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Aufklärung über Operationsrisiken mit Prozentangaben

LG Hamburg – Az.: 303 O 34/14 – Urteil vom 01.04.2016

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der am … 1943 geborene Kläger erhebt gegen die beklagte Krankenhausträgerin nach einer radikalen Prostatektomie Behandlungs- und Aufklärungsfehlervorwürfe wegen einer postoperativen Harninkontinenz. Er stützt darauf im Wesentlichen Schmerzensgeldansprüche aber auch materielle Ersatzansprüche.

Der Kläger leidet seit 2006 an einer Depression. Nachdem seine Frau an Brustkrebs erkrankte, wurde auch bei dem Kläger – nach Stanzbiopsien in den Jahren 2004 bis 2009 – im Januar 2009 Prostatakrebs (PSA von 12 und Gleason Score 3+4=7) festgestellt. Er stellte sich im Anschluss daran selbständig in der M.-Klinik am U. der Beklagten vor. Am 2.3.2009 führte er dort ein Gespräch mit Prof. H. H., über das eine Kurzdokumentation vorliegt. Überdies war er bei seinem niedergelassenen Urologen Dr. K. in Behandlung.

Der Kläger wurde am 7.4.2009 bei der Beklagten stationär aufgenommen. Er verfügte dabei über einen Aufklärungsbogen, für dessen vollständigen Inhalt auf Anlage K 4 Bezug genommen wird. Ein solcher Aufklärungsbogen, mit Kugelschreiber bearbeitet und bezeichnet und zweimal unterschrieben, liegt auch den Original-Krankenunterlagen der Beklagten bei. Der Kläger führte weiter ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt Prof. H..

Von diesem wurde er am 8.4.2009 operiert. Die Operation erwies sich infolge periprostatischer Entzündungen, Gefäßreichtum und Verwachsungen als schwierig. Es kam zu einem Blutverlust von 1400 ml. Für die Einzelheiten wird auf den OP-Bericht Bezug genommen, Anlage K 11.

Der Kläger wurde am 17.4.2009 aus dem Krankenhaus entlassen und stellte sich am 15.6.2009 und am 17.8.2009 wegen einer andauernden Harninkontinenz tagsüber bei vier bis fünf mittelstarken Vorlagen nochmals bei der Beklagten vor.

Aufklärung über Operationsrisiken mit Prozentangaben
(Symbolfoto: smolaw/Shutterstock.com)

Am 30.11.2011 wurde bei dem Kläger im Universitätsklinikum E., Urologie, wegen anhaltender Beschwerden und unveränderter Harninkontinenz eine Urethroystoskopie durchgeführt, woraus sich der Verdacht auf eine Sphincterinsuffizienz dorsal ergab.

Am 4.2.2013 ließ sich der Kläger in der Urologie des U. einen künstlichen Schließmuskel um die Harnröhre implantieren. Wegen andauernder Inkontinenz wurden dem Kläger weitere Operationen angeraten, die er zunächst nicht vornehmen lassen wollte. Im Januar 2014 erfolgte dann ein weiterer Eingriff.

Gegenüber der Aufklärungsrüge des Klägers hat sich die Beklagte auf eine hypothetische Einwilligung berufen.

Der Kläger ist der Auffassung, die Aufklärung sei zu bemängeln. Denn er sei nicht über das schwerste Risiko der Operation, nämlich die operationsbedingte Inkontinenz, aufgeklärt worden. Ihm seien vielmehr geschönte Zahlen vorgelegt worden. Der Aufklärungsbogen sei suggestiv aufgebaut und vermittele den Eindruck einer Routineoperation mit minimalen Risiken. Die Dauerschäden unter 10) bis 13) würden am Ende und damit untergeordnet erscheinen, während sie wegen der Warnfunktion hätten zuerst genannt werden müssen. Ein Hinweis fehle, dass die Prozentangaben solche der Klinik seien, so dass kein repräsentatives Bild hinsichtlich der Risikoverteilung vermittelt worden sei, denn tatsächlich sei eine Inkontinenz sehr viel häufiger (zwischen 0,5% bis 87%, im Langzeitverlauf etwa 10%). Die Beschreibung, dass es zu einer „Störung des Schließmuskels der Harnröhre“ komme, untertreibe und beschreibe auch nur einen vorübergehenden Zustand, so dass die Darstellung der verschiedenen operativen Methoden zur Verbesserung der Kontinenz vollständige Heilung suggerierten. Eine Aufklärung über das erhöhte Risiko wegen vorangegangener Stanzbiopsien sei gar nicht erfolgt.

