Grobe Behandlungsfehler in der Geburtsklinik führten zu schweren Behinderungen eines Kindes. Das Oberlandesgericht Frankfurt sprach dem betroffenen Kind 720.000 Euro Schmerzensgeld zu und bestätigte damit die Verantwortung der Klinik für die tragischen Folgen.
Übersicht
- Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Wenn Fehler im Kreißsaal Leben verändern: 720.000 Euro Schmerzensgeld nach schweren Geburtsfehlern – Was bedeutet das für Betroffene?
- Der Fall im Detail: Hochrisikoschwangerschaft in ungeeigneter Klinik
- Die juristische Aufarbeitung: Grobe Behandlungsfehler bestätigt
- Die Folgen für das Kind: Schwerste Behinderungen und hohes Schmerzensgeld
- Benötigen Sie Hilfe?
- Was bedeutet das Urteil für Betroffene?
- Fazit

Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Ein Oberlandesgericht in Frankfurt hat einer Geburtsklinik grobe Behandlungsfehler nachgewiesen und 720.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen
- Der Fall betraf eine Hochrisikoschwangerschaft (37-jährige Erstgebärende mit eineiigen Zwillingen)
- Hauptfehler der Klinik: Aufnahme und Behandlung der Hochrisikoschwangerschaft ohne vorhandene neonatologische Intensivstation
- Während des Klinikaufenthalts verstarb ein Zwilling im Mutterleib, das andere Kind wurde per Notkaiserschnitt geboren
- Das überlebende Kind erlitt schwerste Gesundheitsschäden: schwere Hirnschäden, Blindheit und starke Hörschwäche
- Das Gericht bewertete das medizinische Konzept der Klinik als „offensichtlich fehlerhaft“ – bei einer Hochrisikoschwangerschaft muss jederzeit mit Komplikationen gerechnet werden
- Das Urteil (Az. 8 U 8/21) ist noch nicht rechtskräftig, eine Revision zum Bundesgerichtshof ist möglich
- Für werdende Eltern wichtig: Bei Risikoschwangerschaften unbedingt auf Kliniken mit neonatologischer Intensivstation bestehen
- Rechtliche Bedeutung: Bei einem „groben Behandlungsfehler“ kehrt sich die Beweislast um – der Arzt muss beweisen, dass der Fehler nicht ursächlich für den Schaden war
Wenn Fehler im Kreißsaal Leben verändern: 720.000 Euro Schmerzensgeld nach schweren Geburtsfehlern – Was bedeutet das für Betroffene?
Ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main sorgt für Aufsehen und wirft wichtige Fragen rund um das Arzthaftungsrecht und die Sorgfaltspflicht von Kliniken bei der Geburtshilfe auf. In einem aktuellen Fall (Urteil vom 18.02.2025, Az. 8 U 8/21) wurde einer Geburtsklinik und einem behandelnden Arzt grober Behandlungsfehler vorgeworfen, die zu schwersten Behinderungen eines Kindes führten.
Das Gericht sprach dem betroffenen Kind ein Schmerzensgeld in Höhe von 720.000 Euro zu. Doch was genau ist passiert? Und was bedeutet dieses Urteil für werdende Eltern und die Verantwortlichen im Gesundheitswesen? Dieser Artikel beleuchtet den Fall für juristische Laien und erklärt die Hintergründe, die rechtlichen Zusammenhänge und die möglichen Konsequenzen.
Der Fall im Detail: Hochrisikoschwangerschaft in ungeeigneter Klinik
Im Zentrum des Falls steht eine Frau, die im Alter von 37 Jahren erstmals schwanger wurde. Es handelte sich um eine eineiige Zwillingsschwangerschaft, die von Anfang an als Hochrisikoschwangerschaft galt. Eine solche Schwangerschaft birgt von Natur aus erhöhte Risiken für Mutter und Kinder und erfordert eine besonders aufmerksame medizinische Betreuung.
Was ist eine Hochrisikoschwangerschaft?
Eine Hochrisikoschwangerschaft liegt vor, wenn bestimmte Faktoren die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen während der Schwangerschaft, Geburt oder im Wochenbett erhöhen. Diese Faktoren können mütterlicherseits (z.B. Alter, Vorerkrankungen, frühere Schwangerschaftskomplikationen) oder kindlicherseits (z.B. Mehrlingsschwangerschaften, bekannte Fehlbildungen) bedingt sein. Im Fall der Frankfurter Mutter war es vor allem die eineiige Zwillingsschwangerschaft in Kombination mit ihrem etwas höheren Alter als Erstgebärende, die die Schwangerschaft zu einer Risikoschwangerschaft machte.
