Kein Behandlungsfehler bei HWS-Syndrom ohne MRT-Untersuchung
Eine unzureichende Untersuchung der Halswirbelsäule kann für Patienten schwerwiegende Folgen haben. Behandlungsfehler, wie das Unterlassen von bildgebenden Verfahren wie MRT oder CT, können bei Verdacht auf Verletzungen oder Durchblutungsstörungen schwerwiegende gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Ärzte sind daher verpflichtet, bei entsprechenden Symptomen alle notwendigen diagnostischen Schritte einzuleiten, um eine korrekte Behandlung zu gewährleisten. Der vorliegende Fall zeigt, wie wichtig es ist, dass Ärzte rechtliche Vorgaben und medizinische Leitlinien einhalten, um die beste Versorgung für Patienten sicherzustellen.
Übersicht
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Das Gericht bestätigte, dass keine Behandlungsfehler vorlagen und wies die Berufung des Klägers zurück.
- Die Ärzte waren nicht verpflichtet, bereits am 28.06.2015 eine MRT- oder CT-Untersuchung durchzuführen.
- Die Symptome des Klägers rechtfertigten zunächst die Diagnose eines HWS-Syndroms ohne Verdacht auf Schlaganfall.
- Die Umstellung von Heparingabe auf ASS nach erfolgter Aufklärung war leitliniengerecht.
- Der Kläger konnte keine Behandlungsfehler, die zu seinen Gesundheitsschäden geführt hätten, nachweisen.
- Die vom Kläger eingereichten Privatgutachten wurden vom Gericht als nicht überzeugend bewertet.
- Das Gericht sah keine Notwendigkeit für ein Obergutachten.
- Der Kläger muss die Kosten der Berufungsinstanz tragen.
➜ Der Fall im Detail
Behandlungsfehler bei Nichtvornahme einer MRT- oder CT-Untersuchung bei HWS-Syndrom
Der am 00.00.1978 geborene Kläger stellte sich am 25.06.2015 mit Nacken- und Kieferschmerzen bei einer Heilpraktikerin vor. Dort trat kurzzeitig Schwindel auf. Am 26.06.2015 suchte der Kläger seinen Hausarzt auf, der Ibuprofen verschrieb.
Am Abend des 28.06.2015 begab sich der Kläger in die orthopädische Notfallambulanz des Hauses der Beklagten zu 1. Dort wurde ein HWS-Syndrom diagnostiziert. Eine Röntgenaufnahme zeigte mäßige Steilstellung und beginnende degenerative Veränderungen der HWS.
In der Nacht zum 30.06.2015 trat beim Kläger erneut Schwindel mit Übelkeit auf, woraufhin er in ein Krankenhaus verbracht wurde. Dort wurde eine Dissektion der Arteria vertebralis links und ein PICA-Infarkt festgestellt. Der Kläger verblieb mehrere Wochen in stationärer Behandlung.
Die Entscheidung des Gerichts
Das Gericht hat entschieden, dass die Beklagten zu 1 und 2 keinen Behandlungsfehler begangen haben, als sie am 28.06.2015 eine weitergehende bildgebende Diagnostik wie MRT oder CT unterlassen haben.
Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen J. haben überzeugend dargelegt, dass die Symptomatik des Klägers zum damaligen Zeitpunkt typisch für ein unspezifisches HWS-Syndrom war und keine Anhaltspunkte für eine Dissektion der hirnversorgenden Gefäße bestanden. Eine weitergehende Diagnostik wäre laut Leitlinie zu diesem Zeitpunkt nicht indiziert gewesen.
Auch die Behandlung durch die Beklagten zu 3 und 4 im Krankenhaus wurde vom Gericht als fehlerfrei bewertet. Der Sachverständige K. hat ausführlich erläutert, dass die Umstellung von der Heparintherapie auf eine Thrombozytenaggregationshemmung (ASS) sachgerecht und leitlinienkonform erfolgt sei.
Schlüsselaussagen
- Eine weitergehende bildgebende Diagnostik wie MRT oder CT war am 28.06.2015 nicht indiziert, da die Symptomatik typisch für ein HWS-Syndrom war.
- Die Umstellung von Heparin auf ASS im Krankenhaus war sachgerecht und entsprach den medizinischen Leitlinien.
- Es wurden keine Behandlungsfehler der Ärzte festgestellt.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Was sind typische Indikatoren für einen Behandlungsfehler?
Typische Indikatoren, die auf einen möglichen Behandlungsfehler bei einem HWS-Syndrom hinweisen können, sind:
Wenn trotz anhaltender oder sich verschlimmernder Beschwerden keine weiterführende Diagnostik wie eine MRT- oder CT-Untersuchung veranlasst wurde, um mögliche schwerwiegende Ursachen auszuschließen. Gerade bei Symptomen wie Lähmungen, starken Schmerzen oder Gefühlsstörungen sollte zeitnah eine Bildgebung erfolgen.
Wenn Warnzeichen wie hohes Fieber, starke Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen oder Lähmungen vorliegen, die auf eine lebensbedrohliche Erkrankung hindeuten könnten, aber nicht unmittelbar weitere Untersuchungen eingeleitet wurden. In solchen Fällen muss schnell gehandelt werden, um schwere Folgeschäden zu vermeiden.
Wenn die Beschwerden nach der Behandlung nicht wie erwartet zurückgehen oder sich sogar verschlimmern und der behandelnde Arzt nicht adäquat darauf reagiert, z.B. durch Anpassung der Therapie oder Überweisung zu einem Spezialisten. Eine ausbleibende Besserung kann ein Hinweis auf eine falsche Diagnose oder Therapie sein.
Wenn bei der Untersuchung und Behandlung von den medizinischen Standards und Leitlinien abgewichen wurde, z.B. wenn eine notwendige körperliche Untersuchung oder die Erhebung der Krankengeschichte unterblieben ist. Auch die Nichtbeachtung von Kontraindikationen bei der Verordnung von Medikamenten kann einen Behandlungsfehler darstellen.