Er nimmt wegen der verharmlosenden Risikodarstellung auf die Entscheidung des OLG Nürnberg vom 30.4.2015 (Az. 5 U 2282/13) Bezug.

Zum Einwand der hypothetischen Einwilligung behauptet der Kläger, er hätte sich bei richtiger Aufklärung mindestens in einer weiteren Klinik vorgestellt und weitere, umfassende Statistiken mit qualifizierten Ärzten erörtert, sei mithin in einen Entscheidungskonflikt geraten. Er sei nämlich aufgrund der Aufklärung davon ausgegangen, dass es sich um eine Operation mit nur minimalem Risiko im Ein- bis Zweiprozentbereich handeln würde, er in jedem Fall aber durch weitere Operationen vollständig genesen werde. Zudem ließen sich viele Männer am Prostatakrebs gar nicht operieren.

Der Kläger erhebt Behandlungsfehlervorwürfe hinsichtlich der Durchführung der Operation. Es sei nämlich versäumt worden, zusätzliche Nähte, sog. „Rocco-Nähte“, durch den dorsalen Sphincterapparat vorzulegen. Aus dem Operationsbericht ergebe sich mit der Blutung ein ungewöhnlicher Zwischenfall.

Er behauptet weiter, er sei am 15.6. und am 17.8.2009 nicht behandelt worden; vielmehr habe sich das Gespräch allein um die Potenz des Klägers gedreht, und man habe nur mitgeteilt, dass man wegen der Inkontinenz noch bis Weihnachten warten müsse und dann gegebenenfalls ein Band eingezogen werden müsse. Durch Einleiten von Therapiemaßnahmen aber wären ihm seine Depression und die Lebensgefühlsminderung durch die Inkontinenz erspart geblieben.

Der Kläger behauptet, ihm seien Kosten durch Zuzahlungen und erhöhten Bedarf an Unter- und Oberbekleidung in Höhe von € 2.260,- entstanden (Anlage K 10). Seine Leiden rechtfertigten ein Schmerzensgeld in Höhe von € 50.000,-, während die Beklagte auch vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltskosten auszugleichen habe.

Erstmals mit Schriftsatz vom 19.2.2016 behauptet der Kläger sodann, das Gespräch am 2.3.2016 sei ohne jeden medizinischen Inhalt gewesen, er habe Fragen nicht stellen können und Prof. H. als unnahbar empfunden. Er bestreitet ebenso erstmalig das Aufklärungsgespräch am 7.4.2009 mit der Zeugin L.. Er behauptet dazu weiter, er hätte sich nicht operieren lassen, sondern zugewartet, wenn er Kenntnis von den Risiken Impotenz und Inkontinenz gehabt hätte. Ihm sei die Operation verkauft worden, obwohl er wegen der Krebserkrankung seiner Frau gar keine Zeit gehabt habe, sich mit eigenen vermeidbaren körperlichen Beschwerden auseinanderzusetzen.

Er hält erstmals die Operation auch deshalb für behandlungsfehlerhaft, weil tatsächlich hätte abgewartet werden müssen, Anlagen K 20 – 24, weil der in dem Operationsbericht benannte Assistent namens R. möglicherweise noch nicht die nötige Erfahrung gehabt habe, man angesichts der Blutung bei stark eingeschränkter Sicht weiteroperiert habe, und nicht ersichtlich sei, wann der Bericht erstellt worden sei, und bemängelt nach Anhörung des Sachverständigen nunmehr auch verschiedene Passagen des schriftlichen Gutachtens.

