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Aufklärungsmangel im Zusammenhang mit einer periradikulären Therapie (PRT)

LG Hamburg – Az.: 323 O 199/16 – Urteil vom 26.03.2020

Die Beklagten werden verurteilt, an die Klägerin zu 1.) als Gesamtschuldner 94.035,58 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.08.2015 sowie weitere 1.032,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.07.2016 zu zahlen.

Ferner wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin zu 1.) sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die ihr im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung des Herrn … , auf Grund dessen Querschnittlähmung entstanden sind und noch entstehen werden.

Im Übrigen wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin zu 2.) sämtliche Schäden zu ersetzen, die ihr im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung des … auf Grund dessen Querschnittlähmung entstanden sind und noch entstehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits als Gesamtschuldner zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerinnen machen aus übergegangenem Recht eines bei ihnen Versicherten Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit einer periradikulären Therapie (PRT) geltend.

Der im Jahre … geborene …, der bei der Klägerin zu 1.) gesetzlich kranken- und bei der Klägerin zu 2.) gesetzlich pflegeversichert ist, litt unter Rückenschmerzen, die seitens seines Orthopäden, …, mehrere Monate lang erfolglos konservativ behandelt wurden. Am 02.07.2013 überwies Herr Dr. … schließlich unter der Diagnose „Lumbaler Discusprolaps L5-S1 medio-lateral re. mit Kompression von S1 re. recessal“ mit folgendem Auftrag an die Beklagte: „Erbitte 1 x PRT der Wurzel S1 re. mit TRIAMCINOLON (!!!)“ (vgl. dazu den Überweisungsschein aus der Behandlungsdokumentation der Beklagten). Herr … stellte sich daraufhin am 03.07.2013 in der radiologischen Praxis der Beklagten zu 1.) vor, deren Gesellschafter die Beklagten zu 2.) bis 5.) sind, und unterzeichnete dort nach einem Aufklärungsgespräch mit der Beklagten zu 2.) eine zweiseitige „Einverständniserklärung zur periradikulären Therapie (PRT)“, in der u.a. auf folgendes hingewiesen wird:

„… Als Komplikation ist bei einigen Patienten eine längerfristige Lähmung eingetreten, die sich jedoch wieder zurückgebildet hat…“

Noch am selben Tag wurde in der Praxis der Beklagten die PRT vorgenommen.

Im Folgenden traten bei Herrn … Kopfschmerzen und Lähmungserscheinungen auf. Es wurde die Diagnose eines epiduralen Abszesses im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie einer Meningitis, hervorgerufen durch Staphylococcus aureus, gestellt. Trotz Behandlung verblieb eine inkomplette Querschnittlähmung.

Die Klägerinnen rügen unter Hinweis auf das MDK-Gutachten vom 08.01.2015 (Anlage K 1) Aufklärungs- und Behandlungsfehler und tragen vor:

Die Formulierung des Hinweises auf längerfristige Lähmungen im Aufklärungsbogen suggeriere dem Patienten, dass sich diese Beeinträchtigungen stets wieder zurückgebildet hätten, was indessen nicht der Wahrheit entspreche. Es sei seit Jahrzehnten bekannt, dass bei einer PRT paraspinale Abszesse mit aufsteigender Infektion, insbesondere einer Meningitis, und infolge dessen eine dauerhafte Querschnittlähmung auftreten könnten. Eine solche Komplikation trete zwar selten auf, sei aber angesichts der schwerwiegenden Folgen, welche die Lebensführung stark beeinträchtigten, aufklärungspflichtig.

Hinzu komme, dass die PRT nicht notwendig gewesen sei, weil es als Alternative noch die Möglichkeit einer physiotherapeutischen Behandlung gegeben habe.

Darüber hinaus habe man in der Praxis der Beklagten gegen die Hygienestandards verstoßen, so dass sich die Infektion habe ausbilden können. Insbesondere seien die Hygienemaßnahmen nicht dokumentiert worden.