Grundsätzlich gilt: Je schwerwiegender und spezifischer die Symptome sind und je weniger der Arzt darauf mit angemessener Diagnostik und Therapie reagiert, desto eher kann ein Behandlungsfehler vorliegen. Betroffene sollten das Gespräch mit dem Arzt suchen und bei begründeten Zweifeln eine Zweitmeinung einholen oder sich an ihre Krankenkasse wenden. Eine frühzeitige und sorgfältige Dokumentation des Behandlungsverlaufs ist dabei sehr wichtig, um eventuelle Ansprüche später belegen zu können.
Welche rechtlichen Schritte kann man bei Verdacht auf Behandlungsfehler einleiten?
Wenn der Verdacht auf einen Behandlungsfehler besteht, gibt es verschiedene rechtliche Schritte, die Betroffene einleiten können, um ihre Ansprüche geltend zu machen:
Als erstes sollte man das Gespräch mit dem behandelnden Arzt oder der Klinik suchen und eine Stellungnahme zu dem vermuteten Fehler einfordern. Oft lassen sich dadurch bereits Unklarheiten ausräumen. Wichtig ist es, den Sachverhalt genau zu dokumentieren, z.B. in einem Gedächtnisprotokoll.
Der nächste Schritt ist es, sich fachkundige Unterstützung zu holen, am besten durch einen spezialisierten Fachanwalt für Medizinrecht. Dieser kann die Krankenunterlagen anfordern und prüfen, ob tatsächlich ein Behandlungsfehler vorliegt, der einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld begründet.
Gesetzlich Krankenversicherte können sich auch an ihre Krankenkasse wenden. Diese ist verpflichtet, bei Verdacht auf Behandlungsfehler zu beraten und zu unterstützen, z.B. durch Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes (MD). Das Gutachten dient als Grundlage für die weitere Geltendmachung von Ansprüchen.
Eine weitere Möglichkeit ist die Einschaltung der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Diese Gremien prüfen neutral und kostenfrei, ob ein Behandlungsfehler vorliegt. Ihr Votum ist zwar nicht bindend, erleichtert aber oft eine außergerichtliche Einigung.
Führen diese Schritte nicht zum Erfolg, bleibt nur der Klageweg vor den Zivilgerichten. In einem Arzthaftungsprozess muss der Patient nachweisen, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat, der zu einem Gesundheitsschaden geführt hat. Dafür sind meist medizinische Sachverständigengutachten nötig. Angesichts des Kostenrisikos sollte man einen solchen Schritt nicht ohne anwaltliche Beratung gehen.
Gerade bei Behandlungsfehlern wie der unterlassenen Bildgebung mittels MRT oder CT bei einem HWS-Syndrom mit Warnzeichen ist eine fachkundige Einschätzung wichtig. Denn nicht immer ist eine unterlassene Untersuchung auch ein Behandlungsfehler. Es kommt auf die Gesamtumstände des Einzelfalls an.
Letztlich hat aber jeder Patient, der durch eine fehlerhafte Behandlung geschädigt wurde, das Recht auf Aufklärung und Entschädigung. Die Rechtsprechung stärkt zunehmend die Stellung der Patienten. Umso wichtiger ist es, die bestehenden Möglichkeiten auch konsequent zu nutzen.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 823 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) – Schadensersatzpflicht: Regelt die Haftung für Schäden, die durch eine fahrlässige oder vorsätzliche Handlung entstanden sind. Im konkreten Fall könnte dies relevant sein, falls festgestellt wird, dass das medizinische Personal durch Unterlassung (Nichtvornahme einer frühzeitigen MRT- oder CT-Untersuchung) fahrlässig gehandelt hat, was zu einer Verschlimmerung des Zustands des Klägers geführt haben könnte.
- § 276 BGB – Verschuldensmaßstab: Bestimmt, dass der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Im medizinrechtlichen Kontext ist zu prüfen, ob die Ärzte die erforderliche Sorgfalt eingehalten haben, insbesondere bei der Entscheidung gegen eine sofortige bildgebende Diagnostik.
- § 630a BGB – Vertragstypische Pflichten beim Behandlungsvertrag: Dieser Paragraph definiert die Grundpflichten im Rahmen eines Behandlungsvertrages, einschließlich der Pflicht zur Leistung der medizinischen Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards. Dies ist zentral für die Beurteilung, ob die Nichtvornahme der Untersuchungen einen Behandlungsfehler darstellt.
- § 630h BGB – Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler: Spezifiziert die Beweisführung bei Behandlungsfehlern. Wenn der Kläger einen groben Behandlungsfehler nachweisen kann, erleichtert dies ihm die Beweisführung, dass der Fehler für die eingetretenen Gesundheitsschäden ursächlich war.
- Patientenrechtegesetz: Zielt darauf ab, die Rechte von Patienten im deutschen Gesundheitssystem zu stärken. Relevant sind hier insbesondere die Regelungen zur Aufklärung und Dokumentation medizinischer Eingriffe. Die korrekte Dokumentation einer medizinischen Entscheidung gegen eine MRT- oder CT-Untersuchung könnte hier von Bedeutung sein.
- Medizinproduktegesetz (MPG): Regelt den Umgang mit medizinischen Geräten wie MRT- und CT-Scannern. Während dieses Gesetz primär die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Geräte betrifft, hat es indirekt auch Einfluss darauf, wie diese Technologien im klinischen Alltag eingesetzt werden sollen, was wiederum rechtlich relevant sein kann, wenn es um die Frage geht, ob eine bestimmte Untersuchung hätte durchgeführt werden müssen oder nicht.
