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Geburtsschädigung durch groben CTG-Fehler: Frauenärztin haftet dem Grunde nach – Rückgriffsansprüche der Krankenkasse bestätigt

Ein übersehener Warnhinweis bei einer Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung führte zu dramatischen Geburtsschädigungen bei einem ungeborenen Kind. Nun fordern Krankenkassen von der verantwortlichen Frauenärztin Schadenersatz für dessen lebenslange Pflege. Übernimmt sie wirklich die volle Verantwortung für diese immense finanzielle Belastung?

Zum vorliegenden Urteil Az.: 33 O 545/14 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Glossar  | Kontakt

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: LG Kempten
  • Datum: 10.03.2022
  • Aktenzeichen: 33 O 545/14
  • Verfahren: Klageverfahren
  • Rechtsbereiche: Arzthaftungsrecht, Sozialversicherungsrecht

Beteiligte Parteien:

  • Kläger: Eine gesetzliche Krankenversicherung und eine Pflegeversicherung, die als Rechtsnachfolger eines schwer geschädigten Kindes Rückgriffsansprüche gegen die beklagte Ärztin geltend machen.
  • Beklagte: Eine Frauenärztin, die die Schwangerschaft der Mutter des Kindes betreut hat und der Behandlungsfehler vorgeworfen werden.

Worum ging es genau?

  • Sachverhalt: Die Klägerinnen machen Regressansprüche gegen die beklagte Frauenärztin geltend, da sie der Ansicht sind, dass grobe Behandlungsfehler während der Schwangerschaftsbetreuung zu einer schweren Geburtsschädigung des Kindes geführt haben.

Welche Rechtsfrage war entscheidend?

  • Kernfrage: Bestand aufgrund der Schwangerschaftsbetreuung durch die Frauenärztin ein grober ärztlicher Behandlungsfehler, der ursächlich für die schwere Geburtsschädigung des Kindes war und somit Rückgriffsansprüche der Krankenkassen begründet?

Wie hat das Gericht entschieden?

  • Haftung dem Grunde nach festgestellt: Das Gericht stellte fest, dass die beklagte Frauenärztin dem Grunde nach für die entstandenen und zukünftigen Schäden haftet. Die Höhe des Schadens wurde noch nicht abschließend festgelegt.
  • Kernaussagen der Begründung:
    • Fehlerhafte CTG-Beurteilung und Durchführung: Die Frauenärztin beurteilte und führte ein CTG am 24.05.2005 nicht nach wissenschaftlichem Standard durch; es war zu kurz und zeigte suspekte Anzeichen, die weitere Maßnahmen erfordert hätten.
    • Grob fahrlässiger Befunderhebungsfehler: Das Gericht stufte das Abbrechen der CTG-Aufzeichnung bei suspektem Befund als groben Befunderhebungsfehler ein, da medizinisch notwendige Befunde nicht ausreichend erhoben wurden und dies einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.
    • Kausalität vermutet: Aufgrund des groben Behandlungsfehlers wird gemäß § 630h Abs. 5 S. 1 BGB vermutet, dass dieser ursächlich für die schwere Schädigung des Kindes war, da weiterführende Maßnahmen den Schaden hätten vermeiden können.
  • Folgen für die Klägerin/den Kläger:
    • Die Kranken- und Pflegeversicherung haben dem Grunde nach einen Anspruch auf Ersatz der bereits entstandenen und zukünftigen Aufwendungen durch die beklagte Frauenärztin.
    • Die genaue Höhe der zu zahlenden Beträge wird in einer späteren Entscheidung festgelegt.

Der Fall vor Gericht


Was passiert, wenn bei einer Routineuntersuchung in der Schwangerschaft ein entscheidender Hinweis übersehen wird?

Stellen Sie sich eine werdende Mutter vor, die regelmäßig zu ihrer Frauenärztin geht. Sie vertraut darauf, dass alles Nötige getan wird, um die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes zu überwachen. Doch was geschieht, wenn eine Untersuchung nicht sorgfältig genug durchgeführt wird und dies möglicherweise katastrophale Folgen hat? Ein Urteil des Landgerichts Kempten beleuchtet genau solch einen Fall, in dem es um die schwere Geburtsschädigung eines Kindes und die Verantwortung einer Ärztin ging.

