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Behandlungsfehler – Inkaufnahme der Selbstschädigung eines Patienten

OLG Dresden – Az.: 4 U 1646/21 – Beschluss vom 02.11.2021

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.

2. Der Kläger hat Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen. Er sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufung in Erwägung ziehen.

3. Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30.11.2021 wird aufgehoben.

4. Es ist beabsichtigt, den Gegenstandswert des Berufungsverfahrens und des landgerichtlichen Verfahrens auf bis zu 35.000,00 € festzusetzen.

Gründe

I.

Der am xx.xx.2013 geborene Kläger ist Sohn des am xx.xx.1981 geborenen und am xx.xx.2013 infolge Suizids verstorbenen M…… A…… (im Folgenden: Patient). Der Patient litt seit seinem 20. Lebensjahr an rezidivierenden Depressionen und befand sich in ärztlicher Behandlung. Er stellte sich Anfang Januar 2013 bei der Beklagten wegen suizidaler Gedanken und Schlafstörungen vor. Er wurde stationär vom 03.01. bis 21.01.2013 wegen rezidivierender depressiver Störung, Verdacht auf Anpassungsstörung im Rahmen eines Partnerschaftskonfliktes behandelt. Eine zweite psychiatrische Behandlung im Hause der Beklagten erfolgte in der Zeit vom 11.04.2013 bis 24.05.2013. Aufgrund der geplanten Familiengründung gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin – Mutter des Klägers -, mit der er seit sechs Jahren in einer Fernbeziehung lebte, äußerte er große Ängste im Zusammenhang mit seiner bevorstehenden Vaterrolle und der damit verbundenen Verantwortung. Er wurde psychotherapeutisch und medikamentös behandelt. Vom 18. bis 19.05.2015 erfolgte eine Beurlaubung des Patienten. Am 21.05.2012 äußerte er konkrete starke Suizidgedanken, woraufhin eine Ausgangssperre verhängt wurde, bis der Patient angab, dass er sich von seinem Suizidgedanken distanziert habe. Am 22.05.2013 holte er Sachen von zu Hause ab. Sowohl am 23.05. als auch am 24.05.2013 äußerte er einen Entlassungswunsch bei ambulanter Weiterbehandlung mit der Begründung, er komme stationär nicht weiter und müsse ins richtige Leben zurück und sich der Verantwortung stellen. Der Patient wurde am 24.05.2013 entlassen und verübte am selben Abend Suizid.

Der Kläger hat behauptet, die Ärzte der Beklagten hätten seinen Vater fehlerhaft behandelt. Sie hätten die akute Selbstgefährdung zum Entlassungszeitpunkt nicht erkannt und hätten ihn nicht entlassen dürfen. Er hätte weiter untersucht werden müssen, auch seien die verabreichten Medikamente nicht geeignet gewesen.

Behandlungsfehler - Inkaufnahme der Selbstschädigung eines Patienten
(Symbolfoto: Beliphotos/Shutterstock.com)

Das Landgericht hat ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B…… eingeholt und die Klage mit Urteil vom 02.07.2021 abgewiesen. Es hat einen Behandlungsfehler verneint. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 02.07.2021 Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er beanstandet insbesondere, dass das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass auch nach den Feststellungen des Sachverständigen eine Benachrichtigung der Freundin des Patienten von der Entlassung wünschenswert gewesen wäre. Es hätten weitere Feststellungen dazu getroffen werden müssen, ob dieses Versäumnis einen Behandlungsfehler darstelle. Das Landgericht habe fehlerhaft dem Sachverständigen die Entscheidung überlassen, ob dieser Fehler als einfach oder grob fehlerhaft anzusehen sei. Das Landgericht hätte von Amts wegen verbleibende Zweifel durch kritisches Hinterfragen im Rahmen der persönlichen Anhörung des Sachverständigen beseitigen müssen. Die Aussage des Sachverständigen in seiner Stellungnahme vom 29.09.2019 impliziere mindestens einen einfachen Behandlungsfehler. Der Sachverständige habe erklärt, dass die Entlassung des Patienten nur bei vorheriger Benachrichtigung der Freundin bzw. Abholung aus der Klinik durch Angehörige zum Schutz des Patienten vertretbar gewesen wäre. Das Landgericht habe zudem dem Kläger keinen Hinweis hinsichtlich des Kausalitätsnachweises gegeben. Wäre dieser erfolgt, hätte er vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass die Freundin des Patienten und dessen Eltern ihn nach der Entlassung in ihre Obhut genommen und betreut hätten. Unter dieser ständigen Aufsicht wäre der Suizid nicht erfolgt.

II.

Der Senat beabsichtigt, die zulässige Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch – einstimmig gefassten – Beschluss zurückzuweisen. Die zulässige Berufung des Klägers bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.

Zu Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Schadensersatz zu, §§ 823, 831, 844 BGB.