Die Problematik der Klinikwahl
Für Frauen mit einer Hochrisikoschwangerschaft ist die Wahl der richtigen Klinik entscheidend. Experten empfehlen in solchen Fällen dringend Kliniken mit einer sogenannten neonatologischen Intensivstation. Diese Spezialstationen sind auf die Versorgung von Frühgeborenen und Neugeborenen mit Komplikationen ausgerichtet und verfügen über die notwendige medizinische Ausrüstung und das spezialisierte Personal, um in Notfällen sofort eingreifen zu können.
Was ist eine neonatologische Intensivstation?
Eine neonatologische Intensivstation ist eine spezielle Abteilung in Krankenhäusern, die sich auf die intensivmedizinische Betreuung von Neugeborenen, insbesondere Frühgeborenen und kranken Neugeborenen, spezialisiert hat. Hier arbeiten Kinderärzte mit der Zusatzbezeichnung Neonatologie (Neugeborenenmediziner), speziell ausgebildete Pflegekräfte und weiteres Fachpersonal. Die Stationen sind mit hochmodernen Geräten ausgestattet, wie z.B. Inkubatoren (Brutkästen), Beatmungsgeräten und Monitoren, um die lebenswichtigen Funktionen der kleinen Patienten zu überwachen und zu unterstützen.
Die Fehlentscheidung der Klinik
Im Frankfurter Fall wurde die Mutter jedoch wochenlang stationär in einer Geburtsklinik behandelt, die keine neonatologische Intensivstation besaß. Das OLG Frankfurt stellte später fest, dass dies ein „grober Fehler“ war. Die Klinik hätte die Patientin aufgrund ihrer Hochrisikoschwangerschaft gar nicht erst aufnehmen oder zumindest umgehend in eine geeignete Klinik mit Intensivstation verlegen müssen.
Das tragische Ereignis
Während des stationären Aufenthalts in der ungeeigneten Klinik trat dann das befürchtete Risiko ein: Einer der beiden Zwillinge verstarb im Mutterleib. Um das überlebende Kind zu retten, wurde ein Notkaiserschnitt durchgeführt. Der Junge kam zwar lebend zur Welt, erlitt aber schwerste Gesundheitsschäden.
Die juristische Aufarbeitung: Grobe Behandlungsfehler bestätigt
Nach der Geburt und der Diagnose der schweren Behinderungen klagten die Eltern des Kindes gegen die Geburtsklinik und den behandelnden Arzt auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Das Landgericht Frankfurt gab der Klage in erster Instanz bereits statt und verurteilte die Beklagten zur Zahlung von 720.000 Euro Schmerzensgeld. Die Klinik und der Arzt legten jedoch Berufung gegen dieses Urteil beim OLG Frankfurt ein.
Berufung erfolglos – OLG bestätigt grobe Fehler
Das OLG Frankfurt bestätigte in zweiter Instanz das Urteil des Landgerichts und wies die Berufung der Beklagten zurück. Das Gericht betonte, dass die Beweisaufnahme – unter anderem durch die Einholung eines gynäkologischen Sachverständigengutachtens – mehrere grobe Behandlungsfehler der Klinik und des Arztes bestätigt habe.
Was bedeutet „grober Behandlungsfehler“?
Im Arzthaftungsrecht wird zwischen einfachen und groben Behandlungsfehlern unterschieden. Ein einfacher Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt gegen die allgemein anerkannten medizinischen Standards verstößt, ohne dass dieser Fehler als besonders schwerwiegend einzustufen ist. Ein grober Behandlungsfehler hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er offensichtlich und unentschuldbar ist. Es handelt sich um einen Fehler, der aus ärztlicher Sicht schlechterdings nicht passieren darf, weil er grundlegende medizinische Kenntnisse oder Behandlungsregeln in eklatanter Weise missachtet.
Die Einstufung eines Fehlers als „grob“ hat erhebliche Auswirkungen auf die Beweislast im Arzthaftungsprozess. Bei einem einfachen Behandlungsfehler muss der Patient beweisen, dass der Fehler ursächlich für seinen Schaden war. Bei einem groben Behandlungsfehler kehrt sich die Beweislast um: Dann muss der Arzt oder die Klinik beweisen, dass der Fehler nicht ursächlich für den Schaden des Patienten war. Diese Beweislastumkehr ist für Patienten in Arzthaftungsprozessen von enormer Bedeutung, da es oft schwierig ist, den Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden nachzuweisen.