Wie wurde aus einer unkomplizierten Schwangerschaft ein medizinischer Notfall?

Eine Krankenpflegerin betreut eine Patientin nach Geburtsschädigung und ärztlichem Behandlungsfehler.
Im Fokus: Schwangerschaftskomplikationen und die Frage der medizinischen Haftung – eine komplexe juristische Gratwanderung. | Symbolbild: KI-generiertes Bild

Die Geschichte beginnt mit der Schwangerschaft von Frau M. Ihre Frauenärztin, die Beklagte in diesem Fall, betreute sie während dieser Zeit. Der errechnete Geburtstermin war der 9. Juni 2005. Alles schien weitgehend normal zu verlaufen.

Der Wendepunkt ereignete sich am 24. Mai 2005, in der 38. Schwangerschaftswoche. Frau M. hatte einen regulären Vorsorgetermin bei ihrer Ärztin. Dabei wurde ein sogenanntes Kardiotokogramm, kurz CTG, geschrieben. Das ist die Untersuchung, bei der die Herztöne des Babys und die Wehen der Mutter aufgezeichnet werden, um das Wohlbefinden des Kindes zu überprüfen. Das CTG lief für etwa 20 Minuten. Die Ärztin bewertete das Ergebnis als unauffällig und unternahm keine weiteren Schritte.

Wenige Tage später, ab dem 28. Mai, bemerkte Frau M., dass sich ihr Baby weniger bewegte. Am 31. Mai suchte sie deshalb erneut die Praxis auf. Dort wurde wieder ein CTG angelegt. Diesmal war das Ergebnis alarmierend. Die Ärztin erkannte sofort den Ernst der Lage, sprach von der Notwendigkeit eines sofortigen Kaiserschnitts (einer Notsectio) und rief einen Notarzt, um Frau M. ins Krankenhaus zu bringen.

Im Krankenhaus wurde der kleine Aaron per Notkaiserschnitt entbunden. Die Situation war dramatisch: Das Fruchtwasser war braun verfärbt, ein Zeichen für Stress beim Kind. Die Nabelschnur hatte sich um Schulter und Rücken des Babys geschlungen. Aaron war bei der Geburt schlaff, blau und atmete nicht. Er musste sofort wiederbelebt werden. Die Ärzte stellten eine schwere Sauerstoffunterversorgung fest, die zu einer massiven Hirnschädigung führte. Heute leidet Aaron unter anderem an schwersten körperlichen Behinderungen, ist blind, hörgeschädigt und benötigt rund um die Uhr Pflege.

Warum verklagten die Krankenkassen die Frauenärztin und nicht die Eltern?

Nach einem solchen Ereignis entstehen enorme Kosten für die medizinische Behandlung und die lebenslange Pflege des Kindes. Diese Kosten werden zunächst von der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung getragen. In diesem Fall klagten also die Krankenkasse und die Pflegeversicherung des kleinen Aaron gegen die Frauenärztin.

Aber warum tun sie das? Das Gesetz sieht hier einen sogenannten Rückgriffsanspruch vor (geregelt in § 116 des Sozialgesetzbuches X). Das bedeutet: Wenn eine Versicherung für Kosten aufkommen muss, die eigentlich eine andere Person schuldhaft verursacht hat, kann sie sich das Geld von diesem Verursacher zurückholen. Die Schadensersatzansprüche, die das Kind und seine Eltern gegen die Ärztin hätten, gehen also quasi auf die Versicherungen über. Die Kassen forderten die bisher entstandenen Kosten von über 200.000 Euro zurück und wollten feststellen lassen, dass die Ärztin auch für alle zukünftigen Kosten aufkommen muss.

Worin bestand der entscheidende Vorwurf gegen die Frauenärztin?

Der Kern des Rechtsstreits drehte sich um die eine Untersuchung am 24. Mai 2005 – also eine Woche vor der dramatischen Geburt. Die Versicherungen argumentierten: Das damals aufgezeichnete CTG war keineswegs unauffällig, wie von der Ärztin behauptet. Es sei zumindest suspekt gewesen, also verdächtig. Die aufgezeichneten Muster der kindlichen Herztöne hätten auf eine mögliche Komplikation mit der Nabelschnur hindeuten können.