Zutreffend hat das Landgericht auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B…… angenommen, dass ein Behandlungsfehler nicht festgestellt werden kann. Der Sachverständige hat eingehend dargelegt, dass die Behauptung des Klägers, die Beklagte habe unter Verstoß gegen den fachärztlichen Standard Fehler bei der Behandlung des durch Suizid verstorbenen Patienten begangen, nicht mit der dafür erforderlichen Wahrscheinlichkeit bestätigt werden könne, es sich vielmehr um einen schicksalhaften Verlauf gehandelt habe. Auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts wird insoweit Bezug genommen. Die entgegenstehende Auffassung des Klägers verkennt, dass bei suizidgefährdeten Patienten, die Inkaufnahme von Risiken – auch des Risikos der Selbstschädigung – therapeutisch notwendig sein kann. Der Psychiater hat die Chancen und Risiken einer schrittweise zu gewährenden Freiheit abzuwägen (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 08.02.2000 – 1 U 140/99 – juris). Es muss dem behandelnden Arzt möglich sein, Patienten, bei denen keine akute Suizidalität besteht, auf andere Art und Weise zu behandeln, wenn die Abwägung von Chancen und Risiken dies gebietet (OLG Naumburg, a.a.O.). Da es zur Therapie suizidgefährdeter Patienten gehört, deren Eigenverantwortlichkeit zu stärken und die Patienten nicht durch überzogene Sicherungsmaßnahmen in ihrer Selbstbestimmung einzuengen, kann auch bei der Äußerung von Suizidgedanken die medikamentöse Behandlung im Zusammenspiel mit anderen therapeutischen Maßnahmen dem psychiatrischen Facharztstandard genügen, selbst wenn weitergehende Sicherungsmaßnahmen unterbleiben (vgl. OLG Naumburg, a.a.O.).

Die Entlassung des Patienten am 24.05.2013 ohne Benachrichtigung seiner Lebensgefährtin oder seiner Eltern war nach diesen Maßstäben nicht behandlungsfehlerhaft. Der Sachverständige hat die am 24.05.2013 erfolgte Entlassung unter Abwägung von aktuell zu verantwortender Patientenautonomie und psychischem Befinden als vertretbar bewertet. Dass es nach seiner Einschätzung aus therapeutischen Gründen gut gewesen wäre, wenn man die Freundin des Patienten von der bevorstehenden Entlassung unterrichtet und diese oder einen Angehörigen um Abholung des Patienten gebeten hätte, umschreibt keinen Verstoß gegen den Behandlungsstandard, sondern bringt zum Ausdruck, dass es ex post ratsam gewesen wäre, den Patienten in die Obhut von Angehörigen zu entlassen. Der Sachverständige hat zudem in seinem Gutachten vom 30.06.2019 die von der Beklagten im Beweisbeschluss unter Ziffer 2. aufgeführten Beweisfragen dahingehend beantwortet, dass diesen ohne relevante Einschränkungen gefolgt werden könne (Seite 21 des Gutachtens, Bl. 156 d. A.) und dass sich damit die Frage eines groben Behandlungsfehlers nicht mehr stelle. Damit hat er klargestellt, dass die Entlassung des Patienten nicht behandlungsfehlerhaft war. Eine Veranlassung, den Sachverständigen zu hören, bestand hiernach nicht. Daran ändern auch seine Ausführungen in der Stellungnahme vom 29.09.2019 zum Ablehnungsgesuch des Klägers nichts, die in seinem Gutachten als „wünschenswert“ bezeichnete Benachrichtigung der Freundin von der Entlassung und die Abholung aus der Klinik durch Angehörige wären zum Schutze des Patienten geboten gewesen, wenn sich die behandelnden Ärzte erkennbar unsicher über eine suizidale Dynamik mit einer daraus potentiell möglichen unmittelbaren Gefährdung gewesen wären. Nur in diesem Fall wäre ein behandlungsfehlerhaftes Verhalten zu prüfen gewesen. Tatsächlich hat der Sachverständige diese Situation aber nicht angenommen. Weiter führte der Sachverständige aus, dass darin zwar eine Nachlässigkeit liege, die aber aus seiner Sicht noch nicht das Ausmaß einer Fürsorgepflichtverletzung im Sinne eines Organisationsfehlers erreicht. Ein eindeutig behandlungsfehlerhaftes Verhalten sei nicht zu erkennen. Seine Ausführungen zur „groben Fahrlässigkeit“ sind nicht im Sinne einer juristischen Wertung zu sehen, die dem Sachverständigen als „Gehilfen des Gerichts“ ohnehin nicht zustünde.

2.

Der Senat beabsichtigt, den Gegenstandswert beider Instanzen auf bis zu 35.000,00 € festzusetzen. Soweit in Ziffer 2. des Antrags Zahlungen begehrt werden, die vom 01.02.2016 bis 31.10.2021 fällig geworden sind, sind 14.070,85 € anzusetzen (5.684,80 € [177,65 € x 32 Monate] und 8.386,05 € [226,65 € x 37 Monate]). Soweit Beträge ab dem 01.11.2021 zur Zahlung fällig werden, wird der 3 1/2-fache Jahresbetrag angesetzt und damit 9.519,30 € (226,65 € x 42 Monate). Den Feststellungsantrag bemisst der Senat mit 3.000,00 €. Es ist nicht ersichtlich, mit welchen weiteren Schäden zu rechnen ist, außer den geltend gemachten Unterhaltszahlungen. Hinzu kommen die Zahlungsanträge in Höhe von 4.543,20 € und 44,05 €. Dies ergibt insgesamt 31.177,40 €.

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