LG Bielefeld – Az.: 4 O 18/20 – Urteil vom 03.12.2021
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche wegen einer vermeintlich fehlerhaften zahnärztlichen Behandlung geltend.
Die Klägerin befand sich bereits im Jahr 2014 in der Behandlung des Beklagten zur Durchführung einer Wurzelspitzenresektion an Zahn 17.
Im Jahr 2018 stellte sie sich sodann am 26.11.2018 beim Beklagten aufgrund einer Überweisung des Zahnarztes Dr. S. vom 09.11.2018 zur Extraktion des Weisheitszahns 38 vor.
Es wurde eine OPG-Aufnahme gefertigt. Auf dieser zeigten sich die Zähne 38 und 48 horizontal verlagert und der resezierte Zahn 17 war tief frakturiert. Der Beklagte stellte daher die Indikation zur Entfernung der Zähe 17, 38 und 48. Der Eingriff sollte in Intubationsnarkose durchgeführt werden. Die Klägerin unterschrieb eine Einverständniserklärung, in der unter der Überschrift „Insbesondere wurde auf folgende Komplikationen hingewiesen“ unter anderem handschriftlich „Nervschaden“ notiert wurde.
Der Eingriff wurde am 18.12.2018 wie geplant in Intubationsnarkose durchgeführt. Zusätzlich erhielt die Klägerin ein Lokalanästhetikum mit Adrenalinzusatz zur intraoperativen Blutarmut und einer postoperativen Schmerzfreiheit. Die Zähne 38 und 48 und der Wurzelrest 17 wurden chirurgisch entfernt. Dabei entstand ein Nervschaden im Ausbreitungsgebiet des Nervus alveolaris inferior rechts. Es wurde ein postoperatives OPG gefertigt und der Klägerin wurde ein Antibiotikum verordnet. Die Verordnung des Antibiotikums wurde am 21.12.2018 wiederholt.
Am 24.12.2018 stellte sich die Klägerin beim Beklagten zur Entfernung der Fäden vor. Es wurde eine Wiedervorstellung in 10 Tagen vereinbart.
Am 03.01.2019 gab die Klägerin eine Missempfindung im Unterkiefer rechts an. Die subjektive Empfindung konnte vom Beklagten nach klinischer Untersuchung nicht objektiviert werden. Der Beklagte überprüfte mittels einer Sonde, ob die Klägerin zwischen spitz und stumpf unterscheiden konnte. Diese Empfindung war bei der Klägerin vorhanden. Der Klägerin wurde weiche Kost empfohlen.
Mit Schreiben vom 04.01.2019 erklärte der Beklagte, dass bei der Klägerin noch eine Parästhesie bestehe und die Regeneration noch dauere. Mit Schreiben vom 21.01.2019 konkretisierte er die Regenerationsdauer auf voraussichtlich ein halbes Jahr.
Am 14.01.2019 wurde ein weiteres OPG aufgenommen. Am 21.01.2019 wurde eine DVT-Aufnahme gefertigt. Es wurde ein weiterer Termin in zwei Wochen vereinbart, zu dem die Klägerin nicht mehr erschien.
Die Klägerin begab sich in der Folgezeit unter anderem in die Behandlung des Dr. G..
Mit anwaltlichem Schreiben vom 04.11.2019 forderte die Klägerin den Beklagten zur Zahlung auf. Die Haftpflichtversicherung des Beklagten lehnte mit Schreiben vom 17.01.2020 eine Haftung ab.
Die Klägerin behauptet, sie sei von dem Beklagten nicht ordnungsgemäß behandelt und aufgeklärt worden.
Es habe keine echte Aufklärung über die Risiken stattgefunden. Insbesondere habe der Beklagte nicht darauf hingewiesen, dass allenfalls eine relative Indikation vorgelegen habe. Bei einer relativen Indikation müsse der Arzt auch darauf hinweisen, dass ein Aufschieben oder Unterlassen der Operation möglich sei und auf ein bestehendes Misserfolgsrisiko besonders hinweisen. Diese besonderen Risikohinweise sowie der Hinweis auf die Möglichkeit des Unterbleibens der Operation hätten hier vollständig gefehlt, Insgesamt sei die Aufklärung verharmlosend gewesen.