Aus diesem Verdacht, so die Klägerinnen, hätte die Ärztin zwingend handeln müssen. Sie hätte die Untersuchung verlängern, sofort weitere Tests durchführen oder Frau M. zur engmaschigen Überwachung ins Krankenhaus einweisen müssen. Indem sie nichts davon tat, habe sie nicht nach den anerkannten medizinischen Standards gehandelt. Dieser Fehler sei so fundamental, dass er als Grober Behandlungsfehler zu werten ist. Ein grober Behandlungsfehler ist mehr als ein einfaches Versehen; es ist ein Fehler, der einem Arzt aus objektiver Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf, weil er gegen absolut grundlegende und bewährte medizinische Regeln verstößt.

Die Ärztin wehrte sich gegen diese Vorwürfe. Sie behauptete, das CTG sei nicht verdächtig gewesen. Und selbst wenn, sei es vertretbar gewesen, abzuwarten. Sollte sie sich doch geirrt haben, sei dies höchstens ein entschuldbarer Diagnoseirrtum gewesen, aber kein Behandlungsfehler. Diese Unterscheidung ist juristisch sehr wichtig, wie wir gleich sehen werden.

Wie hat das Gericht entschieden – und was bedeutet „dem Grunde nach gerechtfertigt“?

Das Landgericht Kempten gab den klagenden Versicherungen Recht. Es fällte ein sogenanntes Grundurteil. Das bedeutet, das Gericht entschied zunächst nur über die grundlegende Frage: Ist die Ärztin für den Schaden verantwortlich, also haftet sie „dem Grunde nach“? Die genaue Höhe des Schadensersatzes wird erst in einem späteren Schritt festgelegt.

Das Gericht stellte fest, dass die Ärztin verpflichtet ist, den Versicherungen alle Kosten zu erstatten, die durch die fehlerhafte Behandlung in der Vergangenheit entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden. Im Wesentlichen sagte das Gericht also: Ja, die Ärztin hat einen schweren Fehler gemacht und muss dafür geradestehen.

Warum sah das Gericht einen „groben Behandlungsfehler“ und nicht nur einen entschuldbaren Irrtum?

Um zu dieser Entscheidung zu kommen, hörte das Gericht medizinische Sachverständige an. Deren Analyse war für das Urteil entscheidend. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass die Ärztin am 24. Mai 2005 mehrere Fehler gemacht hat.

Der entscheidende Punkt war die Unterscheidung zwischen einem einfachen Diagnoseirrtum und einem schwerwiegenderen Fehler. Um das zu verstehen, hilft ein Alltagsvergleich:
Stellen Sie sich einen Automechaniker vor. Wenn er den Motor abhört, die Geräusche falsch deutet und sagt „Der Keilriemen ist kaputt“, obwohl es die Zündkerzen sind, ist das ein Diagnoseirrtum. Er hat die vorhandenen Informationen falsch interpretiert. Wenn er aber gar nicht erst die Motorhaube öffnet, um nachzusehen, obwohl das Auto komische Geräusche macht, dann ist das ein Befunderhebungsfehler. Er hat die notwendigen Informationen, um eine sichere Diagnose zu stellen, gar nicht erst gesammelt.

Genau das warf das Gericht der Ärztin vor. Ihr Fehler war nicht nur, das CTG falsch zu deuten. Der eigentliche Fehler war, die Untersuchung viel zu früh abzubrechen. Die Sachverständigen stellten klar:

  • Die Dauer war zu kurz: Eine CTG-Untersuchung sollte mindestens 30 Minuten dauern, um verlässlich zu sein. Die Aufzeichnung lief aber nur rund 20 Minuten.
  • Das Muster war verdächtig: Die Herztöne des Babys zeigten ein sogenanntes „saltatorisches Muster“. Das sind sehr starke Schwankungen, die ein bekanntes Warnsignal für eine mögliche Nabelschnurkomplikation sind.
  • Die Reaktion war falsch: Bei einem solch verdächtigen Muster hätte die Ärztin die Untersuchung fortsetzen und weitere Kontrollen anordnen müssen. Stattdessen beendete sie die Untersuchung und schickte die Patientin ohne weitere Maßnahmen nach Hause.