Mit Schriftsatz vom 26.2.2016 hat der Kläger seine ursprüngliche Schmerzensgeldvorstellung von € 25.000,- auf € 50.000,- erweitert und erstmals – pauschal – eine fortdauernde Inkontinenz trotz der Operation aus Januar 2014 behauptet.

Der Kläger beantragt zuletzt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 2.260,- nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens € 50.000,- nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche zukünftigen materiellen sowie immateriellen Schäden zu ersetzen, sofern diese aus einer heute nicht absehbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes folgen und auf der streitgegenständlichen Behandlung vom 8.4.2009 beruhen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und / oder andere Dritte übergegangen sind;

4. ihm die Kosten seiner außergerichtlichen Interessenvertretung in Höhe von € 1.564,26 (1,5 Gebühr auf einen Wert von € 30.000,- nebst Kommunikationspauschale und Mehrwertsteuer) zu ersetzen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte nimmt Behandlungsfehler in Abrede.

Sie behauptet, am 2.3.2009 habe es ein umfassendes Gespräch mit Prof. H. und am 7.4.2009 ein Aufklärungsgespräch mit der Ärztin Dr. C. L. gegeben, die beide das Risiko einer auftretenden Harninkontinenz konkret erläutert hätten ebenso wie zusätzliche Risiken durch vorangegangene Biopsien. Prof. H. habe auch ausführlich zu möglichen Behandlungsalternativen und zur Relevanz der weiteren Lebenserwartung und der wahrscheinlichen Begrenzung des Tumors auf die Prostata Stellung genommen.

Die angegebenen Prozentzahlen seien solche der Klinik der Beklagten und inhaltlich zutreffend.

Die Beklagte behauptet weiter auch eine umfassende Risiko- und Alternativenaufklärung durch den niedergelassenen Urologen Dr. K..

Der Kläger sei mit seinen Beschwerden nicht allein gelassen worden, sondern es habe im Anschluss an das Schreiben vom 16.7.2009 ein persönliches Gespräch stattgefunden, in dem Physiotherapie vorgeschlagen worden sei. Der Kläger habe sich danach aber nicht mehr gemeldet. Zudem sei für die konkrete Nachsorge der niedergelassene Urologe / Hausarzt zuständig.

Die Beklagte behauptet, der Eingriff im Januar 2014 sei erfolgreich gewesen, die Inkontinenz des Klägers behoben worden.

Die Parteien führten vorgerichtlich ein Schlichtungsverfahren bei der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern durch. Der Schlichtungssachverständige Prof. Dr. M. W. stellte in seinem Gutachten vom 12. Juni 2012, für dessen Inhalt auf Anlage K 9 Bezug genommen wird, Behandlungs- oder Aufklärungsfehler nicht fest.

Das Gericht hat das Gutachten mit Beweisbeschluss vom 12.2.2015 urkundsbeweislich verwertet und Prof. M. W. zum Sachverständigen bestellt. Es hat den Sachverständigen mündlich zur Erläuterung seines Gutachtens angehört und zum Inhalt der Aufklärungsgespräche am 7.4.2009 und 2.3.2009 den Kläger persönlich nach § 141 ZPO angehört und die Zeugen H., L. und G. H. vernommen. Für das Ergebnis der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die Sitzungsprotokolle vom 15.1.2016 und vom 26.2.2016.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Dem Kläger stehen vertragliche oder deliktische Ersatzansprüche nicht zu, weil die am 8.4.2009 durchgeführte radikale Prostatektomie lege artis durchgeführt worden ist und auch die vor dem Eingriff erfolgte Aufklärung betreffend Behandlungsalternativen und Eingriffsrisiken nicht zu bemängeln ist. Die Kammer folgt hierzu insgesamt dem sorgfältigen, sehr differenzierten und in jeder Hinsicht überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. M. W., das er in seiner Anhörung noch einmal ebenso anschaulich wie kritisch erläutert hat, und den durchgängig glaubhaften Angaben der Zeugen H. und L..

Im Einzelnen:

I.

