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Diagnoseirrtum nebst Befunderhebungsversäumnis im ärztlichen Bereitschaftsdienst

OLG Koblenz – Az.: 5 U 581/12 – Beschluss vom 10.09.2012

Die Klägerin wird darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, ihre Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen (§ 522 Abs. 2 ZPO).

Gründe

Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Was die Berufung dagegen vorbringt, ist auch unter Berücksichtigung der Feststellungen und Schlussfolgerungen des Privatsachverständigen Dr. …[A] nicht stichhaltig.

1. Die Klägerin begehrt materiellen und immateriellen Schadensersatz, Freistellung von Anwaltskosten und Feststellung der Ersatzpflicht für Zukunftsschäden. Sie lastet dem beklagten Arzt an, die seinerzeit 44 – jährige Klägerin in den Nachmittagsstunden des 29. Juli 2007, einem Sonntag, im ärztlichen Bereitschaftsdienst nur unvollständig untersucht und mit einer unzutreffenden Diagnose entlassen zu haben.

Eine weitere erhebliche Verschlechterung der Kopfschmerz- und Allgemeinsymptomatik in der darauffolgenden Nacht erforderte am nächsten Morgen (30. Juli 2007) die notfallmäßige Verlegung in die Universitätsklinik …[Z], wo am 31. Juli 2007 ein Aneurysma der arteria carotis interna links entfernt werden musste (OP – Bericht Bl. 169 – 170 GA). Die Klägerin ist seitdem dauerhaft erheblich beeinträchtigt, insbesondere umfassend pflegebedürftig.

2. Sie hat vorgetragen, der Beklagte habe eine körperliche Untersuchung versäumt (unstreitig), die anhand der dabei zu erhebenden Befunde zur alsbaldigen Krisenintervention mit dem Ergebnis geführt hätte, dass es nicht zu den heute bestehenden Leiden, Ausfällen und Beschwerden gekommen wäre.

Der Beklagte hat einen vorwerfbaren Diagnoseirrtum ebenso bestritten wie die Behauptung, dass eine ergänzende Befunderhebung bereits in den Nachmittagsstunden des 29. Juli 2007 ein reaktionspflichtiges Ergebnis zutage gefördert hätte.

Diagnoseirrtum nebst Befunderhebungsversäumnis im ärztlichen Bereitschaftsdienst
Symbolfoto: Von mariakray /Shutterstock.com

3. Das Landgericht, auf dessen Entscheidung zur weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes Bezug genommen wird, hat den Partner der Patientin, ihren heutigen Betreuer, zur Anamneseerhebung des Beklagten befragt und anschließend Sachverständigenbeweis erhoben. Der zunächst konsultierte Sachverständige Dr. …[B] (Notfallmediziner) hat einen groben Behandlungsfehler des Beklagten bejaht. Wegen der dagegen vom Beklagten erhobenen Einwände hat das Landgericht den Direktor der neurochirurgischen Klinik des Universitätsklinikums …[Y] konsultiert. Prof. Dr. …[C] hat sein Gutachten in der Schlussverhandlung des Landgerichts mündlich erläutert. Hierauf gestützt hat das Landgericht die Klage abgewiesen und dabei offen gelassen, ob dem Beklagten an jenem Sonntagnachmittag ein einfacher oder ein grober Behandlungsfehler unterlaufen sei. Nach den überzeugenden Ausführungen des Neurochirurgen sei der heutige Zustand der Klägerin monokausal auf die außerordentlich schwierige Operation des Aneurysmas und die dabei aufgetretenen mannigfachen Komplikationen zurückzuführen.

4. Dem tritt die Klägerin mit der Berufung unter Aufrechterhaltung der erstinstanzlichen Anträge entgegen. Sie wiederholt, vertieft und ergänzt ihr Vorbringen zu den besonderen medizinischen Gegebenheiten des vorliegenden Falls unter Bezugnahme auf Stellungnahmen des Privatgutachters Dr. …[A], die nach Einschätzung der Berufung die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen weithin falsifizieren.

Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des Landgerichts.

5. Nach Auffassung des Senats hält das angefochtene Urteil den Berufungsangriffen stand. Der Beklagte haftet weder aus dem Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung im Sinne des § 823 BGB noch wegen schuldhafter Verletzung seiner Pflichten aus dem Behandlungsvertrag (§§ 611, 276, 280, 249 ff. BGB).

Im Arzthaftungsprozess hat der Anspruchsteller darzulegen und zu beweisen, dass der Behandlungsseite ein zumindest fahrlässiges Fehlverhalten anzulasten ist, welches eine bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigung hervorgerufen hat. Das Landgericht ist sachverständig beraten zu der Einschätzung gelangt, dass ein fahrlässiges Fehlverhalten des Zweitbeklagten zwar gegeben, indes nicht ursächlich für den heutigen Zustand der Patientin ist. Das sieht der Senat genauso.