Das Gericht wertete dies nicht als Diagnoseirrtum, sondern als groben Befunderhebungsfehler. Die Ärztin hatte es versäumt, die medizinisch notwendigen Grundlagen für eine sichere Beurteilung zu schaffen. Dieser Fehler war nach Ansicht des Gerichts so schwerwiegend, dass er als „grob“ eingestuft wurde, also als ein Fehler, der einfach nicht passieren darf.

Was bedeutet die „Beweislastumkehr“ und warum war sie hier entscheidend?

Normalerweise gilt im Zivilrecht: Wer einen Anspruch geltend macht, muss alles beweisen – den Fehler, den Schaden und den Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden. Im Arzthaftungsrecht ist das für Patienten oft sehr schwierig.

Bei einem groben Behandlungsfehler gibt es jedoch eine entscheidende Ausnahme: die sogenannte Beweislastumkehr (§ 630h Bürgerliches Gesetzbuch). Das bedeutet, das Gericht geht davon aus, dass der grobe Fehler den Schaden auch verursacht hat. Jetzt muss nicht mehr der Patient (bzw. hier die Krankenkasse) den Zusammenhang beweisen. Stattdessen muss die Ärztin beweisen, dass ihr Fehler den Schaden nicht verursacht hat oder dass der Schaden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei korrektem Handeln eingetreten wäre.

Da die Sachverständigen bestätigten, dass der Fehler der Ärztin generell geeignet war, die schwere Hirnschädigung zu verursachen – denn eine rechtzeitige Geburtseinleitung hätte sie verhindern können –, griff diese Beweislastumkehr. Die Ärztin konnte diesen Gegenbeweis nicht erbringen. Deshalb wurde sie vom Gericht für den entstandenen Schaden voll verantwortlich gemacht.



Die Schlüsselerkenntnisse

Das Urteil des Landgerichts Kempten verdeutlicht, wie entscheidend die korrekte Durchführung und Bewertung medizinischer Untersuchungen für die Haftung von Ärzten ist.

  • Unterscheidung zwischen Diagnose- und Befunderhebungsfehlern: Das Gericht stellte klar, dass nicht die falsche Interpretation eines medizinischen Befundes, sondern das Versäumnis, überhaupt ausreichende diagnostische Grundlagen zu schaffen, den schwerwiegenderen Fehler darstellt. Die zu kurze CTG-Dauer und das Ignorieren verdächtiger Muster wurden als Grober Befunderhebungsfehler gewertet, der über einen entschuldbaren Diagnoseirrtum hinausgeht.
  • Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern: Das Urteil bestätigt die zentrale Bedeutung der Beweislastumkehr nach § 630h BGB. Sobald ein grober Behandlungsfehler festgestellt wird, muss nicht mehr der Geschädigte den Kausalzusammenhang beweisen, sondern der Arzt muss darlegen, dass sein Fehler den Schaden nicht verursacht hat.
  • Rückgriffsrechte der Sozialversicherungen: Die Entscheidung zeigt, dass bei ärztlichen Behandlungsfehlern nicht nur die direkten Geschädigten Ansprüche geltend machen können, sondern auch die Kranken- und Pflegeversicherungen ihre Leistungen nach § 116 SGB X von dem haftenden Arzt zurückfordern können.

Dieses Urteil unterstreicht die weitreichenden finanziellen Konsequenzen, die ärztliche Sorgfaltspflichtverletzungen nach sich ziehen können, und die Schutzfunktion der verschärften Beweislastregeln im Arzthaftungsrecht.


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Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Was unterscheidet einen Diagnoseirrtum von einem Befunderhebungsfehler im Medizinrecht?

Ein Diagnoseirrtum ist die falsche Deutung bereits vorliegender medizinischer Informationen, während ein Befunderhebungsfehler darin besteht, notwendige medizinische Daten erst gar nicht oder unzureichend zu sammeln. Das bedeutet, bei einem Diagnoseirrtum wurden zwar alle relevanten Informationen erhoben, sie wurden jedoch vom Arzt falsch bewertet oder interpretiert.

Ein Befunderhebungsfehler liegt hingegen vor, wenn ein Arzt es versäumt, überhaupt erst die für eine sichere Diagnose notwendigen Informationen zu erheben. Dazu gehört beispielsweise, wichtige Untersuchungen nicht durchzuführen, Tests zu früh abzubrechen oder erhobene Befunde nicht ausreichend zu sichern.