Es müsse sogar davon ausgegangen werden, dass die Extraktion der Zähne fehlerhaft gewesen sei. Die Indikation zur Extraktion der Zähne 17 und 48 habe nämlich überhaupt nicht bestanden. Die intraoperative Durchführung der Operation sei ebenfalls fehlerhaft gewesen, da es zu einer Nervschädigung gekommen sei. Die Klägerin habe sofort nach der Operation verspürt, dass die Hälfte ihres Unterkiefers taub gewesen sei. Sie habe starke Kopfschmerzen gehabt und habe nur mit der Hälfte ihrer Lippe und Zunge Glas spüren können. Auf der rechten Seite sei dies nicht möglich gewesen. Auch die postoperative Nachsorge sei fehlerhaft gewesen. Die Klägerin habe lediglich Antibiotika erhalten. Die Blutung habe sich aber progredient fortgezogen. Ibuprofen habe nicht mehr geholfen. Beim Fädenziehen habe keine eingehende Untersuchung stattgefunden. Die Wunde sei offen gewesen. Der Beklagte sei sehr unfreundlich gewesen und habe die Klägerin beleidigt. Er habe keinerlei Nachsorgemaßnahmen ergriffen. Im Januar 2019 habe er auch keine gebotenen Maßnahmen ergriffen. Stattdessen habe er die Klägerin an die Notfallklinik des F. hospitals B. sowie ihren Hausarzt verwiesen. Bei der am 03.01.2019 durchgeführten Untersuchung sei der Beklagte nicht gründlich vorgegangen. Der Test sei sehr schnell gegangen. Die Klägerin habe mitgeteilt, dass es taub sei und sie nichts spüre. Der Beklagte habe lediglich gesagt, sie solle sich keine Gedanken machen.
Aufgrund der fehlerhaften Behandlung habe die Klägerin eine starke Nervhypästhesie mit starker Schmerzsausbildung und eine Osteomyelitis erlitten. Sie sei in ihrer Sprachartikulation stark eingeschränkt, sodass sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten könne. Wegen der starken Schmerzen könne sie auch ihren Haushalt nicht mehr führen. Es habe sich aufgrund der Behandlungsfehler ferner eine cranimandibuläre Dysfunktion eingestellt.
Die Klägerin ist daher der Ansicht, ihr stehe ein Schmerzensgeld von mindestens 30.000,00 € zu. Daneben habe sie einen Anspruch auf Erstattung ihres Verdienstausfallschadens, der bis zum 31.10.2019 18.278,30 € betragen habe, und auf einen Haushaltsführungsschaden, der bis zum 31.10.2019 5.246,00 € betragen habe. Wegen der Berechnung wird auf S. 11 – 14 der Klageschrift (Bl. 11-14 d.eA) verwiesen. Schließlich habe die Klägerin noch einen Anspruch auf Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.789,44 sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden, da sich der Schaden noch in der Entwicklung befinde.
Die Klägerin beantragt,
1 den Beklagten zu verurteilen, an sie ein dem gerichtlichen Ermessen unterstelltes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, das nach klägerischer Vorstellung den Betrag von 30.000,00 € nicht unterschreiten sollte, ferner vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.789,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,
2 den Beklagten zu verurteilen, an sie einen bis Ende Oktober 2019 bezifferten Verdienstausfallschaden in Höhe von 18.278,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
3 den Beklagten zu verurteilen, an sie einen bis Ende Oktober 2019 bereits bezifferten Haushaltsführungsschaden in Höhe von 5.246,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
4. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die auf der fehlerhaften zahnärztlichen Behandlung von Dezember 2018 bis Sommer 2019 beruhen. Dies gilt für materielle Ansprüche nur soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind und für immaterielle Ansprüche nur soweit diese derzeit noch nicht vorhersehbar sind.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte behauptet, es lägen keine Aufklärungs- oder Behandlungsfehler vor Die Aufklärung sei schriftlich und mündlich erfolgt. Der Umfang der Aufklärung sei ausreichend gewesen. Die Entfernung der Zähne 17, 38 und 48 sei indiziert gewesen. Dies sei auch deshalb so gewesen, weil der Eingriff in Intubationsnarkose habe stattfinden sollen. Vor diesem Hintergrund wäre es sogar fehlerhaft gewesen, die Zähne 17 und 48 nicht zu entfernen, da von diesen jederzeit eine Beschwerdeproblematik hätte ausgehen können.