Die Klägerin zu 1.) beziffert ihre bisherigen Kosten für die durch die in Rede stehende Komplikation notwendigen Heilbehandlungsmaßnahmen auf insgesamt 94.098,28 EUR (vgl. dazu S. 8 der Klage vom 25.05.2016, BI. 8 ff. d.A., und S. 9 des Schriftsatzes vom 29.12.2016, BI. 70 ff. d.A.) und verlangt im Übrigen – ebenso wie die Klägerin zu 2.) – die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für die weiteren Schäden.

Die Klägerinnen beantragen,

1.) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) 94.098,28 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 07.08.2015 zu zahlen,

2.) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner darüber hinaus verpflichtet sind, der Klägerin zu 1.) sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 1.) aus der Verletzung des Herrn …, auf Grund des Eingriffs vom 03.07.2013 entstanden sind und noch entstehen werden,

3.) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) vorgerichtliche Anwaltskosten ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.032,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Klagezustellung zu zahlen,

4.) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet ist, der Klägerin zu 2.) sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 2.) aus der Verletzung des Herrn … auf Grund des Eingriffs vom 03.07.2013 entstanden sind und noch entstehen werden.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie meinen, der Beklagte zu 4.) sei mangels Beteiligung an der fraglichen Behandlung nicht einstandspflichtig, und tragen im Übrigen vor:

Der Vorwurf einer fehlenden Indikation für die PRT müsse erfolglos bleiben. Zum einen seien ja zuvor bereits konservative Behandlungsmaßnahmen durchgeführt worden. Zum anderen sei Herr … mit einem klaren Auftrag seines Orthopäden an sie überwiesen worden. Daher habe sie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der horizontalen Arbeitsteilung darauf vertrauen dürfen, dass der überweisende Arzt den Patienten ordnungsgemäß untersucht und die Indikation für die erbetene Therapie korrekt gestellt habe. Anhaltspunkte dafür, dass das vorliegend anders gewesen sei, habe es nicht gegeben.

Die Aufklärung des Patienten sei korrekt erfolgt, da auf die Gefahr von Lähmungserscheinungen in der Einverständniserklärung ausdrücklich hingewiesen worden sei und die dort genannten Risiken darüber hinaus im Rahmen eines persönlichen Gesprächs erläutert worden seien.

In jedem Falle sei von einer hypothetischen Einwilligung auszugehen. Angesichts des Umstandes, dass bereits seit längerem therapieresistente Beschwerden vorhanden gewesen seien und der überweisende Orthopäde nunmehr eine PRT empfohlen habe, sei es nicht plausibel, dass sich Herr … – eine unzureichende Risikoaufklärung einmal unterstellt – im Falle einer Erläuterung des nur sehr selten auftretenden Risikos einer Querschnittlähmung gegen den Eingriff entschieden hätte.

Schließlich sei auch der Verweis auf einen angeblichen Verstoß gegen die Hygienekautelen unbegründet. In ihrer Praxis existiere ein Hygieneplan mit standardisierten Maßnahmen (Anlage B 1), die vorliegend eingehalten worden seien. Dem stehe der Umstand, dass dies nicht dokumentiert worden sei, nicht entgegen, denn die üblichen Hygienemaßnahmen seien eine medizinische Selbstverständlichkeit, die keiner ärztlichen Dokumentation bedürfe.

Unabhängig von all dem müsse der Kausalzusammenhang zwischen der PRT vom 03.07.2013 und dem am 08.07.2013 diagnostizierten epiduralen Abszess bestritten werden. Es sei unmöglich, dass sich innerhalb von nur vier Tagen ein offenbar tennisballgroßer Abszess gebildet habe. Die Teilungsrate des einen Mikrometer großen Keimes Staphylococcus aureus betrage bei einer Temperatur von 37 0 C nämlich 27 Stunden. Die Ursache für den Abszess müsse daher früher gesetzt worden sein, möglicherweise durch eine Injektionsbehandlung.

Im Übrigen bestreitet die Beklagte vorsorglich auch die Höhe des bislang bezifferten Schadenersatzanspruchs der Klägerin zu 1.).