Zur Verdeutlichung dient ein Vergleich mit einem Automechaniker: Deutet er die Geräusche des Motors falsch, ist das ein Diagnoseirrtum. Öffnet er die Motorhaube gar nicht erst, um nachzusehen, obwohl das Auto ungewöhnliche Geräusche macht, handelt es sich um einen Befunderhebungsfehler.

Für Patienten ist die Unterscheidung juristisch sehr wichtig, da ein grober Befunderhebungsfehler oft eine Beweislastumkehr zur Folge hat. Das bedeutet, nicht der Patient muss den Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem eingetretenen Schaden beweisen, sondern der Arzt muss beweisen, dass sein Fehler den Schaden nicht verursacht hat.


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Welche rechtlichen Konsequenzen hat ein grober Behandlungsfehler für Ärzte?

Ein grober Behandlungsfehler hat für Ärzte weitreichende rechtliche Folgen, insbesondere die Pflicht zu umfassendem Schadensersatz und eine erhebliche Beweislastumkehr zugunsten des Patienten. Ein solcher Fehler liegt vor, wenn ein Arzt objektiv gegen grundlegende medizinische Regeln verstößt und dieser Fehler ihm schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Die Hauptfolge ist die Pflicht des Arztes, dem Patienten oder dessen Krankenversicherung Schadensersatz zu leisten. Dieser Schadensersatz kann sowohl materielle Schäden wie Kosten für Heilbehandlungen, Pflege oder Verdienstausfall abdecken als auch immaterielle Schäden wie Schmerzensgeld. Im Fall des Landgerichts Kempten musste die Ärztin für alle bisherigen und zukünftigen Kosten einer schweren Geburtsschädigung aufkommen, die von den Krankenkassen vorgestreckt wurden.

Die wichtigste juristische Konsequenz ist jedoch die sogenannte Beweislastumkehr. Normalerweise muss der Patient beweisen, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat und dieser Fehler den Schaden verursacht hat. Bei einem groben Behandlungsfehler dreht sich dies um: Das Gericht nimmt dann an, dass der Fehler den Schaden verursacht hat. Die Ärztin muss nun beweisen, dass der Schaden auch ohne ihren Fehler eingetreten wäre. Dies stärkt die Position des Patienten erheblich.

Ein grober Behandlungsfehler verändert somit die Ausgangslage in einem Haftungsprozess drastisch zu Ungunsten des behandelnden Arztes.


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Was bedeutet die Beweislastumkehr im Arzthaftungsrecht und wann kommt sie zur Anwendung?

Die Beweislastumkehr im Arzthaftungsrecht ist eine wichtige Ausnahme, die dem Patienten hilft, Ansprüche durchzusetzen, indem sie die Pflicht zum Beweis vom Patienten auf den Arzt verlagert. Sie kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn ein Arzt einen groben Fehler gemacht hat oder wichtige Befunde nicht erhoben wurden.

Normalerweise muss im Zivilrecht die Person, die einen Anspruch geltend macht – im Arzthaftungsrecht also der Patient – beweisen, dass ein Behandlungsfehler vorlag, ein Schaden entstanden ist und dieser Schaden durch den Fehler verursacht wurde. Das ist für Patienten oft sehr schwierig.

Bei einem groben Behandlungsfehler oder einem groben Befunderhebungsfehler ändert sich diese Regel. Ein grober Fehler ist ein Versehen, das einem Arzt aus objektiver Sicht nicht unterlaufen darf, weil es gegen grundlegende medizinische Regeln verstößt. Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn der Arzt es versäumt, medizinisch notwendige Informationen für eine Diagnose zu sammeln, wie etwa eine zu kurz durchgeführte Untersuchung.

Tritt eine solche Beweislastumkehr ein, geht das Gericht davon aus, dass der grobe Fehler den Schaden auch verursacht hat. Nun muss der Arzt beweisen, dass sein Fehler den Schaden nicht verursacht hat oder dass der Schaden auch bei korrekter Behandlung entstanden wäre. Gelingt ihm dieser Gegenbeweis nicht, wird er für den entstandenen Schaden voll verantwortlich gemacht. Dies verbessert die Chancen des Patienten auf einen erfolgreichen Prozess erheblich.