Der Sachverständige hat zur Überzeugung der Kammer Behandlungsfehler nicht feststellen können. Die Operation war ohne Frage indiziert, da bei dem Kläger unstreitig ein – lokal begrenztes – Prostatakarzinom vorgelegen hat, das der Sachverständige als behandlungspflichtig bezeichnet hat (GA Seite 7, 11). Intraoperativ hat sich der Eingriff als schwierig erwiesen, ohne dass dies dem Operateur anzulasten wäre. Vielmehr hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass diese Schwierigkeit den Gewebsveränderungen, auch – aber nicht nur – aufgrund vorangegangener Biopsien, und der daraus folgenden schwierigen Präparation geschuldet war (GA Seite 10), die auch für den hohen intraoperativen Blutverlust verantwortlich war (GA Seite 10, Anhörung Seite 4 und 5). Die mit dem hohen Blutverlust zusammenhängenden Vermutungen der Klägerseite etwa einer fehlerhaften Durchtrennung des Sphincters infolge fehlenden Absaugens, fehlender Koagulation, oder eines Hineinoperierens in Biopsienarben hat der Sachverständige in der Anhörung unter Verweis auf die anatomischen Verhältnisse anschaulich widerlegt. Auf die Ausführungen auf Seite 4 und 5 des Sitzungsprotokolls wird verwiesen.

Auch sonst ergeben sich Anhaltspunkte für eine Abweichung vom Standard nicht (Anhörung Seite 3). Die von dem Kläger beanspruchte Rocco-Naht hat mit der bei ihm vorliegenden Frage der Funktionsfähigkeit des Sphincters nichts zu tun, sondern betrifft allein eine bisher nicht durch Studien nachgewiesene – mögliche – Verbesserung der Kontinenz in den ersten Monaten nach dem Eingriff, nicht aber die dauerhafte Kontinenz (Anhörung Seite 3).

Behandlungsfehler sind auch im postoperativen Zeitraum nicht festzustellen, da ganz unabhängig vom Gesprächsverlauf am 15.6. und am 17.8.2009 und auch unabhängig von der Zuständigkeit des niedergelassenen Urologen für die weitere Therapie eine solche zu den genannten Zeitpunkten noch nicht angezeigt war. Der Sachverständige, dem die Kammer folgt, hat dazu generell und auch für den hiesigen Patienten auf Seite 6 des Anhörungsprotokolls, auf das Bezug genommen wird, die einzelnen, nach sechs Monaten und einem Jahr notwendigen therapeutischen Schritte erläutert und darauf hingewiesen, dass vor den genannten Zeiträumen von bis zu einem Jahr noch mit einer Besserung der Inkontinenz zu rechnen ist, so dass operative Eingriffe zunächst nicht angezeigt sind.

Soweit der Kläger schließlich erst mit Schriftsatz vom 19.2.2016, also nach der am 15.1.2016 erfolgten Anhörung und nach der mit Beschluss vom 19.12.2014 erfolgten Fristsetzung nach § 411 Abs. 4 ZPO erstmals weitere „Behandlungsfehlervorwürfe“ erhebt, gehen diese bereits aus Rechtsgründen ins Leere. Denn der darin enthaltene Vorwurf der fehlenden Indikation trägt nicht, da die von dem Kläger behaupteten Behandlungsalternativen in rechtlicher Hinsicht nicht die unzweifelhaft bestehende, relative Indikation betreffen, sondern allein unter Aufklärungsgesichtspunkten relevant sein können. Der erneut bemühte große intraoperative Blutverlust war bereits mit allen denkbaren Facetten Gegenstand des Gutachtens und der Sachverständigenanhörung. Er spielte – neben anderen Faktoren – sicherlich auch eine Rolle bei der Qualität der funktionellen Resultate (GA Seite 10). Eine Standardabweichung geht damit aber erkennbar nicht einher, weil nach den unmissverständlichen sachverständigen Ausführungen zum Absehen von einer Koagulation nur im neurovaskulären Bündel und zum standardmäßigen intraoperativen Absaugen von einem Weiteroperieren bei eingeschränkter Sicht keine Rede sein kann. Soweit sich daran weitere pauschale Vorwürfe betreffend die Dokumentation anschließen, bleibt vage, welche kausalen Folgen der Kläger daraus im Hinblick auf die bei ihm aufgetretene Inkontinenz ableitet. Die Kammer sieht solche nicht. Sie hat auch keinen Anlass, der ersichtlich ins Blaue hinein aufgestellten und im Widerspruch zum Operationsbericht stehenden Behauptung nachzugehen, der „Assistent“ hätte vielleicht einfach selbst operiert, obwohl er es nicht konnte.