Auch die Operation selbst sei lege artis gewesen. Eine Nervschädigung sei eine behandlungsimmanente Komplikation, die kein Indiz für ein Behandlungsfehler sei. Soweit die Klägerin behauptet, direkt nach der Operation eine Taubheit des Unterkiefers gespürt zu haben, liege das an der durchgeführten Anästhesie. Die Klägerin habe erstmalig am 03.01.2019 eine verbleibende Missempfindung geäußert. Auch die Nachsorge sei ordnungsgemäß gewesen. Es hätten weder eine Blutung noch andere Zeichen einer Entzündung bestanden. Der Beklagte habe die Klägerin eingehend untersucht. Auch aus den Nachbehandlungen lasse sich nicht auf einen Behandlungsfehler schließen.
Ein Kausalzusammenhang zwischen den behaupteten Beschwerden und der streitgegenständlichen Behandlung bestehe nicht. Ein Schmerzensgeld von 30.000 Euro sei übersetzt. Die Ausführungen zum Verdienstausfallschaden und zum Haushaltsführungsschaden werden allesamt mit Nichtwissen bestritten.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens durch den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. T., der dieses im Rahmen seiner mündlichen Anhörung erläutert hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 21.05.2021 sowie das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 03.12.2021 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Schmerzensgeld, materiellen Schadensersatz oder die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden aus den §§ 630a, 280 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 oder §§ 823 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB.
1.
Der Klägerin stehen diese Ansprüche nicht wegen eines Behandlungsfehlers zu.
Die Klägerin hat den ihr obliegenden Beweis, von dem Beklagten fehlerhaft behandelt und dadurch geschädigt worden zu sein, nicht erbracht.
Schadensersatz wegen eines Behandlungsfehlers kann von einem Arzt nur verlangt werden, wenn dieser die im konkreten Einzelfall anzuwendenden medizinischen Vorgaben nicht eingehalten und den Patienten dadurch geschädigt hat.
An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.
Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass die Klägerin dem im Zeitpunkt der Behandlung geltenden fachärztlichen Standard entsprechend behandelt wurde.
Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. T. stellte im Wesentlichen Folgendes fest:
a)
Es habe eine eindeutige therapeutische Indikation zur Entfernung des Zahns 38 bestanden. Der Zahn habe eine Dentitio diffizilis aufgewiesen, also eine Entzündung an der Zahnfleischkappe, die Schmerzen verursacht habe.
Für den Zahn 48 habe eine prophylaktische Indikation zur Entfernung bestanden, da dieser eine vergleichbare Situation wie der Zahn 38 aufgewiesen habe.
Die Entfernung des Zahnes 48 falle unter die leitliniengerechten Indikationen zur Weisheitszahnentfernung nach der Leitlinie AWMF Weisheitszahnentfernung 007-003 aus Dezember 2012, die bis 2019 gültig gewesen sei Dort heiße es: „Indikation ist gegeben, wenn andere Maßnahmen unter Narkose vorgenommen würden und eine erneute Narkose zur Entfernung eines Weisheitszahnes durchgeführt werden müsste.“ Die seit 2019 geltende Leitlinie sehe nur noch eine Kann-Empfehlung vor.
Die Entfernung sei aber angeraten gewesen, da die Klägerin für die Entfernung des symptomatischen Zahns 38 eine Vollnarkose gewünscht habe. Eine Narkose sei mit einem Letalitätsrisiko von 1:5000 verbunden. Wenn man den Aufwand einer Vollnarkose betreibe, sollten alle potenziellen Störstellen des Mundes entfernt werden, um nicht nach wenigen Monaten erneut eine Vollnarkose mit entsprechendem Narkoserisiko für die Patienten machen zu müssen. Dabei sei auch die Kostenfrage für eine erneute Narkose zu berücksichtigen. Der Zahn 48 sei von seiner Lage im Kiefer gleich zu sehen wie Zahn 38 und habe ebenso wie dieser der Gefahr einer Dentitio difficillis unterlegen, wie sie bei Zahn 38 bereits aufgetreten sei. Zudem habe Zahn 48 im Röntgenbefund eine Osteolyse mit Freiliegen der distalen Wurzel des Zahnes 47 gezeigt. Dies sei eine reale Bedrohung für den gesunden Zahn 47, die sich im weiteren Verlauf auch verwirklich habe, da der Zahn 47 später habe extrahiert werden müssen.