Der Beklagte hat die in den Nachmittagsstunden des 29. Juli 2007 geschilderten Beschwerden der Klägerin fehlinterpretiert. Objektiv ist die Fehlinterpretation eines Befundes zwar als Behandlungsfehler zu werten. Indes sind Irrtümer bei der Diagnosestellung oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von zutreffenden Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden. Die Wertung einer objektiv unrichtigen Diagnose als Behandlungsfehler setzt deshalb die vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde oder die Unterlassung notwendiger Befunderhebungen für die Diagnosestellung oder ihre Überprüfung voraus. Ein Diagnoseirrtum ist dem Arzt dann als einfacher Behandlungsfehler vorzuwerfen, wenn sich seine Einschätzung der medizinischen Gegebenheiten als nicht mehr vertretbare Fehlleistung darstellt und als grober Behandlungsfehler, wenn es sich um eine völlig unvertretbare Fehlleistung handelt. Die objektive Fehlerhaftigkeit einer Diagnose ist nicht vorwerfbar, wenn es sich um eine in der gegebenen Situation noch vertretbare Deutung der Befunde handelt (vgl. zum Ganzen BGH NJW 2003, 2827, 2828 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann angesichts der Schwierigkeit der Diagnosestellung zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Befunderhebung die Einschätzung der medizinischen Gegebenheiten durch den Beklagten nicht als völlig unvertretbar angesehen werden. Die wertende Entscheidung, ob die Grenze des Vertretbaren in der konkreten Behandlungssituation überschritten wurde, ist vom Gericht und nicht vom Sachverständigen zu treffen. Dessen Einschätzung der Gegebenheiten, die im Einzelfall von kollegialem Wohlwollen, aber auch von den besseren, indes nicht maßgeblichen Erkenntnissen geprägt sein kann, die der weitere Krankheitsverlauf offenbart hat, ist daher in den tatsächlichen Grundlagen um-fassend und in den wertenden Schlussfolgerungen auf Plausibilität zu überprüfen. Dabei ist das klinische Bild, das sich der Behandlungsseite bot, zu berücksichtigen. Unter diesen Vorgaben lässt sich hier nicht die Feststellung treffen, die Diagnose des Beklagten sei nach Maßgabe der von ihm erhobenen Befunde unvertretbar gewesen. Richtig ist allerdings, dass die Befunderhebung des Beklagten in vorwerfbarer Weise unvollständig war, indem er auf eine körperliche Untersuchung der Patientin verzichtete. Das kann jedoch nur dann eine Beweiserleichterung bis hin zur Beweislastumkehr bewirken, wenn die ergänzende Untersuchung bereits in den Nachmittagsstunden des 29. Juli 2007 mit Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte. Davon ist der zunächst befragte Notfallmediziner Dr. …[B] ausgegangen und hat demzufolge einen grobes Versäumnis des Beklagten bejaht. Diese Einschätzung ist jedoch ersichtlich dadurch geprägt, dass der dramatische und für die Klägerin außerordentlich bedauerliche weitere Verlauf die medizinische Einschätzung durch den Beklagten falsifizierte. Die im Nachhinein gewonnenen Erkenntnisse müssen jedoch unberücksichtigt bleiben, weil es allein auf die Erkenntnismöglichkeiten des Beklagten zum Untersuchungszeitpunkt ankommt. Berücksichtigt man, dass eine bedeutsame Verschlechterung der Beschwerdesymptomatik erst deutlich später in den Nachtstunden eintrat (Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit), spricht vieles dafür, dass die vom Beklagten versäumten weiteren Untersuchungen viele Stunden vorher noch keinen reaktionspflichtigen Befund mit sofortigem Handlungsbedarf ergeben hätten. Der Senat tendiert daher dazu, nicht von einem groben Behandlungsfehler auszugehen.

Letztlich kann das aber offen bleiben, weil das Landgericht, gestützt auf die von Prof. Dr. …[C] vermittelten Erkenntnisse, in nicht zu beanstandender Weise die Überzeugung gewonnen hat, dass die Beeinträchtigungen der Klägerin monokausal auf die außerordentlich schwierige und komplikationsbehaftete Operation vom 31. Juli 2007 zurückzuführen sind. Was die Berufung dagegen vorbringt, überzeugt nicht und erfordert insbesondere keine weitere Beweiserhebung.

Für den Senat steht die allgemeine Sachkunde des gerichtlichen Gutachters außer Frage. Prof. Dr. …[C] verfügt über eine jahrzehntelange praktische Berufserfahrung und ist daneben ein durch zahlreiche Fachpublikationen hervorgetretener, auch international renommierter Wissenschaftler. Dementsprechend hat der seit weit über einem Jahrzehnt mit Arzthaftungssachen befasste Senat Prof. Dr. …[C] auch bereits mehrfach in Fällen konsultiert, die besonders schwierige und komplexe neurochirurgische Fragen aufwarfen.

Dass dem Sachverständigen im vorliegenden Fall eine Fehleinschätzung unterlaufen sein könnte, liegt fern. Zentraler Einwand der Berufung ist die These, eine vom Beklagten vorwerfbar vereitelte frühzeitigere Krisenintervention hätte dazu geführt, dass der heutige Zustand der Klägerin ein besserer wäre. Der Senat hält das auch unter Berücksichtigung und umfassender Würdigung der Ausführungen des Privatgutachters für spekulativ. Dass bei der Klägerin eine besonders gefährliche körperliche Disposition für einen derartigen Zwischenfall vorlag, steht fest aufgrund der medizinischen Befundtatsachen, die am 30. Juli 2007 in der Universitätsklinik …[Z] erhoben wurden und die der Bericht über die am darauffolgen Tag durchgeführte Operation vermittelt. Dem Senat erscheint bemerkenswert, dass selbst die Universitätsklinik …[Z] trotz des dramatisch schlechten Zustands, in dem die Patientin am 30. Juli 2007 eingeliefert wurde, noch einen Tag zuwartete, bis man sich entschloss, neurochirurgisch zu intervenieren.

Das entkräftet die These, der weit weniger dramatische Befund in den Nachmittagsstunden des 29. Juli 2008 hätte zur sofortigen operativen Krisenintervention geführt.

Nach Auffassung des Senats ist das Landgericht den von der Klägerin erhobenen medizinischen Einwänden durch die mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. …[C] in ausreichender Weise mit einem tragfähigen Ergebnis nachgegangen. Daher verspricht eine mündliche Verhandlung keinen weiteren Erkenntnisgewinn.

Frist zur Stellungnahme: 15. Oktober 2012

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