II.

Die Kammer ist nach Beweisaufnahme auch davon überzeugt, dass der Kläger vor der Operation ordnungsgemäß über Art und Ausmaß des Eingriffsrisikos „Inkontinenz“ und über mögliche Behandlungsalternativen zu der durchgeführten radikalen Prostatektomie aufgeklärt worden ist. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den glaubhaften Angaben der Zeugen H. und L., denen der Kläger und seine ebenso vernommene Ehefrau wenig Ergiebiges entgegenzusetzen hatten, und in rechtlicher Hinsicht aus den differenzierten und kritischen Erwägungen des Sachverständigen W. zu Art und Umfang der erfolgten Risikoaufklärung, der das Gericht folgt.

1. Die Kammer geht im Tatsächlichen davon aus, dass die in dem Bogen enthaltenen Angaben zum Thema „Harninkontinenz“ auf Seite 19 des Aufklärungsbogens Gegenstand des stattgehabten Aufklärungsgesprächs mit der Zeugin L. waren. Das hat die Zeugin ausweislich Seite 14 des Sitzungsprotokolls vom 26.2.2016 so angegeben, und die Kammer folgt ihr gänzlich, auch wenn die Zeugin keine konkrete Erinnerung an das Aufklärungsgespräch und an den Kläger mehr hatte. Denn sowohl die Eintragungen, die ausführliche Zeichnung und die im Originalbogen enthaltene Unterschrift des Klägers ebenso wie der Zeugin (mit Uhrzeit) führen zur Überzeugung der Kammer davon, dass ein solches Gespräch stattgefunden hat, und dass die Zeugin auch in diesem konkreten Fall nicht von ihrer überzeugend und nachvollziehbar beschriebenen ständigen Übung abgewichen ist, die im Bogen genannten Risiken ausführlich anzusprechen und abzuhaken bzw. einzukreisen. Der Stellenwert, den die Zeugin der Aufklärung über das hier verwirklichte Risiko Inkontinenz beimisst, zeigt sich anschaulich an ihrer Übung, dieses – und das Risiko der erektilen Dysfunktion – nicht nur abzuhaken, sondern, wie hier, einzukreisen. Zudem enthält die sich erst in der mündlichen Verhandlung herausgestellte Tatsache, dass die Zeugin „über Kopf“ aufklärt, also den Bogen nicht für sich sondern für den Patienten lesbar bearbeitet, ein Realitätskriterium, das nicht nur die etwas kindliche Schrift bei „Gleason“ u.a. gut erläutert, sondern eine Fälschung des Bogens durch die Zeugin oder andere nahezu ausgeschlossen erscheinen lässt. Soweit demgegenüber der Kläger auf den ihm ausgehändigten Bogen mit allein seiner Unterschrift abstellt und ein Gespräch in Abrede nimmt, lässt sich ersteres zwanglos damit erläutern, dass er offenbar bei Aufnahme am 7.4.2009 eine Kopie erhalten hat, bevor das Gespräch geführt war aber nachdem er unterzeichnet hatte, und letzteres damit, dass es nach der Lebenserfahrung nur allzu gut möglich ist, dass der Kläger als Patient in seiner Situation nach vielen Jahres des Leidens nicht jede Einzelheit exakt zu erinnern vermag, die im Nachhinein von Belang sein könnte.