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Wer trägt die Kosten für die Langzeitpflege bei Schäden, die durch medizinische Behandlungsfehler entstanden sind?

In Deutschland übernehmen zunächst die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen die Kosten für medizinische Behandlungen und Langzeitpflege, die durch Behandlungsfehler entstehen. Anschließend können sich diese Versicherungen das Geld vom Verursacher des Schadens zurückholen.

Bei Schäden, die durch einen medizinischen Behandlungsfehler verursacht wurden, treten die gesetzlichen Krankenkassen und Pflegeversicherungen in Vorleistung. Sie tragen die anfänglichen und fortlaufenden Kosten für die notwendige medizinische Versorgung und die benötigte Pflege, wie im Fall des kleinen Aaron.

Dabei machen die Versicherungen von einem sogenannten Rückgriffsanspruch, auch Regress genannt, Gebrauch. Dieses gesetzliche Recht erlaubt es ihnen, die bereits entstandenen und auch alle zukünftig erwarteten Kosten von demjenigen zurückzufordern, der den Schaden schuldhaft verursacht hat – also beispielsweise dem behandelnden Arzt oder dem Krankenhausträger. Die Schadensersatzansprüche, die dem geschädigten Kind oder seinen Eltern zugestanden hätten, gehen in solchen Fällen quasi auf die Versicherungen über.

Dieses System stellt sicher, dass schwer geschädigte Patienten in Deutschland grundsätzlich finanziell abgesichert sind, auch wenn die Klärung der Verantwortlichkeit und die Durchsetzung der Ansprüche oft eine lange Zeit in Anspruch nehmen können.


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Warum ist die sorgfältige und vollständige Durchführung diagnostischer Maßnahmen entscheidend für die Patientensicherheit?

Die sorgfältige und vollständige Durchführung diagnostischer Maßnahmen ist entscheidend für die Patientensicherheit, da sie die Grundlage für die richtige Behandlung bildet und schwere, irreversible Gesundheitsschäden verhindert. Werden notwendige Informationen nicht oder unvollständig erhoben, können sich dramatische Folgen für den Patienten ergeben.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Bei einer schwangeren Frau wurde ein Kardiotokogramm (CTG) nur 20 statt der benötigten 30 Minuten durchgeführt, wodurch ein verdächtiges Muster der kindlichen Herztöne übersehen wurde. Dieses Muster war ein Warnsignal für eine mögliche Komplikation.

Da die Ärztin die Untersuchung zu früh abbrach und keine weiteren Kontrollen veranlasste, kam es zu einer verzögerten Geburt. Die Folge war eine schwere Sauerstoffunterversorgung des Babys, die zu einer massiven Hirnschädigung und lebenslangen Behinderungen führte. Das Gericht wertete dies als sogenannten „groben Befunderhebungsfehler“, da die Ärztin es versäumte, die medizinisch notwendigen Informationen für eine sichere Beurteilung zu sammeln.

Für Ärzte bedeutet dies die Verpflichtung, alle diagnostischen Schritte gewissenhaft nach dem aktuellen medizinischen Standard zu durchzuführen, da dies unerlässlich für die Patientensicherheit und zur Vermeidung weitreichender rechtlicher Konsequenzen ist.


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Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.


Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt

Beweislastumkehr

Die Beweislastumkehr ist eine wichtige Ausnahme im Zivilrecht, die dem Patienten hilft, Ansprüche durchzusetzen. Normalerweise muss die Person, die einen Anspruch geltend macht, alle Fakten beweisen. Bei einem groben Behandlungsfehler oder einem groben Befunderhebungsfehler im Arzthaftungsrecht wird die Beweislast umgekehrt: Der Arzt muss dann beweisen, dass sein Fehler den Schaden nicht verursacht hat oder dieser auch bei korrekter Behandlung eingetreten wäre. Dies erleichtert es Patienten erheblich, ihre Ansprüche durchzusetzen, da sie den oft schwierigen Nachweis des Kausalzusammenhangs nicht erbringen müssen. Im Fall des kleinen Aaron war diese Beweislastumkehr entscheidend für den Erfolg der Klage.