Das vorliegende Urteil
OLG Düsseldorf – Az.: 8 U 78/22 – Urteil vom 21.12.2023
Die Berufung des Klägers gegen das am 09.03.2022 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kleve wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz einschließlich der außergerichtlichen Auslagen der Streithelferin trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das erstinstanzliche Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, eine Vollstreckung durch die Beklagten und die Streithelferin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten und die Streithelferin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
A
Der am 00.00.1978 geborene Kläger stellte sich am 25.06.2015 mit seit einigen Tagen bestehenden Nacken- und Kieferschmerzen bei der Streithelferin, einer Heilpraktikerin, vor und unterzeichnete dort eine Einwilligungserklärung für eine chiropraktische Behandlung (BU = GA 653). In der Praxis stellte sich für wenige Minuten ein Schwindel ein (Anlagenband GA 110). Am 26.06.2015 suchte der Kläger wegen Nackenschmerzen die Internistin A. auf. Diese dokumentierte: „Gestern chiropraktische Behandlung, Bewegung dadurch besser aber noch Schmerzen, keine neurologischen Ausfälle“ (GA 284) und riet dem Kläger, den Nacken zu wärmen und Schmerzmittel einzunehmen. Am 27.und 28.06.2015 bestanden keine Beschwerden.
Am Abend des 28.06.2015 stellte sich der Kläger gegen 21:20 Uhr in der orthopädischen Notfallambulanz im Haus der Beklagten zu 1 vor. Die Beklagte zu 2 legte in ihrem Arztbrief vom 28.06.2015 (GA 225 f.) nieder:
„O.g. Patient stellt sich heute notfallmäßig in unserer orthopädischen Ambulanz vor. Er gibt an, am 20.06.2015 mit Nackenschmerzen aufgewacht zu sein, am 25.06. sei er von einem Chiropraktiker eingerenkt worden und habe direkt danach Schwindel und Übelkeit gehabt. Am 26.06. sei er deswegen beim Hausarzt gewesen, die Beschwerden seien dann mit Ibuprofen besser geworden. Heute Abend habe er beim Anheben des Kopfes beim Rasieren erneut Übelkeit und Schwindel gehabt, der wohl wie zuvor auch eher linksdrehend gewesen sei und sich nach etwa 15 Minuten spontan gebessert habe. Taubheitsgefühle und Lähmungen werden nicht angegeben. Ein Trauma ist nicht erinnerlich….
Kein Druck- und Klopfschmerz über der HWS, aber deutlicher Druckschmerz am cervico-occiopitalen Übergang links mit Ausstrahlung zum Hinterkopf. Diskreter Hartspann der linksseitigen Nacken- und Schultermuskulatur. Die HWS-Beweglichkeit ist in alle Richtungen frei, Schmerzen werden bei der Reklination und der Neigung des Kopfes nach rechts angegeben… DMS der oberen Extremitäten aktuell orientierend neurologisch o.B.“
Eine Röntgenaufnahme zeigte eine mäßige Steilstellung der HWS und beginnende degenerative Veränderungen. Die Beklagte zu 2 diagnostizierte ein HWS-Syndrom und riet dem Kläger, sich bei einem Orthopäden zur weiteren, gegebenenfalls auch bildgebenden Diagnostik vorzustellen (GA 226). Am 29.06.2015 suchte der Kläger den niedergelassenen Orthopäden B. auf. Dieser dokumentierte:
„Ist am 20.06. mit Nackenschmerzen aufgestanden. Am 25.06. wurde er eingerenkt. Nach der Chiro direkt Schwindel und Übelkeit aufgetreten. Am 26.06. vom Hausarzt Ibu bekommen. Leichte Besserung damit. Seit gestern wieder verstärkt Beschwerden mit Schwindel und Übelkeit.“
Er diagnostizierte ein HWS-Syndrom, erstellte ein Röntgenbild und nahm nach Aufklärung eine Atlastherapie vor.
In der Nacht auf den 30.06.2015 wurde der Kläger mit Schwindel und Übelkeit wach. Nachdem keine Besserung eintrat und Erbrechen sowie ein hoher Blutdruck hinzukamen, wurde am Morgen der Rettungsdienst gerufen, der den Kläger in das Hospital C. in D.-Stadt verbrachte. Dort wurden im Rahmen der körperlichen Untersuchung eine leichte Anisokorie (links kleiner als rechts) bei prompter seitengleicher Pupillenreaktion sowie ein Nystagmus beim Blick nach links bei ansonsten unauffälligem neurologischen Befund festgestellt. Der Kläger erhielt Vomex. Es wurde eine MRT-Untersuchung des Schädels durchgeführt. Um 16:46 Uhr wurde der Kläger mit der Verdachtsdiagnose einer Dissektion der Arteria vertebralis links und PICA-Infarkt auf die Stroke-Unit der Beklagten zu 3 verlegt (BU = GA 564 ff.), auf der der Beklagte zu 4 als Oberarzt tätig war. Es erfolgte über 24 Stunden ein Monitoring der Vitalparameter und der für die zerebrale Durchblutung relevanten Parameter und eine Behandlung mittels PTT-gesteuerter Antikoagulation mit Heparin. Auffälligkeiten ergaben sich nicht. Eine MRT-Untersuchung vom 01.07.2015 bestätigte den Verdacht auf eine Vertebralisdissektion links in Form eines Wandhämatoms. Das Alter des Infarkts wurde auf 10 Tage geschätzt (GA 773). Am 02.07.2015 wurde der Kläger auf die Normalstation verlegt und nach Aufklärungsgesprächen mit ihm und seiner Ehefrau (BU-Ordner) die intravenöse Behandlung mit Heparin auf eine orale Behandlung mit ASS umgestellt. Eine Entlassung war für den 09.07.2015 geplant. Am 04.07.2015 kam es erneut zu einer Episode mit Drehschwindel und Übelkeit. Die klinische Untersuchung ergab keine signifikante Veränderung zur Voruntersuchung. Am 06.07.2015 klagte der Kläger über Gefühlsstörungen in den Armen und Händen. Eine MRT-Untersuchung am 06.07.2015 zeigte keine Befundveränderung (BU-Ordner). Am Morgen des 09.07.2015 trat eine Verschlechterung mit einer Gesichtslähmung und Augenlähmung links sowie Schluckstörungen auf (BU-Ordner). Es wurden CT- und MRT-Untersuchungen veranlasst. Der Kläger wurde erneut auf die Stroke-Unit verlegt und die medikamentöse Behandlung auf eine PTT-gesteuerte Heparingabe umgestellt. Die MRT-Untersuchung bestätigte den Verdacht auf eine neue zerebrale Durchblutungsstörung im Bereich des Hirnstamms. Der Kläger wurde am 29.07.2015 mit der Empfehlung einer Umstellung der Heparintherapie auf Marcumar entlassen (GA 237 -240).
