, juris).

Arzthaftung bei Geburtsschaden - maßgebender Zeitpunkt für Schmerzensgeldbemessung
(Symbolfoto: Von Gorodenkoff/Shutterstock.com)

Infolge der fehlerhaften Behandlung hat die Klägerin schwerste körperliche und psychische Schäden erlitten. Sie ist nicht in der Lage sich gezielt zu bewegen noch sich eigenständig fortzubewegen. Sie kann nicht sprechen, kommunizieren und nicht ihre Befindlichkeiten äußern. Ihre Nahrung kann sie nicht selbstbestimmt zu sich nehmen. Diese erhält sie seit mehr als zwanzig Jahren über eine PEG-Sonde. Sie ist vollständig inkontinent. Ferner leidet sie an täglichen Anfällen mit unterschiedlicher Häufigkeit. Einem Beruf oder einem selbstbestimmten Leben kann sie infolge ihrer körperlichen Behinderung und Intelligenzminderung nicht nachgehen. Auch sonst kann sie kaum am Leben infolge ihrer hochgradigen Sehbehinderung, Hörbehinderung und Intelligenzminderung teilnehmen. Zu einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens ist sie nicht in der Lage und dauerhaft auf Pflege und Betreuung angewiesen.

Die Kammer hält nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalles aufgrund der schwersten Beeinträchtigungen bei der Klägerin, die dazu führen, dass sie auch künftig nicht einmal in Ansätzen ein selbstbestimmtes Leben führen können wird, ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 550.000,00 Euro für angemessen, an dem Zuspruch eines höheren Betrages ist die Kammer durch den exakten Klageantrag indes gehindert.

Maßgebender Zeitpunkt für die Höhe des Schmerzensgeldes sind die bei Schluss der mündlichen Verhandlung feststehenden Umstände einschließlich feststellbarer Dauerfolgen und vorhersehbarer Spätfolgen (Pardey in Geigel Haftpflichtprozess, 28. Auflage 2020, Kapitel 6. Schmerzensgeld (Nichtvermögensschaden) Rn. 36), nicht, wie die Beklagte meint, bereits der Zeitpunkt der Geburt der Klägerin.

Da die Beklagte bereits 300.000,00 Euro Schmerzensgeld an die Klägerin gezahlt hat, war dieser Betrag vom Schmerzensgeld abzuziehen.

Die Entscheidung zu den Zinsen folgt aus den §§ 280 Abs. 1 und Abs. 2 und 286 Abs. 1 BGB. Die Beklagte befindet sich infolge der Zahlungsaufforderung der Klägerin vom 01.12.2003 bis zum 15.12.2003 ein Schmerzensgeld zu zahlen, seit dem 16.12.2003 in Zahlungsverzug.

Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 Satz 2 ZPO.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Medizinrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Medizinrecht und Arzthaftungsrecht.  Gerne beraten und vertreten wir Sie in medizinrechtlichen Angelegenheiten.

Rechtsanwälte Kotz Medizinrecht - Kreuztal

Urteile und Rechtstipps aus dem Medizinrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!