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Diagnoseirrtum

Ein Diagnoseirrtum liegt vor, wenn ein Arzt bereits erhobene medizinische Informationen falsch deutet oder interpretiert. Er hat also alle notwendigen Befunde gesammelt, kommt aber zu einer fehlerhaften Einschätzung des Krankheitsbildes. Dies unterscheidet sich von einem Befunderhebungsfehler, bei dem die Informationen gar nicht erst oder unzureichend gesammelt werden. Im vorliegenden Fall behauptete die Ärztin, ihr sei höchstens ein entschuldbarer Diagnoseirrtum unterlaufen, das Gericht sah jedoch einen schwerwiegenderen Befunderhebungsfehler.

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Grober Behandlungsfehler

Ein grober Behandlungsfehler ist ein medizinischer Fehler, der einem Arzt aus objektiver Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf, weil er gegen absolut grundlegende und bewährte medizinische Regeln verstößt. Er ist schwerwiegender als ein einfaches Versehen oder ein leichter Fehler. Das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers hat weitreichende Konsequenzen für den Arzt, insbesondere führt er zur Beweislastumkehr zugunsten des Patienten im Arzthaftungsprozess. Im Fall des Landgerichts Kempten wurde das Versäumnis der Ärztin, nach dem verdächtigen CTG weitere Maßnahmen einzuleiten, als solcher eingestuft.

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Grober Befunderhebungsfehler

Ein grober Befunderhebungsfehler ist eine spezielle Art des groben Behandlungsfehlers. Er liegt vor, wenn ein Arzt es versäumt, die medizinisch notwendigen Informationen für eine sichere Diagnose überhaupt erst oder ausreichend zu sammeln. Dies kann geschehen, indem wichtige Untersuchungen nicht durchgeführt, zu früh abgebrochen oder erhobene Befunde nicht ordnungsgemäß gesichert werden. Im Fall Aaron wurde der Ärztin vorgeworfen, die CTG-Untersuchung zu früh abgebrochen und damit wichtige Informationen nicht vollständig erhoben zu haben, was entscheidend für die richterliche Einstufung als „grob“ war.

Beispiel: Wenn ein Automechaniker die Motorhaube gar nicht erst öffnet, obwohl das Auto ungewöhnliche Geräusche macht, hat er es versäumt, wichtige Befunde zu erheben, um eine Diagnose zu stellen.

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Grundurteil

Ein Grundurteil ist eine gerichtliche Entscheidung, die zunächst nur über die grundlegende Frage der Haftung („dem Grunde nach“) entscheidet, nicht aber über die genaue Höhe des Schadensersatzes. Das Gericht stellt also fest, ob eine Person grundsätzlich für einen Schaden verantwortlich ist und Schadenersatz leisten muss. Die Berechnung der konkreten Schadenshöhe und deren Umfang wird einem späteren Verfahrensschritt, dem sogenannten Betragsverfahren, vorbehalten. Dies ermöglicht eine schnellere Klärung der Schuldfrage in komplexen Fällen, wie dem vorliegenden.

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Rückgriffsanspruch

Der Rückgriffsanspruch, oft auch Regressanspruch genannt, ist ein gesetzliches Recht, das es einer Organisation oder Person ermöglicht, bereits geleistete Zahlungen für einen Schaden von der Person zurückzufordern, die diesen Schaden schuldhaft verursacht hat. Im Kontext des Artikels klagten die Krankenkasse und Pflegeversicherung des Kindes Aaron gegen die Frauenärztin. Sie machten Gebrauch von diesem Recht, um die von ihnen vorab getragenen Kosten für Aarons Behandlung und lebenslange Pflege zurückzuerhalten. Dieser Anspruch ist beispielsweise im Sozialgesetzbuch X (§ 116 SGB X) geregelt.