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Die Kammer hat die Beklagte zu 2.) zum Vorgespräch vor der PRT vom 03.07.2013 angehört und dazu zudem den Zeugen … vernommen, der darüber hinaus zur Frage einer hypothetischen Einwilligung befragt worden ist. Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll vom 04.01.2018 (BI. 147 ff. d.A.) Bezug genommen. Im Übrigen ist gemäß Beschlüssen vom 22.03.2018 (BI. 194 ff. d.A.) und 21.05.2019 (BI. 288 f. d.A.) Beweis erhoben worden. Insoweit wird auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. … vom 28.01.2019 (BI. 247 ff. d.A.) sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 18.11.2019 (BI. 300 ff. d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

Aufklärungsmangel im Zusammenhang mit einer periradikulären Therapie (PRT)
(Symbolfoto: Von Oksana Kuzmina/Shutterstock.com)

Die zulässige Klage ist bis auf einen ganz geringen Teil des bezifferten Zahlungsbetrages begründet.

I.

Die Beklagten sind den Klägerinnen nach den §§ 280 I, 630 e I, 823 I, 249 II 1 BGB i.V.m. § 116 SGB X zum Schadenersatz verpflichtet, wobei sich der Anspruch auf Erstattung der im Rahmen der Kranken- und Pflegeversicherung angefallenen und noch anfallenden Kosten im Zusammenhang mit der Versorgung der Querschnittlähmung des Herrn … richtet. Dabei haften alle Beklagten als Gesamtschuldner (§ 8401 BGB), und zwar auch der Beklagte zu 4.), da dieser Gesellschafter der Beklagten zu 1.) gewesen ist (vgl. dazu die Ausführungen auf 5.4 des Schriftsatzes vom 29.12.2016, BI. 65 d.A., sowie den Befundbericht vom 03.07.2013 aus den Behandlungsunterlagen der Beklagten).

1.) Die in der Praxis der Beklagten am 03.07.2013 bei Herrn … vorgenommene periradikuläre Therapie war rechtswidrig, weil sie nicht von einer wirksamen Einwilligung des Patienten gedeckt gewesen ist. Diesem sind vorliegend nicht alle mit einer PRT verbundenen relevanten Risiken aufgezeigt worden.

Für eine Risikoaufklärung, die den Anforderungen des § 630 e I BGB gerecht wird, muss der Patient vor einer PRT auf die Möglichkeit einer durch die fragliche Behandlung zu verursachenden dauerhaften Lähmung hingewiesen werden. Zwar handelt es sich hierbei um eine Komplikation, die nur in sehr seltenen Fällen auftritt. Es ist aber anerkannt, dass über diejenigen Risiken, die sich nur in sehr seltenen Fällen realisieren und sich für den Laien als überraschend darstellen, aufzuklären ist, wenn deren Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders schwer belasten kann (vgl. dazu BGH, NJW 2011, 375; BGH, NJW 2010, 3230; BGH, VersR2009, 257, 258; BGH, NJW 2000, 1784, 1785). Das ist im Falle einer anhaltenden Querschnittlähmung zweifelsohne der Fall.

Dem ist vorliegend jedoch nicht bzw. jedenfalls nicht erwiesenermaßen Rechnung getragen worden, was zu Lasten der Beklagten geht. Der Hinweis in der von Herrn … unterzeichneten Einwilligungserklärung vom 03.07.2013, dass es durch eine PRT zu einer längerfristigen Lähmung kommen kann, ist zwar richtig; er ist aber durch den weiteren Zusatz, dass sich diese bei einigen Patienten aufgetretene Komplikation wieder zurückgebildet hat, irreführend gewesen. Dies suggeriert nämlich, dass das Risiko einer Lähmung nicht als Dauerschaden anzusehen ist. Das entspricht jedoch nicht der Wahrheit, denn es war bereits zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Behandlung bekannt, dass es durch eine periradikuläre Therapie zu einer anhaltenden Querschnittlähmung kommen kann. Das wird nicht zuletzt durch den vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 06.07.2010 (Az.: VI ZR 198/09) entschiedenen Fall deutlich, der in der mündlichen Verhandlung vom 04.01.2018 erörtert worden ist.