Die Indikation des Zahnes 48 war daher wegen radiologischer Symptome und der Vollnarkose gegeben.
Die Indikation zur Entfernung des zerstörten Zahnes 17 stehe nicht zur Diskussion. Diese sei überfällig gewesen.
b)
Die Klägerin leide heute unter einem chronischen Schmerzsyndrom, erklärbar als neuropathischer Schmerz durch intraoperative Verletzung und nachfolgende Entzündung und Vernarbung des Nervus alveolaris inferior.
Der Nerv sei ausweislich der Dokumentation des Beklagten vom 03.01.2019 immer nur teilweise taub gewesen. Der Teilausfall sei dafür beweisend, dass die intraoperative Dokumentation „Nerv erhalten“ korrekt sei. Der Nerv habe postoperativ Kontinuität und eine teilweise Leitfähigkeit gehabt. Er habe sich in seiner sensiblen Qualität weitgehend erholt. Objektive Restzustände bestünden weiterhin in der kaum vorhandenen Schmerzempfindlichkeit des unteren Zahnfleisches, der verzögerten Kälteresektion der rechten unteren Zähne und der verminderten Feinsensibilität der Lippe und des Kinns.
Nervverletzungen kämen bei Entfernungen der unteren Weisheitszähne in einer Häufigkeit von 03-8,4 Prozent nach der internationalen Literatur vor. Selten komme es bei Verletzungen des Unterkieferalveolarfortsatznerven zusätzlich zu neuropathischen Schmerzen wie. Z.B. durch Vernarbungen im Nerv, die ein Schmerzsyndrom auslösten, wie es bei der Klägerin heute vorliege. Insgesamt sei von einer intraoperativen Nervverletzung auszugehen, die sich möglicherweise durch eine nachfolgende bakteriell bedingte Neuritis in einer schlecht heilenden Weisheitszahnwunde verschlimmert habe.
Um die Gefahr der Verletzung des Alevolarfortsatznervs zu reduzieren, sei generell die geteilte Entfernung eines Weisheitszahns in Nervnähe indiziert. Ob diese intraoperativ durchgeführt worden sei, könne in Ermangelung eines OP-Berichts nicht gesagt werden. In Bezug auf die Frage der Notwendigkeit der Erstellung eines Operationsberichts habe ein Wandel stattgefunden. Die ältere Generation der MKG-Chirurgen beschränke sich auf einen entsprechenden Eintrag in der Karteikarte, Dem liege zugrunde, dass eine Weisheitszahnentfernung kein besonders schwieriger oder komplexer kieferchirurgischer Eingriff sei. Er laufe im Regelfall immer gleich ab. Jüngere MKG-Chirurgen schrieben aber einen gesonderten Operationsbericht, was auf ihre Ausbildung im Krankenhaus zurückführbar sei.
Allerdings berichte der Beklagte in der Behandlungsakte von einer Neurolyse des Nervus alveolaris inferior rechts. Das bedeute, dass er intraoperativ den Nerven aus seinem knöchernen Bett herausgelöst habe, was eine schrittweise geordnete Präparation mit Trennung des Zahnes impliziere. Durch dieses Manöver habe der Beklagte ausweislich der Behandlungsakte makroskopisch die Kontinuität der Nerven erhalten können. Daraus sei ein sorgfältiges Vorgehen erkennbar. In einem Operationsbericht würde dies sicher ausführlicher beschrieben werden. Im ambulanten Bereich sehe dies aber anders aus.
Allein dieses Manöver könne auch bei absolut schonender und fachgerechter Durchführung bereits die Beschwerden der Klägerin erklären, da der Nerv sehr empfindlich sei.