Der Kläger hat auf der Grundlage von Privatgutachten des emeritierten Professors E., eines Facharztes für Allgemeine Chirurgie und Viszeralchirurgie (S. 102 ff. Anlagenband sowie Band III GA 845 ff., 902 ff. und 1000 ff.) und des emeritierten und 2022 verstorbenen Professors F., eines Facharztes für Allgemein Chirurgie- und Viszeralchirurgie sowie Orthopädie und Unfallchirurgie (S. 144 ff im 1. Anlagenband und Band III GA 884 ff. und 938 ff.) behauptet, der Schlaganfall sei grob behandlungsfehlerhaft nicht rechtzeitig erkannt und nicht fachgerecht behandelt worden. Bereits die Anamnese sei im Haus der Beklagten zu 1 durch die Beklagte zu 2 fehlerhaft erhoben worden; eine chiropraktische Behandlung sei am 25.06.2015 nicht erfolgt. Auch seien, obwohl die Zeuginnen G. und H. auf eine familiäre Disposition zu Bluthochdruck und Problemen bei der arteriellen Versorgung hingewiesen hätten, nicht die zwingend gebotenen Befunde (MRT, Sonographie der hirnversorgenden Arterie) erhoben, sondern der Kläger ohne Weiteres entlassen worden. Im Hause der Beklagten zu 3 sei die im Wesentlichen durch den Beklagten zu 4 erfolgte Behandlung insofern grob fehlerhaft gewesen, als dass die Behandlung mit Heparin, die den zweiten Schlaganfall verhindert hätte, am 02.07.2015 zu früh abgebrochen worden sei. Infolge der Behandlungsfehler sei er dauerhaft pflegebedürftig, erwerbsunfähig und leide neben den körperlichen Beeinträchtigungen auch an schweren psychischen Beeinträchtigungen. Ein eigenständiges Leben sei ihm nicht mehr möglich.
Die Beklagten zu 1 und 2 haben geltend gemacht, eine weitere Befunderhebung sei nicht erforderlich gewesen, da die Symptome die Diagnose eines HWS-Syndroms erlaubt hätten.
Die Beklagten zu 3 und 4 haben geltend gemacht, die Umstellung auf ASS sei leitliniengerecht und nach entsprechender Aufklärung des Klägers erfolgt. Zu einer Haftung des Beklagten zu 4 fehle jeglicher Vortrag.
Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Kleve hat gemäß Beweisbeschluss vom 15.01.2019 (GA 258 f.) die Zeugen A. (GA 284) und B. (GA 281 ff.) schriftlich und die Zeuginnen G.und H. mündlich vernommen und den Kläger sowie die Beklagte zu 2 persönlich angehört (GA 322 ff.). Gemäß den Beweisbeschlüssen vom 24.07.2019 (GA 330 ff.), 09.09.2019 (Band II, GA 644) und 25.09.2019 (GA 694) hat das Landgericht Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie J. (GA 709 ff.) sowie des Facharztes für Neurologie K. (Band II GA 768 ff. und Band III GA 981 ff.) eingeholt. Nach Anhörung der Sachverständigen (Band III, GA 1097 ff.) hat das Landgericht die Klage mit am 09.03.2022 verkündetem Urteil (Band III, GA 1105 ff.) abgewiesen.
Mit der gegen das Urteil gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.
Er trägt vor, das Landgericht habe die Aussagen der Zeuginnen übergangen; er habe nachgewiesen, dass die Ärzte im Haus der Beklagten zu 1 auf den Verdacht eines Schlaganfalls hingewiesen worden seien. Es hätten durchgängig neurologische Symptome vorgelegen, die von den Ärzten im Haus der Beklagten zu 1 missachtet worden seien. Die vom Landgericht beauftragten Sachverständigen seien von falschen Voraussetzungen, nämlich davon ausgegangen, dass das Leitsymptom die Nackenschmerzen gewesen sei. Verbunden mit dem dokumentierten deutlichen Druckschmerz am cervio-occipitalen Übergang links mit Ausstrahlungen zum Hinterkopf seien die übrigen Ausfallerscheinungen rezidivierender Schwindel (linksdrehend) und rezidivierende Übelkeit nach (angenommenem) Trauma nach chiropraktischer Manipulation an der Halswirbelsäule typisch für eine Vertebralisdissektion links. Dies sei von der Kammer ebenso übergangen worden wie die Ausführungen der von ihm beauftragten Privatsachverständigen. Leitliniengerecht hätten die Ärzte im Haus der Beklagten zu 1 eine weitergehende Diagnostik und bereits am 28.06.2015 eine MRT-Untersuchung durchführen müssen. Auf Grundlage eines weiteren Privatgutachtens des Neurologen L. vom 07.06.2022 (eA 144) behauptet der Kläger mit Schriftsatz vom 23.08.2022, dass bei rechtzeitiger Diagnostik bereits der erste Infarkt hätte verhindert werden können. Ein weiteres Privatgutachten des Internisten M. vom 25.09.2022 (eA 173 ff.) legt der Kläger mit Schriftsatz vom 20.10.2022 (eA 171 f.) vor. Weiter rügt er mit seiner Berufung, dass das Landgericht sich – ebenso wie die gerichtlich bestellten Sachverständigen – mit den Ausführungen der Privatsachverständigen, die beide den Abbruch der indizierten Heparinbehandlung nach nur 3 Tagen als grob fehlerhaft und kausal für den zweiten Schlaganfall bewertet hätten, nicht auseinandergesetzt hätte. Eine erhöhte Blutungsgefahr durch die gut steuerbare Antikoagulation mit Heparin habe nicht bestanden. Der frühe Einsatz von Aspirin als alleinige Therapie sei ungeeignet gewesen; zuvor hätte auch eine entsprechende Befunderhebung durchgeführt werden müssen. Es sei ein Obergutachten einzuholen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. unter entsprechender Abänderung des Urteils des Landgerichtes Kleve, Az. 2 O 242/18 vom 09.03.2022, zugestellt am 11.03.2022,
a) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn aus der fehlerhaften Behandlung vom Juni/Juli 2015 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes gestellt wird, mindestens jedoch 300.000,00 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.10.2017;
b) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung vom Juni/Juli 2015 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden;
hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des landgerichtlichen Urteils zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Kleve zurückzuverweisen;
2. das Rechtsmittel der Revision zuzulassen.