Soweit die Beklagten behaupten, die im Einwilligungsbogen genannten Risiken seien am 07.03.2013 in einem persönlichen Gespräch zwischen der Beklagten zu 2.) und Herrn … näher erläutert worden, ist die Kammer jedenfalls nicht von einer Richtigstellung bezüglich des unzulänglich beschriebenen Risikos einer Lähmung überzeugt. Die Beklagte zu 2.) hat bei ihrer Anhörung zunächst erklärt, keine konkrete Erinnerung mehr an das Gespräch mit dem Patienten … zu haben; und hinsichtlich des üblichen Vorgehens bei einer Risikoaufklärung hat sie darauf verwiesen, dass sie sich – entsprechend einer ausdrücklichen Anordnung des Beklagten zu 3.) – an dem in Rede stehenden Aufklärungsbogen orientiert habe. Zwar hat die Beklagte zu 2.) des Weiteren bekundet, auch wenn der Beklagte zu 3.) es nicht für notwendig erachtet habe, über bleibende Schäden aufzuklären, habe sie die Patienten dennoch auf solche hingewiesen. Die Kammer hat aber nicht unerhebliche Zweifel daran, dass dies der Wahrheit entspricht bzw. generell – und somit auch im vorliegenden Fall – so von der Beklagten zu 2.) gehandhabt worden ist. Zum einen hat der Zeuge … das glaubhaft in Abrede genommen, wobei anzumerken ist, dass dessen Angaben sehr detailliert und präzise, aber gleichzeitig auch sehr differenziert gewesen sind und keineswegs eine einseitige Belastungstendenz haben erkennen lassen. Zum anderen waren die Angaben der Beklagten zu 2.) im entscheidenden Punkt teilweise widersprüchlich bzw. jedenfalls sehr vage. So hat sie zunächst erklärt, nach der Befragung des Patienten, ob er den Aufklärungsbogen gelesen und verstanden habe, habe sich bei einer bestätigenden Antwort die Problematik ergeben, ob sie dann noch weitermachen, d.h. das Ganze noch mal mündlich erläutern solle. Sie habe „versucht“, gezielt auf die Risiken der PRT einzugehen, wobei sie sich „bemüht“ habe, die Komplikation einer Lähmung zu erwähnen; „in der Regel“ sei das Wort Lähmung gefallen (S. 4 des Sitzungsprotokolls vom 04.01.2018 (BI. 148 d.A.). Die Frage, ob dementsprechend nicht in jedem Aufklärungsgespräch die Komplikation einer Lähmung erwähnt worden sei, hat die Beklagte zu 2.) dann dahin beantwortet, dass ihr eine Antwort schwer falle; sie habe „immer versucht zu vermeiden, dass das Wort Lähmung nicht fällt“ (S. 4 des Sitzungsprotokolls vom 04.01.2018 (BI. 148 d.A.). Bei dieser Aussage erscheint die spätere Erklärung der Beklagten zu 2.), sie habe sich über die ausdrückliche Anweisung des Beklagten zu 3.), sich bei der Aufklärung der Patienten an den Inhalt des in der Praxis verwendeten Aufklärungsbogens zu halten, hinweggesetzt und die Patienten auf eventuell bleibende Schäden hingewiesen (S. 5 des Sitzungsprotokolls vom 04.01.2018 (BI. 149 d.A.), zumindest insoweit wenig glaubhaft, als es um die Frage geht, ob das standardmäßig in jedem Fall so von ihr gehandhabt worden ist.