Eine präoperative 3-D-Bildgebung bzw. eine DVT-Untersuchung sei durch den Beklagten nicht erfolgt. Auf der vorliegenden zweidimensionalen Darstellung sei der Unterkiefernervkanal auf beiden Seiten nur schwach erkennbar. Für den Zahn 48 sei eine teilweise Verdeckung des Nervkanals durch den Zahn sichtbar, die einen interradikulären Nervverlauf zwischen den Wurzeln des Weisheitszahns nahelege. Der Beklagte habe offenbar präoperativ keine dreidimensionale Darstellung der Nerven (Computertomographie) angefordert und dies ausweislich der Behandlungsakte nicht mit der Klägerin diskutiert. Dieses Vorgehen sei als riskant einzustufen und es mache den Eindruck als sei der Beklagte erst intraoperativ mit dem komplizierten Nervverlauf regio 48 im Gegensatz zu 38 konfrontiert worden. Ein präoperatives DVT sei aber nicht erforderlich gewesen, sodass darin kein Fehler zu sehen sei. Das beruhe darauf, dass die Leitlinien auch in ihrer aktuellen Fassung keine zwingende Vorgabe dahingehend machen, dass vor der Entfernung eines Weisheitszahns ein DVT anzufertigen sei. Es sei eine Kann-Bestimmung.
Dies beruhe darauf, dass es nach wie vor keine wissenschaftliche Literatur dahingehend gebe, dass es nach einer DVT-Untersuchung weniger Schäden gebe, als bei einer Weisheitszahnentfernung ohne vorheriges DVT. Schon das OPG mache hier klar, dass der Weisheitszahn (vermutlich) nur nach einer Neurolyse bzw. nach einer Zerteilung des Zahnes selbst würde entfernt werden können. Das aber sei ein Vorgehen, das einem erfahrenen MKG-Chirurgen ohnehin geläufig sei. Er habe, wenn er zu einer Zeit ausgebildet worden sei, zu der es noch keine DVT-Untersuchung gegeben habe, Techniken dafür entwickelt, die auch in diesen Fällen eine Weisheitszahnentfernung ohne dauerhafte Beschädigung des Nervs gelingen kann. Dies sei dem Beklagten hier ebenfalls gelungen.
Es komme hinzu, dass eine DVT-Untersuchung keine Kassenleistung sei. Sie müsse dem Patienten angeboten und selbst bezahlt werden, Etwas anders würde gelten, wenn eine CT-Untersuchung durchgeführt werden solle. Insoweit sei aber eine Überweisung an einen Radiologen erforderlich, die einen erheblichen zeitlichen Vorlauf benötige.
Es hätte sich am operativen Vorgehen ohnehin nichts geändert, wenn der Beklagte zuvor eine DVT-Untersuchung gemacht hätte. Das präoperative OPG lasse eine nervnahe Lage erkennen. Die zweidimensionale Darstellung lasse aber nicht erkennen, ob der Nerv vor, hinter oder zwischen den Wurzeln verlaufe. Dies könne ein MKG-Chirurg aber auch intraoperativ herausfinden, wenn er vorsichtig vorgehe und insbesondere eine Neurolyse durchführe.
Wenn im schriftlichen Gutachten davon die Rede sei, dass das Unterlassen einer DVT-Untersuchung als riskant und (persönlich) fehlerhaft sei, beruhe das darauf, dass der Sachverständige selbst eine solche Untersuchung durchgeführt hätte. Die Fachöffentlichkeit formuliere aber nur eine Kann-Bestimmung. Im OPG sei keine intraradikuläre Lage der Nerven zu erkennen. Die Entfernung der Zähne sehe daher nicht „so schwierig“ aus, sodass im schriftlichen Gutachten etwas zu harte Anforderungen aufgestellt worden seien. Auch habe es bei der Klägerin keine Besonderheiten in ihrem konkreten Krankheits- und Beschwerdebild gegeben, die eine DVT-Untersuchung erforderlich gemacht hätten. Der Fall der Klägerin sei wegen ihres Alters und der Lage des Zahns ein „schwieriger Weisheitszahn“ gewesen. Die Leitlinien sähen aber dennoch ausnahmslos eine Kann-Bestimmung für die präoperative DVT-Untersuchung vor. Auch im konkreten Fall sei kein Umstand zu sehen, der in Abweichung von den Leitlinien eine DVT-Untersuchung zwingen erforderlich mache.
Ein fehlerhaftes Vorgehen des Beklagten lasse sich auch nicht aus den Nachbehandlungen erkennen. Es spreche vielmehr dafür, dass der Nerv in seiner Kontinuität erhalten geblieben sei. Eine Neurolyse, so wie sie hier dokumentiert sei, beinhalte, dass der Nerv jedenfalls optisch bzw. makroskopisch in seiner Kontinuität erhalten worden sei. Dazu würden auch die postoperativen Befunde, die eine Teilausfall oder eine Hypästhesie beschrieben, passen. Eine Durchtrennung der Nerven sei daher nicht gegeben.