2. Die in dem Bogen zur Harninkontinenz enthaltenen und dem Kläger mitgeteilten Angaben halten aus Sicht der Kammer nach sachverständiger Beratung auch einer rechtlichen Überprüfung stand. Denn die zur Harninkontinenz enthaltenen ausführlichen Angaben entsprechen den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Risikoaufklärung, also der Vermittlung einer Vorstellung über Chancen und Risiken des Eingriffs im Großen und Ganzen, und zwar gerade auch im Hinblick auf Belastungen, die die weitere Lebensführung des Patienten betreffen. Denn die Angaben zur Häufigkeit einer postoperativen Harninkontinenz in der M.-Klinik der Beklagten und deren Behandlungsmöglichkeiten bewegen sich im Rahmen dessen, was sich durch Studien belegen lässt und sind zwar positiv, aber nicht verharmlosend, so dass die Kammer nicht im Einzelnen aufzuklären hatte, ob die pauschale Angabe von „deutlich unter 2%“ hinsichtlich einer fortbestehenden starken Harninkontinenz und von 95% kontinenten Patienten nach einem Jahr in der M.-Klinik der Beklagten in jeder Hinsicht und jedem Zeitraum den Tatsachen entspricht.

Die Kammer schließt sich im Ausgangspunkt den durchaus kritischen Erwägungen des Sachverständigen an, der bereits in seinem schriftlichen Gutachten darauf hingewiesen hat, dass die Studienlage eine breite Schwankungsbreite aufweist, die auch für international renommierte Kliniken und Institute mit großen Fallzahlen teilweise weitaus ungünstigere Ergebnisse nachweist. Andererseits hat der Sachverständige auf Serien von Patienten hingewiesen, die von einem Operateur behandelt wurden und als exzeptionell betrachtet werden müssen, weil sie nur einen Abschnitt der operativen Karriere des Operateurs abbilden. Ebenso führen Faktoren wie verschiedene tumor- und patientenassoziierte präoperative Ausgangsbedingungen, intraoperative Gegebenheiten und auch operateursbezogene Faktoren dazu, dass Studien nicht immer vergleichbar sind. Danach fällt eine Einordnung auch der in der hiesigen Aufklärung genannten Zahlen schwer (GA Seite 12 und 13).

Infolgedessen stellt die Kammer für die Beurteilung einer ordnungsgemäßen Aufklärung im Rechtssinne nicht allein – und vor allem dann nicht – auf Prozentangaben ab, wenn sie wie hier ohne Bezugspunkte (Patientengut, Operateur, Tumorart, Erhebungszeitraum) angegeben sind und erkennbar als Durchschnittswert einer Risikobewertung dienen sollen, die mathematisch exakt gar nicht abzuschätzen ist; schon gar nicht für den betroffenen Patienten. Die Kammer stellt daher ebenso wenig allein auf semantische Erwägungen ab (so aber OLG Nürnberg, Urteil vom 30.4.2015, Az. 5 U 2282/13). Für die Frage der Ordnungsgemäßheit der Aufklärung ist vielmehr von Relevanz, ob sie ein adäquates Hilfsmittel für eine Entscheidungsfindung des Patienten bilden kann, die frei von Willensmängeln ist und dem Empfängerhorizont des Patienten Rechnung trägt. Nach den auch hierzu differenzierten Erwägungen des Sachverständigen, denen sich die Kammer anschließt, ist dies hier aber – noch – der Fall (GA Seite 13 unten; Anhörung Seite 9). Denn maßgeblich ist auch aus Sicht der Kammer, dass sich die Zahlen durchaus in die Studienlage einordnen lassen, wenngleich an oberster Stelle, und der Sachverständige als renommierter aber durchaus kritischer Experte die Zahlen auch auf beharrliche Nachfrage der Kammer für möglich, ja plausibel gehalten hat (Anhörung Seite 8) und den Operateur als bekannten Spezialisten und die Klinik als eine solche mit hoher Operationsfrequenz hat gelten lassen (GA Seite 11).