Die Fehlerkette im Frankfurter Fall
Das OLG Frankfurt sah im vorliegenden Fall gleich mehrere grobe Behandlungsfehler:
- Fehlerhafte Klinikwahl: Die Klinik nahm die Patientin mit einer bekannten Hochrisikoschwangerschaft auf, obwohl sie nicht über die notwendige neonatologische Intensivstation verfügte. Dies verstieß gegen grundlegende medizinische Standards für die Behandlung von Risikoschwangerschaften.
- Verzögerte Notfallversorgung: Als es dann zu Komplikationen kam und ein Zwilling verstarb, konnte die Klinik keine sofortige und adäquate intensivmedizinische Versorgung des überlebenden Kindes gewährleisten. Die fehlende Intensivstation führte zu einer zeitlichen Verzögerung in der Notfallbehandlung, die sich fatal auf den Gesundheitszustand des Kindes auswirkte.
Das Gericht betonte, dass das medizinische Gesamtkonzept der Geburtsklinik „offensichtlich fehlerhaft“ gewesen sei. Bei einer Hochrisikoschwangerschaft müsse jederzeit mit Komplikationen gerechnet werden, die eine sofortige intensivmedizinische Versorgung der Neugeborenen erforderlich machen können. „Die Behandlung von Frühchen ist extrem heikel. Durch jedwede auch nur kurzfristige Fehlversorgung drohen unmittelbar schwere Schäden“, so der 8. Zivilsenat des OLG Frankfurt.
Die Folgen für das Kind: Schwerste Behinderungen und hohes Schmerzensgeld
Die Behandlungsfehler in der Geburtsklinik hatten für den kleinen Kläger gravierende Folgen. Er erlitt schwere Hirnschäden und leidet seitdem unter:
- Ausgeprägter Entwicklungsstörung
- Blindheit
- Starker Hörschwäche
Der Gesundheitszustand des Jungen ist äußerst schlecht und wird ihn sein Leben lang beeinträchtigen. Angesichts dieser schweren Schäden hielt das OLG Frankfurt das zugesprochene Schmerzensgeld von 720.000 Euro für angemessen.
Was ist Schmerzensgeld?
Schmerzensgeld ist eine Form des Schadensersatzes im deutschen Recht, die bei Verletzungen des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung gezahlt wird (§ 253 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB).
Es dient dazu, den immateriellen Schaden des Geschädigten auszugleichen, also das Leid, die Schmerzen, die Beeinträchtigungen und die Lebensqualitätseinbußen, die durch die Verletzung entstanden sind. Im Gegensatz zum materiellen Schadensersatz, der konkrete Vermögensschäden wie Heilkosten oder Verdienstausfall abdeckt, zielt das Schmerzensgeld auf den Ausgleich des seelischen und körperlichen Leids ab.
Die Höhe des Schmerzensgeldes wird in jedem Einzelfall individuell unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren bestimmt, wie z.B.:
- Art und Schwere der Verletzung: Je schwerwiegender und dauerhafter die Verletzungen sind, desto höher fällt in der Regel das Schmerzensgeld aus.
- Dauer und Intensität der Schmerzen: Auch die Schmerzensdauer und -intensität spielen eine Rolle bei der Bemessung.
- Dauer der Behandlung und Rehabilitation: Langwierige Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen können das Schmerzensgeld erhöhen.
- Dauerhafte Beeinträchtigungen und Behinderungen: Wenn dauerhafte Beeinträchtigungen oder Behinderungen zurückbleiben, wird dies bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtigt.
- Grad des Verschuldens des Schädigers: Bei grobem Verschulden oder Vorsatz des Schädigers kann das Schmerzensgeld höher ausfallen.
- Vergleichbare Fälle: Gerichte orientieren sich bei der Schmerzensgeldbemessung auch an Schmerzensgeldurteilen in vergleichbaren Fällen.
Im Frankfurter Fall war die Schwere der Behinderungen des Kindes – Blindheit, Hörschwäche, schwere Entwicklungsstörung – sowie die groben Behandlungsfehler der Klinik ausschlaggebend für die hohe Schmerzensgeldsumme. 720.000 Euro sind im Bereich des Arzthaftungsrechts ein sehr hoher Betrag und spiegeln die extreme Tragik des Falls wider.
Benötigen Sie Hilfe?