Es sei daher davon auszugehen, dass die Zahnentfernung lege artis erfolgt sei.
c)
Die Taubheit des Nervs sei vom Beklagten nach Aussage der Klägerin erstmalig am 03.01.2019 untersucht worden. Dies sei auch insoweit verständlich als bei der Klägerin nach ihrer Aussage in der Anfangszeit Nachblutungen und eine starke Schwellung und Schmerzen auf beiden Seiten und nicht die Taubheit im Vordergrund gestanden hätten. Der Beklagte habe versucht durch mehrere Antibiotikagaben und ein Antikonvulsium zu behandeln. Auf die eindeutig vorliegende Verletzung des Unterkiefernervs sei der Beklagte beschwichtigend eingegangen und habe die Klägerin angeblich damit vertröstet, dass nach 6 Monaten eine Erholung zu erwarten sei. Diese Erholung sei bisher nicht eingetreten und es sei ein Schmerzsyndrom hinzugekommen. Die Hoffnung des Beklagten auf reizlose Abheilung habe sich nicht bestätigt.
Zum damaligen Zeitpunkt habe keine vollständige Taubheit des Nervs vorgelegen. In diesem Fall hätte der Beklagte die Klägerin an eine kieferchirurgische Fachklinik zur operativen Revision des Nerven überweisen müssen oder eine solche Operation anbieten müssen. Der Erfolg einer operativen Nervrevision werde in der Literatur aber ohnehin kontrovers gesehen. Aus sachverständiger Sicht habe der Beklagte mit dem abwartenden Verhalten damals richtig gehandelt.
In retrospektiver Sicht habe sich die Nervfunktion in der Folgezeit durch die Wundheilungsstörung regio 48 möglicherweise durch eine bakterielle Neuritis des Nervs in der schlecht heilenden Weisheitszahnwunde verschlechtert. Auch ohne Revisionsoperation wäre es sinnvoll gewesen, mit der Gefühlsstörung offen umzugehen und allein schon zur Absicherung des Befundes die Klägerin an eine übergeordnete Stelle zu überweisen, was nicht geschehen sei.
Die Verordnung eines Kortisonpräparats, wie es in der Praxis Dr. G. erfolgt sei, könne vom Beklagten nicht zwingend verlangt werden. Die Wirkung von Kortison werde kontrovers gesehen.
Die Nervbeeinträchtigungen seien wegen der zusätzlichen Leitungsanästhesie, die die Klägerin bekommen habe, ohnehin erst 24 Stunden nach der OP, also nach Abklingen der Anästhesie zu beurteilen. Dass unmittelbar nach dem Aufwaschen aus der Intubationsnarkose Beschwerden angegeben worden seien, sei für die medizinische Beurteilung daher ohne Bedeutung.
Der übliche Behandlungsverlauf in einer ambulanten Praxis sei derjenige, dass die Patienten nach der Entfernung des Weisheitszahnes nach etwa einer Woche zur Entfernung der Fäden wieder einbestellt würden. Das sei also der Zeitpunkt, wo der ambulant niedergelassene Arzt üblicherweise das erste Mal Nervbeeinträchtigungen geschildert bekomme. Seine Reaktion sei dann von dem Ausmaß der Beschwerden abhängig. Werde ein Taubheitsgefühl mit Kribbeln und Sensibilitätsstörungen berichtet, spreche das für einen Teilausfall, der zunächst ein abwartendes Verhalten rechtfertige. Kribbeln bedeute, dass der Nerv sich in der Regeneration befinde. Werde demgegenüber eine Symptomatik geschildert, die einen Vollausfall darstellen könne, also etwa infolge der Durchtrennung des Nervs, sei eine weitere Abklärung und ggf. die Vorstellung des Patienten in einem Universitätsklinikum oder einer entsprechend ausgestatteten Klinik angezeigt, um den Nerv operativ behandeln zu können.
Im Falle der Klägerin fehle aber jeder Anhaltspunkt dafür, dass es zu einer vollständigen Durchtrennung gekommen sei.
Letztlich sei davon auszugehen, dass die Beschwerden der Klägerin Ausdruck eines chronifizierten Schmerzsyndroms seien.