Die Beklagten und die Streithelferin beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten zu 1 und 2 tragen vor, mit der Berufung würde allein erstinstanzlicher Vortrag wiederholt. Auch aus den neuerlichen Ausführungen der Privatgutachter ergebe sich nichts Neues; nach wie vor argumentiere man aus einer nicht maßgeblichen ex-post-Sicht. Das vom Kläger angegebene Leitsymptom sei Schmerzen an der HWS gewesen. Übelkeit und Schwindel seien nicht Anlass der Vorstellung in ihrem Haus und während der Untersuchung nicht festzustellen gewesen. Auch sei nicht von rezidivierendem Schwindel, sondern lagerungsabhängigem Schwindel zu kurzen Zeitpunkten die Rede gewesen. Ein Trauma hätte unstreitig nicht vorgelegen; auch stelle eine chiropraktische Behandlung per se ein solches nicht dar. Die Zeugin H. sei bei der Vorstellung in ihrem Hause gar nicht anwesend gewesen; die Aussagen der Zeuginnen hätte der Kläger-Vertreter den Sachverständigen jedenfalls in ihrer Anhörung ohne Weiteres vorhalten können; dies sei aber ohnehin durch das Landgericht geschehen. Ein Verfahrensfehler liege nicht vor. Auch sei kein Obergutachten einzuholen.
Die Beklagten zu 3 und 4 tragen vor, dass der dem Behandler fachgleiche Sachverständige K. sich – entgegen der Darstellung des Klägers – ausführlich mit den Ausführungen der Privatsachverständigen, bei denen es sich nicht um Neurologen handele, auseinandergesetzt habe. Die Berufung zeige keine neuen Aspekte auf. Ein Behandlungfehler liege nicht vor. Dies bestätige auch das vom Kläger selbst in der Berufungsinstanz vorgelegte, neue Gutachten des neurologischen Privatgutachters L.. Dieser weise ausdrücklich darauf hin, dass den Ausführungen von K. zuzustimmen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie die Verhandlungsprotokolle Bezug genommen.
B
Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche gegen die Beklagten unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
I.
Die Berufung gegen die Beklagten zu 1 und 2 ist unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht eine fehlerhafte Behandlung durch die Beklagte zu 2 im Haus der Beklagten zu 1 nicht feststellen können. Es habe zum Zeitpunkt der Vorstellung des Klägers weder aufgrund der Anamnese noch aufgrund der klinischen Untersuchung Anlass dazu bestanden, notfallmäßig eine MRT- oder CT-Untersuchung vorzunehmen. Das Leitsymptom seien die Nackenschmerzen gewesen; ein lagerungsabhängiger Schwindel, wie er vom Kläger geschildert worden sei, stelle ein häufig vorkommendes Symptom bei einem HWS-Syndrom dar. Neurologische Ausfallerscheinungen hätten nicht vorgelegen (S. 5 Urteil = GA 1109). An die dem Zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten, sind weder ersichtlich noch werden sie vom Kläger mit der Berufung vorgetragen.