Der Einwand einer hypothetischen Einwilligung bleibt ohne Erfolg. Der Zeuge … hat nämlich erklärt, wäre ihm gesagt worden, dass die im Aufklärungsbogen genannten Lähmungserscheinungen unter Umständen auch dauerhaft anhalten könnten, wäre er wieder gegangen und hätte die PRT nicht durchführen lassen. Dies erachtet die Kammer als glaubhaft. Der Zeuge hat nachvollziehbar darauf verwiesen, dass die ihm von seinem Orthopäden beschriebene Vorgehensweise bei der Behandlung, also das Setzen einer Spritze direkt an die Wirbelsäule, eine latente Angst in ihm hervorgerufen habe und er sich dieser Prozedur nur deshalb unterzogen habe, weil er wieder habe arbeiten wollen und zwei Ärzte, nämlich sein Orthopäde und die Beklagte zu 2.), ihm dazu geraten hätten. Indessen habe er damals keine sehr starken Beschwerden gehabt. Er habe Anfang oder Mitte Mai 2013 einen Hexenschuss bekommen, der nach einer entkrampfenden Spritze erfolgreich behandelt worden sei, bevor er ca. zwei Wochen später einen schweren Bandscheibenvorfall erlitten habe, durch welchen er wegen der starken Schmerzen arbeitsunfähig geworden sei. Die ihm verordnete Physiotherapie habe zwar geholfen, aber dennoch habe er auch nach sechs Wochen noch nicht wieder arbeiten können, weil er infolge von Schmerzen bzw. eigentlich eher eines Gefühls des Unwohlseins nicht länger als zwei Stunden habe sitzen können. Auf seinen Arbeitslohn sei er allerdings nicht zwingend angewiesen gewesen; das gezahlte Krankengeld habe zur Finanzierung seines Lebensunterhalts ausgereicht. Seine Arbeitstätigkeit habe ihm aber Spaß gemacht; er habe einfach gern gearbeitet.

2.) Die rechtswidrige PRT hat bei Herrn … zu einer anhaltenden inkompletten Querschnittlähmung geführt.

Zwar lässt sich dieser Kausalverlauf nicht im Sinne des § 286 I ZPO nachweisen, aber da der Primärschaden vorliegend in der gesundheitlichen Beeinträchtigung durch die periradikuläre Therapie liegt und die infolge des epiduralen Abszesses entstandene Querschnittlähmung des Herrn S. als Sekundärschaden anzusehen ist, reicht für den in Frage stehenden Kausalzusammenhang eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 287 I ZPO aus. Nach Maßgabe dessen ist der Beweis einer Verursachung der Querschnittlähmung durch die PRT vom 03.07.2013 geführt worden. Insoweit stützt sich die Kammer auf die sehr gut nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen.

Herr Prof. Dr. … sieht es als überwiegend wahrscheinlich an, dass der epidurale Abszess, der auf dem MRT vom 08.07.2013 mit einem punctum maximum im Bereich des Wirbelsäulensegmentes S1 nachgewiesen und sich schon auf dem CT vom 07.07.2013 im Bereich L5 / S1 abgezeichnet hat, auf die PRT vom 03.07.2013 zurückzuführen ist. Dabei hat er ausgeführt, dass grundsätzlich zwar auch die am 06.05.2013 vom Orthopäden Dr. … vorgenommene lokale Infiltration im Bereich L5 rechts sowie eine idiopathische, d.h. eine nicht erkennbare Ursache als Auslöser des epiduralen Abszesses in Erwägung zu ziehen sind. Beide Alternativszenarien hat der Sachverständige aber als unwahrscheinlich bewertet. Dem schließt sich die Kammer an.