Aus der Nachbehandlung und der Wundkontrolle ergäben sich daher keine Behandlungsfehler.
d)
Die Kammer folgt den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. T., an dessen Sachkunde nicht zu zweifeln ist. Prof. Dr. Dr. T., Chefarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der … N., hat seinem Gutachten alle vorhandenen Behandlungsunterlagen zu Grunde gelegt und die Klägerin persönlich untersucht. Aus den so vollständig ermittelten Befund- und Anknüpfungstatsachen hat er unter verständiger Darlegung der medizinischen Vorgaben in jeder Hinsicht widerspruchsfreie und nachvollziehbare Schlussfolgerungen gezogen.
Die Klägerin ist damit beweisfällig geblieben.
2.
Der Klägerin stehen diese Ansprüche auch nicht wegen eines Aufklärungsversäumnisses zu, da sie ordnungsgemäß aufgeklärt wurde.
Jeder ärztliche Eingriff bedarf gemäß § 630d Abs. 1 S. 1 BGB der Einwilligung des Patienten. Die Einwilligung ist gemäß § 630d Abs. 2 BGB nur wirksam und schließt die Rechtswidrigkeit des körperlichen Eingriffs nur dann aus, wenn der Patient ordnungsgemäß gemäß § 630e BGB aufgeklärt worden ist, also das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite der ärztlichen Behandlung in ihren Grundzügen erkannt hat. Zum Inhalt der Aufklärung gemäß § 630e BGB verlangt die Rechtsprechung, dass der Patient über den Verlauf des Eingriffs, die Erfolgsaussichten, seine Risiken und mögliche echte Behandlungsalternativen mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen Risiken und Gefahren im Großen und Ganzen informiert wird (vgl. BGHZ 90, 103; BGH, VersR 2010, 1220; OLG Naumburg, NJW 2010, 1758). Der Behandelnde hat zu beweisen, dass er eine Einwilligung eingeholt und den Anforderungen entsprechend aufgeklärt hat (vgl. jetzt § 630h Abs. 2 S. 1 BGB). Die Existenz einer vom Patienten unterzeichneten Einwilligungserklärung hat indizielle Bedeutung für ein mündliches Aufklärungsgespräch und kann ein Hinweis auf dessen Inhalt sein (vgl. BGH, Urteil vom 22.05.2001 – VI ZR 268/00 –, juris; BGH, Urteil vom 08.01.1985 – VI ZR 15/83 – , Rn. 12, juris). Da an den vom Arzt zu führenden Nachweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine unbilligen oder übertriebenen Anforderungen zu stellen sind, darf das Gericht seine Überzeugungsbildung gemäß § 286 ZPO auf die Angaben des Arztes über eine erfolgte Risikoaufklärung stützen, wenn seine Darstellung in sich schlüssig und „einiger“ Beweis für ein Aufklärungsgespräch erbracht ist. Dies gilt auch dann, wenn der Arzt erklärt, ihm sei das strittige Aufklärungsgespräch nicht im Gedächtnis geblieben. Einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Tatsache, dass ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat, gibt dabei das von dem Arzt und dem Patienten unterzeichnete Formular, mit dem der Patient sein Einverständnis zu dem ärztlichen Eingriff gegeben hat. Dieses Formular ist – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht – zugleich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs (BGH, Urteil vom 28.01.2014 – VI ZR 143/13 –, Rn. 13 m.w.N., juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Es liegt eine von der Klägerin unterschriebene Einverständniserklärung vor, aus der ausdrücklich der Hinweis auf das Risiko einer Nervschädigung hervorgeht. Die damit einhergehende Indizwirkung in Bezug auf die Risikoaufklärung hat die Klägerin nicht entkräften können. Die unsubstantiierte Behauptung, es habe nur eine unzureichende Risikoaufklärung stattgefunden genügt dafür nicht. Insbesondere spricht die handschriftliche Eintragung des Risikos der Nervenschäden dafür, dass darüber ausführlich gesprochen wurde.
Soweit die Klägerin rügt, nicht über eine relative Indikation aufgeklärt worden zu sein, führt dies ebenfalls nicht zu einem Aufklärungsversäumnis, da die Entfernung der Zähne indiziert war. Dies folgt aus den auch insoweit überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen, denen die Kammer folgt.
II.
Da der Anspruch dem Grunde nach schon nicht besteht, hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten oder die Zahlung von Zinsen.
III.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 und S. 2 ZPO.