Diese Feststellungen ermöglichen dem Patienten – vermittelt durch die Prozentangaben – eine realistische Risikoeinschätzung im Großen und Ganzen, auch unter Zuhilfenahme des übrigen Textes des Aufklärungsbogens, in dem die Risiken beanstandungsfrei in der Reihenfolge des operativen Vorgehens aufgelistet werden (Anhörung Seite 8) und worin am Ende des Abschnitts die „operativen Methoden zur Verbesserung der Kontinenz“ geschildert sind. Daraus ergibt sich nämlich gerade nicht, und auch nicht etwa unausgesprochen, dass die genannten Methoden immer und in jedem Fall erfolgreich sein müssen. Dies gilt für die Inkontinenz genauso wie für jedes andere Risiko, etwa das Infektionsrisiko (Seite 16 des Aufklärungsbogens) oder die erektile Dysfunktion (Seite 19 des Aufklärungsbogens): Auch mit Hilfsmitteln gelingt nicht bei jedem Patienten wieder eine Erektion und es gibt auch Infektionen, die sich trotz Antibiotika als hartnäckig erweisen. Unabhängig davon, dass das Gericht mangels hinreichend substantiierten und mit Krankenunterlagen belegten klägerischen Vortrags zur Operation aus dem Januar 2014 (trotz Verfügung vom 29.4.2014 und Ziffer 4. des Beschlusses vom 19.12.2014) prozessual ohnehin von dem von der Beklagten behaupteten Operationserfolg auszugehen hätte, würde eine Erstreckung der Aufklärungspflicht auf diese Komplikationenkomplikationen ohnehin zu einer unangemessenen Überfrachtung führen. Daher hat die Kammer über die von dem Sachverständigen zutreffend festgestellte positive Darstellung hinaus in der Nennung der „operativen Möglichkeiten zur Verbesserung der Kontinenz“ auf Seite 19 des Aufklärungsbogens eine Verharmlosung nicht zu erkennen vermocht. Vielmehr hat der Sachverständige den Bogen gleichzeitig als besonders ausführlich bewertet (GA Seite 8 oben: „Als Besonderheit im Vergleich zu den ansonsten verbreiteten kommerziellen Vordrucken werden sämtliche Komplikationen sehr ausführlich erläutert“), so dass auch kein Grund besteht, die geplante Prostatektomie im Grunde als unproblematische Prozedur anzusehen. Allenfalls mag dies eine Gefahr sein, die sich einstellen kann, wenn der Patient die ihm zur Verfügung gestellten Informationen („Die radikale Entfernung der Prostata gehört zu den großen urologischen Operationen. Da die radikale Prostatektomie in unserer Klinik sehr häufig durchgeführt wird, verläuft die Operation in der Mehrzahl der Fälle komplikationslos …“, so etwa Seite 16 des Aufklärungsbogens) nur kursorisch zur Kenntnis nimmt.

Die Kammer hat bei ihrer Bewertung der Aufklärung als ordnungsgemäß auch berücksichtigt, dass der Sachverständige sich selbst trotz gleich guter funktioneller Ergebnisse dem Patienten gegenüber mehr Zurückhaltung auferlegt. Auch die Kammer sieht generell die Problematik einer werbenden oder anpreisenden Vorgehensweise, wenngleich sie im Ergebnis die Frage einer positiven oder eher zurückhaltenden Darstellung noch als solche des persönlichen Stils einordnet, die der behandelnde Arzt höchstpersönlich zu entscheiden hat und die in ganz unterschiedlicher Weise die Anforderungen an eine wirksame Aufklärung im Großen und Ganzen – wie hier – erfüllen kann. Die Kammer hat hierzu, auch wenn es darauf wegen der ordnungsgemäßen Aufklärung gar nicht ankam, auch die Angaben des Klägers mitberücksichtigt, die er sowohl in seiner persönlichen Anhörung auf Seite 5 des Protokolls vom 26.2.2016 als auch schriftsätzlich und in Anlagen zum Entscheidungskonflikt gemacht hat. Denn daraus ist trotz der im Laufe des Prozesses sichtlich verschobenen Schwerpunkte seiner Argumentation für die Kammer deutlich geworden, dass es für den Kläger maßgeblich war, sich gerade wegen des Risikos der Inkontinenz bei einem anerkannten Spezialisten operieren zu lassen. Dass er einen solchen eigenständig durch Kontakte aus dem Bekanntenkreis und die allgemeinen Medien recherchiert hat, ist nicht zu beanstanden. Diese Möglichkeit der Informationsbeschaffung, sei sie Folge einer besonderen Bewerbung oder Medienpräsenz der M.-Klinik oder auch nicht, ist Teil der Auswahlautonomie des Patienten, auch wenn sie – im Einzelfall oder vielleicht nur im Nachhinein – dazu führen kann, dass Operationsrisiken als weniger dringlich empfunden werden, als wenn der behandelnde niedergelassene Arzt im vertrauensvollen Gespräch erläuternd in die Auswahl einbezogen worden wäre.