Ihr Recht bei Behandlungsfehlern: Wir stehen an Ihrer Seite
Sie vermuten einen Behandlungsfehler bei der Geburt Ihres Kindes oder während Ihrer medizinischen Versorgung? Ein ärztlicher Fehler kann lebensverändernde Folgen haben – wie der aktuelle Fall aus Frankfurt zeigt. Die juristische Durchsetzung angemessener Entschädigung ist komplex, aber möglich.
Als erfahrene Rechtsberater unterstützen wir Sie bei der Aufklärung medizinischer Sachverhalte und setzen Ihre berechtigten Schmerzensgeldforderungen durch. Wir arbeiten mit medizinischen Gutachtern zusammen, bewerten Ihre individuellen Erfolgsaussichten und entwickeln eine maßgeschneiderte Strategie für Ihren Fall.
Handeln Sie rechtzeitig – für die Durchsetzung Ihrer Ansprüche gelten Fristen. Fordern Sie noch heute eine Ersteinschätzung an und machen Sie den ersten Schritt, um Ihre Rechte zu wahren.
Was bedeutet das Urteil für Betroffene?
Das Urteil des OLG Frankfurt ist ein wichtiges Signal für Patientenrechte und die Verantwortung von Kliniken im Bereich der Geburtshilfe. Es zeigt deutlich, dass Kliniken und Ärzte bei der Behandlung von Schwangeren und Neugeborenen höchste Sorgfaltspflichten haben und bei Fehlern zur Rechenschaft gezogen werden können.
Für werdende Eltern bedeutet das Urteil:
- Informationspflicht: Werdende Eltern sollten sich umfassend über die Qualifikation und Ausstattung der Geburtskliniken informieren und bei Risikoschwangerschaften gezielt Kliniken mit neonatologischer Intensivstation auswählen.
- Anspruch auf korrekte Behandlung: Schwangere Frauen haben einen Anspruch auf eine medizinisch korrekte und leitliniengerechte Behandlung während der Schwangerschaft und Geburt. Dies beinhaltet auch die Zuweisung zu einer geeigneten Klinik entsprechend dem Risikoprofil der Schwangerschaft.
- Rechte bei Fehlern: Sollte es zu Behandlungsfehlern während der Schwangerschaft oder Geburt kommen, haben Betroffene das Recht, Schadensersatz und Schmerzensgeld von den Verantwortlichen zu fordern.
Für Kliniken und Ärzte bedeutet das Urteil:
- Sorgfaltspflichten: Kliniken und Ärzte müssen ihre Sorgfaltspflichten bei der Behandlung von Schwangeren und Neugeborenen ernst nehmen und sicherstellen, dass sie die medizinischen Standards einhalten.
- Risikomanagement: Kliniken müssen ein effektives Risikomanagement implementieren, um Risikoschwangerschaften frühzeitig zu erkennen und die Patientinnen in geeignete Versorgungseinrichtungen zu lenken.
- Qualitätssicherung: Eine kontinuierliche Qualitätssicherung in der Geburtshilfe ist unerlässlich, um Behandlungsfehler zu vermeiden und die Patientensicherheit zu gewährleisten.
Noch nicht rechtskräftig – Revision möglich
Es ist wichtig zu betonen, dass das Urteil des OLG Frankfurt (Stand 26.02.2025) noch nicht rechtskräftig ist. Die Beklagten haben die Möglichkeit, Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof (BGH) einzulegen und die Zulassung der Revision zu beantragen. Ob der BGH die Revision zulässt und den Fall nochmals inhaltlich prüft, bleibt abzuwarten.
Fazit
Der Fall des OLG Frankfurt ist ein tragisches Beispiel dafür, wie Behandlungsfehler in der Geburtshilfe das Leben von Kindern und Familien für immer verändern können. Das hohe Schmerzensgeld von 720.000 Euro unterstreicht die Schwere der Fehler und die gravierenden Folgen für den betroffenen Jungen. Das Urteil ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Patientenrechte und zur Sensibilisierung für die Sorgfaltspflichten im medizinischen Bereich. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Fall dazu beiträgt, die Qualität und Sicherheit in der Geburtshilfe weiter zu verbessern und solche Tragödien in Zukunft zu vermeiden.
Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel dient der allgemeinen Information und ersetzt keine Rechtsberatung im Einzelfall. Wenn Sie Fragen zum Arzthaftungsrecht oder zu Ihren Rechten als Patient haben, wenden Sie sich bitte mit der Anfrage auf Ersteinschätzung an uns.