Der Sachverständige J. hat in seinem Gutachten vom 30.10.2019 nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass die klinische Symptomatik des HWS-Syndroms vielfältig sei. Am häufigsten würden Nacken- und Rückenschmerzen, die entlang der Wirbelsäule aufträten, geklagt. Sei die obere Halswirbelsäule betroffen, komme es zum cerviko-cephalen Syndrom mit ausstrahlenden Schmerzen in den Nacken/Hinterkopfbereich sowie auch begleitend zu bewegungs- und haltungsabhängigen Schwindelgefühlen, Übelkeit, Ohrensausen und Hörstörungen (S. 20 f. Gutachten = GA 728 f.). Nackenschmerzen seien mit einer Punktprävalenz von 10 bis 15% ein häufiger Beratungsanlass in der orthopädischen Praxis (S. 21 Gutachten = GA 729). Die durchschnittliche jährliche Inzidenz spontaner Dissektionen der extracraniellen hirnversorgenden Arterien betrage hingegen für die Arteria carotis interna lediglich ca. 2,5 bis 3 / 100.000 und für die Arteria vertebralis 0,97 bis 1, 5 /100.000 (S. 22 Gutachten = GA 730). Sämtliche bei dem Kläger erhobenen Befunde seien für ein unspezifisches HWS-Syndrom passend gewesen. Er habe über Nackenschmerzen geklagt und bei der klinischen Untersuchung im Haus der Beklagten zu 1 habe sich ein Druckschmerz am cerviko-occipitalen Übergang links mit Ausstrahlung zum Hinterkopf sowie ein begleitender Hartspann der Nacken- und Schultermuskulatur und Schmerzen bei Reklination und Neigung des Kopfes nach rechts gezeigt. Im Zusammenhang mit der sich aus der Röntgenuntersuchung ergebenden Steilstellung und beginnenden degenerativen Veränderung der Bewegungssegmente seien die geklagten Symptome so schlüssig zu erklären gewesen (S. 27 Gutachten = GA 735). Nach der maßgeblichen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) umfasse die Diagnostik des nicht-spezifischen Nackenschmerzes eine Anamnese und körperliche Untersuchung und keine Bildgebung. Diese sei nur erforderlich bei Hinweisen auf spezifische Ursachen oder einen abwendbar gefährlichen Verlauf (S. 22 Gutachten = GA 730). Solche Hinweise hätten im konkreten Fall nicht vorgelegen. Die chiropraktische Behandlung, von deren Durchführung die Beklagte zu 2 ausgegangen sei, sei kein solcher Hinweis gewesen. Die manuelle Therapie sei eine funktionelle Therapie, welche durch Mobilisations- und Manipulationstechniken auf ein in seiner Funktion gestörtes Gelenk der Extremitäten oder auf ein Bewegungssegment der Wirbelsäule einwirke (S. 23 Gutachten = GA 731). Komplikationen nach Chirotherapie der Halswirbelsäule seien extrem selten. Zwar werde unter anderem auch eine Dissektion der Arteria vertebralis mit Perfusionsstörung und Infarkten des Klein- und Stammhirns beschrieben. Es seien aber nur 5 bis 10 Patienten bei 10 Millionen Manipulationen überhaupt von schweren Komplikationen betroffen. Da eine Dissektion der Vertebralarterie auch spontan erfolgen könne und sich bei Tests ergeben habe, dass die Belastung, die auf die Arterie während einer Manipulation einwirke, geringer sei als für eine Ruptur notwendig, könne ein Kausalzusammenhang auch in diesen Einzelfällen nicht nachgewiesen werden (S. 25 f. Gutachten = GA 733 f.). Die unter Berücksichtigung des orthopädischen Fachstandards zu bewertende grob neurologische Untersuchung habe beim Kläger keine Auffälligkeiten ergeben. Die vom Kläger geschilderte kurzzeitig aufgetretene Schwindelsymptomatik als alleinige neurologische Auffälligkeit sei nicht wegweisend für das Vorliegen einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien, da diese oftmals im Rahmen des unspezifischen HWS-Syndroms begleitend vorliege (S. 27 Gutachten = GA 735).
Die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen werden auch nicht in Frage gestellt durch die vom Kläger vorgelegten Privatgutachten. Soweit der Privatsachverständige E. postuliert, wenn man eine regelrechte Anamnese vorgenommen hätte, hätte man sofort eine weitergehende Diagnostik einleiten müssen, erklärt er weder, was bei der Anamneseerhebung fehlerhaft gewesen sein soll, noch welche Angaben konkret eine sofortige Bildgebung erforderlich gemacht hätten. Er führt in seinem Gutachten vom 23.03.2018 selbst aus, dass das Wallenberg-Syndrom, an dem der Kläger leidet, eine seltene Form des Schlaganfalls und die Symptome vielgestaltig seien. Die typischen Symptome, die er aufzählt, lagen beim Kläger aber gerade nicht vor (S. 28 ff Gutachten = GA 129 ff im Anlagenband). Soweit er ausführt, die Tatsache, dass man von einem Zustand nach chiropraktischer Manipulation ausgegangen sei, hätte eine notfallmäßige CT- oder MRT-Untersuchung notwendig gemacht, begründet er ebenso nicht näher (S. 32 Gutachten = GA 133). In seinem Gutachten vom 31.12.2019 (GA 845 ff.) wiederholt er seinen Standpunkt. Der Privatgutachter F. hat in seinem Gutachten vom 30.10.2017 (GA 144 ff. im Anlagenband) ausgeführt, dass die Symptome bei Dissektion der hirnversorgenden Arterien zu 50% mit Kopfschmerzen begännen, welche unspezifisch seien. Retrospektiv zeige sich, dass bei 8 von 10 Patienten Schwindel, ebenfalls ein unspezifisches Symptom, neben den Kopfschmerzen vorgelegen hätte (S. 29 Gutachten = GA 172). Daher sei die frühzeitige Entdeckung der Dissektion auch heute noch problematisch (S. 30 Gutachten = GA 173). Gleichwohl stellt auch er die Forderung auf, beim Kläger hätte im Haus der Beklagten zu 1 wegen des Verdachts einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien eine weitergehende Diagnostik durchgeführt werden müssen (S. 35 