Zu berücksichtigen ist zunächst, dass etwa die Hälfte der epiduralen Abszesse aus einer Absiedelung von Keimen aus der Blutbahn resultiert und sich etwa 1/3 der epiduralen Abszesse durch eine Ausbreitung einer zunächst außerhalb des Rückenmarkkanals gelegenen Infektion, z.B. infolge einer Infiltrationstherapie oder auch einer Injektion, entwickeln, während sich die Infektionsquelle in den restlichen Fällen epiduraler Abszesse nicht ausmachen lässt. Festzuhalten ist dabei, dass nicht nur eine epidurale Punktion, bei der die Punktionsnadel an die Rückenmarkhaut geführt wird, zu einem Eintritt von Bakterien in den Raum zwischen der Dura, also der harten Rückenmarkhaut, und den Hüllgeweben des Rückenmarkkanals mit einer nachfolgenden Entzündungsreaktion in diesem Bereich führen kann, sondern auch eine paravertebrale Punktion, wie sie hier bei der PRT vom 03.07.2013 vorgenommen worden ist, einen solchen Verlauf nach sich ziehen kann. Zwar wird die Punktionsnadel in letzterem Falle nur an die Wirbelsäule herangeführt, aber dies erfolgt immerhin genau dort, wo die Nervenwurzel den Wirbelkanal verlässt. Daher breitet sich das Injektat im Falle einer paravertebralen Punktion im Ergebnis genauso im Wirbelkanal aus wie im Falle einer epiduralen Punktion. Das Potential der Keimverschleppung und deren Einwanderung in den Raum zwischen der harten Rückenmarkhaut und dem Hüllgewebe des Rückenmarkkanals unterscheidet sich in beiden Fällen nicht nennenswert voneinander.

Was den klinischen Verlauf eines epiduralen Abszesses angeht, differenziert man zwischen vier Stadien, die von Rückenschmerzen bis zur kompletten Muskellähmung reichen. Dabei ist die Dauer der einzelnen Stadien individuell höchst unterschiedlich. Sie kann zwischen Stunden und Tagen schwanken, so dass die Zeitverläufe zwischen dem Auftreten der ersten Symptome in Form von Rückenschmerzen und der nachfolgenden Krankenhauseinweisung stark variieren; in der Literatur finden sich dazu Angaben zwischen einem Tag und zwei Monaten. Maßgeblich sind insoweit nicht zuletzt die Virulenz der Keime und die Reaktion des Körpers des Patienten.

Unter Berücksichtigung all dessen ist die Verursachung des bei Herrn … am 07.07.2013 diagnostizierten epiduralen Abszesses durch die PRT vom 03.07.2013 die wahrscheinlichste aller denkbarer Szenarien. Zwar ist bei dem Patienten im Zuge der Infiltrationsbehandlung des Orthopäden Dr. … bereits am 06.05.2013 eine paravertebrale Punktion im Bereich L5 erfolgt. Der Vergleich der in der Literatur beschriebenen Fälle ergibt aber, dass ein Zusammenhang zwischen dieser Injektion und dem epiduralen Abszess als unwahrscheinlich anzusehen ist. Insbesondere die deutliche zeitliche Latenz zwischen der betreffenden Injektion und der bei Herrn … aufgetretenen Symptomatik spricht dagegen. Immerhin beläuft sich der Zeitraum zwischen der Infiltration vom 06.05.2013 und den am 08.07.2013 aufgetretenen Lähmungserscheinungen sowie neurologischen Störungen auf etwas mehr als zwei Monate. Demgegenüber liegt der Zeitraum zwischen der PRT vom 03.07.2013 und dem letzten klinischen Stadium des epiduralen Abszesses mit fünf bis sechs Tagen sehr viel mehr im Spektrum der in der Literatur verzeichneten Vergleichsfälle.

Die Größe des bei Herrn … diagnostizierten Abszesses spricht entgegen der Einschätzung der Beklagten nicht gegen einen kausalen Zusammenhang mit der PRT vom 03.07.2013. Richtig ist zwar, dass der Abszess durchaus nicht klein gewesen ist. Ausweislich des MRT-Befundes hat seine Struktur aus einem Anteil im Rückenmarkkanal und einem mehr diffusen Anteil in den bindegewebigen Septen der Rückenmuskulatur bestanden, wobei der Abszess im Rückenmarkkanal eine Sichelform gehabt hat und eine Länge von ca. 6 cm und Breiten von ca. 1,8 sowie 1,5 cm gehabt hat. Indessen gibt es keine wissenschaftlichen Daten zur Geschwindigkeit und Volumenzunahme eines Abszesses, und die eigene Erfahrung des Sachverständigen ist, dass sich ein Abszess in Abhängigkeit von der Virulenz der Keime und der Reaktion des Körpers des Patienten durchaus schnell ausbilden kann. Hinzu kommt, dass ein Abszess nicht nur aus Bakterien, sondern zum größten Teil aus abgestorbenen körpereigenen Entzündungszellen (Granulozyten), untergegangenem Gewebe und Entzündungsflüssigkeit besteht. Insofern ist die Argumentation der Beklagten, die Verdoppelungsrate der Bakterien schließe einen Zusammenhang mit der PRT vom 03.07.2013 aus, nicht stichhaltig.