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Wichtige Rechtsgrundlagen


  • Grober Behandlungsfehler und Beweislastumkehr (§ 630h BGB): Ein grober Behandlungsfehler ist ein so gravierendes medizinisches Fehlverhalten, das einem Arzt aus objektiver Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf, weil es gegen absolut grundlegende und bewährte medizinische Regeln verstößt. Wenn ein solcher grober Fehler nachgewiesen wird, kehrt sich die Beweislast um: Normalerweise muss der Patient beweisen, dass der Fehler des Arztes den Schaden verursacht hat. Bei einem groben Fehler wird jedoch vermutet, dass der Fehler kausal für den Schaden war, und der Arzt muss dann beweisen, dass dies nicht der Fall war.
    → Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht stufte das Versäumnis der Ärztin, das CTG ausreichend zu überwachen und auf verdächtige Muster zu reagieren, als groben Behandlungsfehler ein. Dies führte zur Beweislastumkehr, sodass vermutet wurde, dass dieser schwerwiegende Fehler die Hirnschädigung des Kindes verursachte. Die Ärztin konnte nicht das Gegenteil beweisen, weshalb sie für den Schaden haftbar gemacht wurde.
  • Befunderhebungsfehler (vgl. § 630a BGB): Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt es versäumt, die notwendigen medizinischen Informationen (Befunde) zu erheben oder zu sichern, die für eine korrekte Diagnose und Behandlung unerlässlich wären. Das ist nicht nur eine falsche Interpretation vorhandener Daten, sondern das Versäumnis, die erforderlichen Daten überhaupt erst zu erlangen oder vollständig auszuwerten. Dieser Fehler kann besonders schwerwiegend sein, wenn dadurch wichtige Erkenntnisse für die Patientensicherheit fehlen.
    → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Ärztin wurde nicht wegen eines Diagnoseirrtums (falsche Interpretation eines ausreichenden Befundes) verurteilt, sondern wegen eines groben Befunderhebungsfehlers. Sie hatte die CTG-Untersuchung nicht lange genug durchgeführt (zu kurz für einen aussagekräftigen Befund) und die verdächtigen Muster der kindlichen Herztöne nicht ausreichend beachtet, um die erforderlichen weiteren Schritte einzuleiten. Dieses Versäumnis, die medizinisch notwendigen Grundlagen zu schaffen, war entscheidend.
  • Kausalität (Zurechnungszusammenhang) (vgl. § 249 BGB): Kausalität beschreibt den Ursachenzusammenhang zwischen einem Ereignis – hier dem ärztlichen Fehler – und einem eingetretenen Schaden. Damit jemand für einen Schaden verantwortlich gemacht werden kann, muss feststehen, dass der Schaden durch seine Handlung oder sein Unterlassen verursacht wurde. Ohne diesen direkten Zusammenhang gäbe es keine rechtliche Verpflichtung zum Schadensersatz.
    → Bedeutung im vorliegenden Fall: Normalerweise müssten die Krankenkassen beweisen, dass die schwere Hirnschädigung des Kindes direkt durch den Fehler der Ärztin verursacht wurde. Aufgrund des festgestellten groben Behandlungsfehlers kam jedoch die Beweislastumkehr zur Anwendung. Dadurch wurde die Kausalität zwischen dem groben Fehler der Ärztin und der schweren Schädigung des Kindes vermutet, und die Ärztin hätte beweisen müssen, dass der Schaden auch ohne ihren Fehler eingetreten wäre, was ihr nicht gelang.
  • Rückgriffsanspruch der Sozialversicherungsträger (§ 116 SGB X): Wenn eine Person durch das Verschulden einer anderen Person einen Schaden erleidet und die gesetzliche Kranken- oder Pflegeversicherung für die dadurch entstehenden Kosten aufkommen muss, hat die Versicherung einen Rückgriffsanspruch. Das bedeutet, die Versicherung kann sich das Geld von demjenigen zurückholen, der den Schaden verursacht hat. Sie tritt in die Rechte des Geschädigten ein und kann dessen Schadensersatzansprüche selbst geltend machen.
    → Bedeutung im vorliegenden Fall: Nach der Geburt des schwer geschädigten Kindes Aaron entstanden erhebliche Kosten für dessen medizinische Versorgung und lebenslange Pflege. Diese Kosten wurden zunächst von Aarons Kranken- und Pflegeversicherung getragen. Gemäß § 116 SGB X konnten die Kassen diese bereits entstandenen und zukünftig entstehenden Kosten direkt von der verantwortlichen Frauenärztin zurückfordern, anstatt dass die Eltern dies selbst tun mussten.

Das vorliegende Urteil


LG Kempten – Az.: 33 O 545/14 – Teil- und Grundurteil vom 10.03.2022


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