Gutachten = GA 178). Diese Ausführungen wiederholt er in seinem Gutachten vom 27.12.2019 (GA 889 ff.), obwohl beim Kläger gar keine Kopfschmerzen vorlagen. Der gerichtlich bestellte Sachverständige J. hat in seiner Anhörung hingegen deutlich klargestellt, dass der einseitige oder beidseitige Nackenschmerz bei einem HWS-Syndrom im Zentrum stehe, es könnten aber durchaus auch Schwindelgefühle auftreten. Das komme so in der Praxis häufig als Befund vor und gebiete keine weitergehende Diagnostik. Diese sei erst erforderlich, wenn ein weiteres Symptom hinzutrete. Während der Untersuchung durch die Beklagte zu 2 habe aber keine neurologische Ausfallerscheinung vorgelegen. Der Schwindel sei auch nicht als dauerhaft oder rezidivierend zu bewerten gewesen. Geschildert worden sei vielmehr ein Schwindel, der lagerungsabhängig zweimalig aufgetreten sei; über 1 ½ Tage hätten gar keine Beschwerden bestanden (S. 2 f. Protokoll = GA 1097 R f.). Anlass für eine weitergehende Diagnostik hätte nur bestanden, wenn die Beschwerden sich aus den anamnestisch und klinisch erhobenen Befunden nicht hätten erklären lassen. Soweit der Gutachter E., der kein Orthopäde sei, davon spreche, aus einem einseitigen Nackenschmerz sei auf eine vertebrale Dissektion zu schließen, sei dies falsch. Auch sei eine vorangegangene chiropraktische Behandlung nicht mit einem Trauma im Sinne der Leitlinie gleichzusetzen (S. 3 Protokoll = GA 1098). Aus dem mit der Berufung eingereichten Gutachten des Privatgutachters E. vom 30.04.2022 (eA 73 ff.) ergibt sich nichts Neues. Der Gutachter wiederholt erneut seine Einschätzung. Soweit er darin ausführt, bei der vom Sachverständigen J. geschilderten Häufigkeit und Beurteilung von Nackenschmerzen in der orthopädischen Praxis handele es sich um anekdotische Einzelbeobachtungen (eA 82), ist nicht ersichtlich, worauf der Gutachter E., bei dem es sich nicht um einen Orthopäden handelt, diese Behauptung stützt. Mit Schriftsatz vom 20.10.2022 hat der Kläger ein Gutachten eines weiteren Privatgutachters vorgelegt. Der Facharzt für Innere Krankheiten M. hat in seinem Gutachten vom 25.09.2022 (eA 173 ff.) zunächst ausgeführt, dass Nackenschmerzen auch beim Hausarzt häufig beklagt würden, aber nur in weniger als 1% der Fälle Zeichen einer gefährlichen Grunderkrankung nachweisbar seien. Weshalb der Gutachter gleichwohl zu der Aussage kommt, es sei im Haus der Beklagten zu 1 versäumt worden, eine bildgebende Untersuchung durchzuführen, ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Soweit der Kläger darauf verweist, dass der Gutachter L. ausgeführt habe, dass eine frühzeitigere Einleitung einer Diagnostik möglich gewesen wäre und es, wenn das Wandhämatom zur Darstellung gekommen wäre, möglich gewesen wäre, den PICA-Infarkt zu verhindern (S. 22 Gutachten = eA 165), kann dem im Hinblick auf die streitentscheidende Frage, ob eine solche Bildgebung behandlungsfehlerhaft unterblieben ist, nichts entnommen werden. L. rügt darüberhinaus, dass die Beklagte zu 2 weder eine Koordinations- noch eine Okulomotorikprüfung und keine ausführliche Überprüfung verschiedener Sensibilitäten dokumentiert habe (S. 22 Gutachten = eA 165). Tatsächlich wurde aber durch die Beklagte zu 2 die Durchführung einer neurologischen Befunderhebung dokumentiert. Ob dies in ausreichendem Umfang erfolgte, ist aber nicht nach dem vom Gutachter L. angelegten neurologischen Facharztstandard, sondern – wie der Sachverständige J. ausgeführt hat – unter Berücksichtigung des orthopädischen Facharztstandards zu bewerten. Danach war die grob neurologische Untersuchung ausreichend (S. 27 Gutachten = GA 735). Im Übrigen fehlen auch jegliche Ausführungen dazu, was eine solche Befunderhebung ergeben und wie auf die erhobenen Befunde zu reagieren gewesen wäre. Die Ärzte im Hospital C.haben bis auf eine leichte Anisokorie und einen Nystagmus nach links keine auffälligen neurologischen Befunde feststellen können. Dass diese Befunde zum Zeitpunkt der Vorstellung im Haus der Beklagten zu 1 bereits vorlagen, wird nicht vorgetragen.
Ob die Zeugin G. die Beklagte zu 2 darum gebeten hatte, eine Untersuchung der Halsschlagader zu machen, um einen Schlaganfall auszuschließen (GA 7, 323 R), kann dahinstehen. Denn auf Vorhalt des Landgerichts haben sowohl die Beklagte zu 2 (S. 3 Protokoll vom 03.07.2019 = GA 323) als auch der Sachverständige J. (S. 2, 3 Protokoll = GA 1097 R, 1098) ausgeführt, dass man solche Angaben zwar in Betracht ziehe, man aber nicht die von den Angehörigen gewünschte, sondern nur die medizinisch indizierte Diagnostik durchführe. Eine medizinische Indikation habe auf der Grundlage der anamnestischen und klinischen Befunde jedoch nicht bestanden.
II.
Die Berufung gegen die Beklagten zu 3 und 4 ist ebenfalls unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Behandlung im Haus der Beklagten zu 3 behandlungsfehlerfrei erfolgt ist. Insbesondere seien die Risiken und Chancen einer Fortführung der umgehend sachgerecht eingeleiteten Antikoagulationstherapie mit Heparin gegen die Risiken und Chancen einer Umstellung auf einen Thrombozytenaggregationshemmer (ASS 10 mg) gemäß der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Leitlinien abzuwägen gewesen. Die Entscheidung für die Umstellung auf ASS sei nachvollziehbar und begründet (S. 6 Urteil = GA 1110). An die dem zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten, sind weder ersichtlich noch werden sie vom Kläger mit der Berufung vorgetragen.