3. Schließlich war nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen auch die von dem Kläger ins Feld geführte Aufklärungsbedürftigkeit des erhöhten Operationsrisikos durch vorangegangene Biopsien für die Frage der Inkontinenz nicht relevant, da die Biopsien nicht im Bereich des Sphincters erfolgt sind und daher in keinem Zusammenhang mit der Inkontinenz stehen (Anhörung Seite 5).

4. Die Kammer ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger auch über mögliche Alternativen zur stattgehabten radikalen Prostatektomie aufgeklärt worden ist. Dies ergibt sich aus den glaubhaften Angaben des Zeugen H., denen die Kammer in Gänze folgt, wenngleich er sich an das konkrete Gespräch nicht erinnern konnte. Dass die von ihm geschilderte Übung generell neben funktionellen und onkologischen Aspekten auch die möglichen Behandlungsansätze Nichtstun, Bestrahlung und operativer Eingriff mit ihren Vor- und Nachteilen erfasst (Seite 9 des Protokolls vom 26.2.2016), veranschaulicht aber die von ihm gefertigte, der Kammer vorliegende Originaldokumentation, die dazu u.a. den Eintrag „sehr langes Gespräch über PCo, Therapieopt. Therapienotwendigkeit“ enthält, die der Zeuge in seiner Befragung weiter erläutert hat. Die von dem Kläger auch nicht in Abrede genommene Empfehlung eines operativen Vorgehens fügt sich hier ebenso logisch ein, wie die von dem Zeugen geschilderte Erörterung der Lebenserwartung des Patienten, die für ein operatives Vorgehen sprach, aber auch für die Erörterung der von dem Kläger nunmehr favorisierten Strategie des Abwartens spricht. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 19.2.2016 die abwartende Strategie nicht nur als „sinnvolle Alternative“ bezeichnet hat, sondern erstmals – wohl – der Auffassung ist, die aktive Überwachung sei der radikalen Prostatektomie vorzugswürdig, ergibt sich aus den dazu überreichten Anlagen K 20 bis K 24 nichts, da der Kläger übersieht, dass sein PSA nicht weniger als 10, sondern mindestens 12 betragen hat und die Begrenztheit des Tumors die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Heilung gerade erhöht. Ohnehin aber hat bereits der Sachverständige auf die erheblichen Risiken und den möglichen letalen Ausgang aufgrund der Krebserkrankung des Patienten hingewiesen, so dass es die bei dem Kläger anklingende Überlegenheit der abwartenden Strategie so nicht gibt. Demgegenüber kann die Kammer gut nachvollziehen, dass der Kläger und die Zeugin H. sich aufgrund ihrer speziellen Situation nur an eine einzige Begebenheit (im Zusammenhang mit anzufertigenden Notizen) aus dem Gespräch erinnern, das für den Patienten und seine Angehörigen in der Regel eine große Belastung ist. Da sie aber gleichzeitig andere Inhalte nicht anzugeben vermochten und jedenfalls ein fünfzehn- oder zwanzigminütiges Gespräch doch eingeräumt haben, hat die Kammer an den Angaben des Zeugen Prof. Dr. H. überhaupt keinen Zweifel.

Fehlt es nach allem an Ersatzansprüche begründenden Behandlungsfehlern und Aufklärungsversäumnissen, konnte die Kammer auch dem Feststellungantrag und dem Erstattungsantrag betreffend vorgerichtliche Anwaltskosten nicht entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

 

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