Ferner spricht auch der Umstand, dass sich schon wenige Tage nach der PRT, nämlich am 06.07.2013, eine Meningitis ausgebildet hat, keineswegs gegen die Verursachung des epiduralen Abszesses durch die Behandlung vom 03.07.2013. Sobald nämlich Keime die harte Rückenmarkhaut überwunden haben, bildet sich durch eine Ausbreitung der Infektion im Nervenwasser eine Meningitis aus. Das Nervenwasser zirkuliert dynamisch, so dass es nur wenige Stunden dauert, bis eine Entzündung im Bereich des Epiduralraums auf das Gehirn übergreift.

Schließlich ist anzumerken, dass gegen eine ganz andere Ursache des epiduralen Abszesses gleich mehrere Umstände sprechen. Zum einen hat man mit den beiden paravertebralen Injektionen Wirkmechanismen, die das Risiko einer Keimverschleppung in den Epiduralraum zwangsläufig mit sich bringen. Zum anderen zeigt das MRT vom 08.07.2013, dass das Maximum der durch den Entzündungsprozess verursachten Veränderungen auf der rechten Seite am Ort der Injektion vom 03.07.2013 gelegen hat. Im Übrigen hat Herr … unter keiner Erkrankung gelitten, welche die Ausbildung eines epiduralen Abszesses prädestiniert. Als solche gelten z.B. Diabetes mellitus, Alkoholismus, Immunstörungen, Infektionen im Hautbereich, Harnwegsinfekte, Osteomyelitis und Sepsis.

3.) Der bislang von der Klägerin zu 1.) konkret geltend gemachte Schaden ist in Höhe eines Betrages von 94.035,58 EUR ersatzfähig.

Die im Schriftsatz vom 25.01.2018 (BI. 157 ff. d.A.) im Einzelnen aufgeführten Schadenspositionen sind mit Ausnahme der Positionen Nr. 29, 43, und 48, zu denen der angekündigte weitere Vortrag ausgeblieben ist, hinreichend dargelegt worden. Die Kammer ist die zu den jeweiligen Schadenspositionen eingereichten Belege im Einzelnen durchgegangen und hat diese nachvollziehen können. Anzumerken ist lediglich, dass zu der Position Nr. 37 ein Beleg fehlt, was aber nicht von Belang ist, da die Beklagten keine substantiierten Einwendungen gegen die schlüssige Erläuterung im genannten Schriftsatz erhoben haben. Das gleiche gilt im Ergebnis auch für die Positionen Nr. 51 – 53, zu denen zwar konkreter Vortrag fehlt, die aber durch die dazu eingereichten Belege nachzuvollziehen sind.

Bringt man die Summe der unschlüssigen Schadenspositionen Nr. 29 (30,10 EUR), Nr. 43 (23,00 EUR) und Nr. 48 (9,60 EUR) von dem rechnerisch korrekten Betrag des Klagantrags zu 1.) in Höhe von 94.098,28 EUR in Abzug, ergibt sich ein Zahlungsbetrag von 94.035,58 EUR.

4.) Hinsichtlich der noch nicht bezifferbaren bzw. nicht bezifferten weiteren Schäden der Klägerinnen besteht ein Anspruch auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten.

5.) Hinsichtlich der Nebenforderungen gilt folgendes:

Der Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten der Klägerin zu 1.) ist in der geltend gemachten Höhe ersatzfähig.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus dem Gesichtspunkt des Verzuges (vgl. dazu die Anlagen K 2 und K 4) und stützt sich auf die §§ 286 I, 288 I BGB.

II.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits beruht auf den §§ 92 II Nr. 1, 100 IV ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf 709 S. 1 und 2 ZPO.

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