Der neurologische Sachverständige K. hat auf Grundlage der zum Ereigniszeitpunkt gültigen S2k- Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie „Spontane Dissektion der extrakraniellen und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien“ als auch der aktualisierten Leitlinie in seinen Gutachten vom 30.03.2020 (Band II, GA 768) und 11.08.2020 (Band III, GA 981 ff.) sowie seiner Anhörung am 16.02.2022 nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass die Behandlung im Haus der Beklagten zu 3 fehlerfrei erfolgt ist. Die in der Leitlinie analog zum ischämischen Schlaganfall auch für den Akutfall einer Dissektion empfohlene systemische Lysetherapie sei aufgrund des am 30.06.2015 längst abgelaufenen Zeitfensters von 4,5 Stunden nicht in Betracht gekommen. Auch nach dem Auftreten des zweiten Infarktes am 09.06.2015 habe es für eine solche Behandlung keine Indikation gegeben. Eine Lysetherapie sei im Falle eines in den letzten drei Monaten stattgehabten Infarktes kontraindiziert (S. 4, 2. Gutachten = GA 984). Im Hinblick auf die Sekundärprävention bei einer Dissektion ergebe sich aus der Leitlinie, dass sowohl eine Heparintherapie als auch eine Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmer in Frage kämen (S. 38, 1. Gutachten = GA 805). Bei der extraduralen Dissektion mit intraluminalem flottierenden Thrombus werde eine Heparintherapie empfohlen, bei einem großen Infarkt und einem hohen Blutungsrisiko hingegen eine Therapie mit einem Thrombozytenaggregationshemmer. Bei intraduralen Dissektionen gebe es aufgrund der geringen Fallzahl keine allgemeine Therapieempfehlung; aufgrund einer erhöhten Blutungsgefahr werde jedoch von einer therapeutischen Antikoagulation eher abgeraten und eine Therapie mit einem Thrombozytenaggregationshemmer bevorzugt (S. 37, 1. Gutachten = GA 804). Im konkreten Fall hätten eine von extradural bis intradural reichende Dissektion sowie bei demarkiertem Territorialinfarkt der linken Kleinhirnhemisphäre ein erhöhtes Blutungsrisiko vorgelegen (S. 38, 1. Gutachten = GA 805). Bei den Antikoagulantien und den Thrombozytenaggregationshemmern handele es sich um zwei Wirkprinzipien, die auf unterschiedlichen Stufen der Gerinnung eingriffen. Antikoagulantien beeinflussten die Blutgerinnung in sehr viel stärkerem Maße als die Thombozytenaggregationshemmer. Diese stärkere Wirkung bringe aber auch höhere Risiken mit sich. Die Verwendung von Antikoagulantien sei mit einem höheren Risiko von Blutungen verbunden. Vorliegend sei es nicht darum gegangen, eine Blutung zu stillen, sondern einen Schlaganfall zu verhindern. Bei einer – wie vorliegend – in den Schädel hineinreichenden Dissektionen komme es bei der Gabe von Antikoagulantien mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu Blutungen im Schädel. Bei einer Dissektion sei ein Gefäß gerissen, weshalb es bei einer intrakraniellen Dissektion zu einer Subarachnoidalblutung kommen könne, was für sich genommen schon eine lebensbedrohliche Tatsache darstelle (S. 4 Protokoll = GA 1098 R). Nach der zweiten MRT, die den Grund für die Ischämie und deren Alter von ca. 10 Tagen bestätigte, sei die Umstellung der Therapie nach initialer Antikoagulation daher nachvollziehbar und auf Grundlage der damaligen Studienlage mit dem Patienten besprochen und schließlich umgesetzt worden (S. 39, 1. Gutachten = GA 806; S. 5 Protokoll = GA 1099). Es hätten zwei Argumente für eine Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmer (ausgedehnter Infarkt, intradurale Dissektion) und ein Argument für eine Antikoagulation (intraluminaler arterieller Thrombus) vorgelegen. Das Vorgehen der Ärzte sei aus sachverständiger Sicht schlüssig und vertretbar. Mit dem später erfolgten Wechsel auf eine orale Antikoagulation sei darauf reagiert worden, dass ein weiteres Argument für eine Heparintherapie hinzugetreten sei (nämlich ein rezidivierender embolischer Infarkt trotz Thrombozytenaggregationshemmer) und sich das Blutungsrisiko infolge des Kleinhirninfarkts zu diesem Zeitpunkt auf Grund des Zeitablaufs bereits deutlich reduziert habe (S. 39, 1. Gutachten = GA 806). Eine Umstellung zwischen den Therapieformen sei übliche klinische Praxis insbesondere, wenn sich im Rahmen der Diagnostik oder des klinischen Verlaufs neue Aspekte ergäben (S. 5, 2. Gutachten = GA 985). Zwar sei die Umstellung auf ASS zeitlich mit dem Auftreten des zweiten Schlaganfalls assoziiert, wobei 7 Tage dazwischenlagen. Eine Kausalität könne aus einer solchen Assoziierung aber nicht abgeleitet werden (S. 8, 2. Gutachten = GA 988; S. 5 Protokoll = GA 1099).
Soweit der Kläger mit seiner Berufung erneut Gutachten der bereits erstinstanzlich bemühten Privatgutachter vorlegt, ergibt sich daraus nichts Neues. Mit sämtlichen Einwendungen, die in diesen Gutachten vorgebracht werden, hat der Sachverständige K. sich bereits in erster Instanz auseinandergesetzt. Sowohl in seinem Gutachten vom 11.08.2020 als auch in seiner Anhörung im Termin am 16.02.2022 hat der Sachverständige ausführlich dargetan, weshalb die Ausführungen der Fachärzte für Chirugie und Unfallchirurgie medizinisch unrichtig sind bzw. die in den maßgeblichen Leitlinien ausgesprochenen Empfehlungen verkennen. Eine Auseinandersetzung mit den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen zu diesen Einwendungen lässt die Berufung vermisse, worauf der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 16.11.2023 – insoweit nicht protokolliert- hingewiesen hat. Darüber hinaus legt der Kläger mit seinem Schriftsatz vom 23.08.2022 (eA 142) erstmals ein Privatgutachten eines fachgleichen Gutachters, des Facharztes für Neurologie L. vor, der einen Behandlungsfehler der Ärzte der Beklagten zu 3 ausdrücklich in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen K. verneint (S. 24 Privatgutachten vom 07.06.2022 = eA 167).
C
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 101 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren auf 350.000,00 EUR festgesetzt.