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Krankenhaushaftung – Sorgfaltspflichtverletzung im Rahmen der Befunderhebung und Behandlung

OLG Oldenburg, Az.: 5 U 216/11, Urteil vom 21.05.2014

Der Klägerin wird auf ihren Antrag vom 11. Januar 2012 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. Oktober 2011 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Unter Abweisung der Klage im Übrigen wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3. Juni 2010 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der fehlerhaften Behandlung am 22. März 2005 im Haus der Beklagten noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 20% und die Beklagte zu 80%. Die Kosten der Streithilfe werden der Klägerin zu 20% und dem Streithelfer zu 80% auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Krankenhaushaftung - Sorgfaltspflichtverletzung im Rahmen der Befunderhebung und Behandlung
Symbolfoto: Von Dmytro Zinkevych /Shutterstock.com

Die im September 1996 geborene Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer angeblich fehlerhaften Behandlung in deren pädriatrisch-endokrinologischer Ambulanz auf Schadensersatz in Anspruch.

Am 27. Dezember 2004 stellte die Klägerin sich auf Veranlassung ihres Hausarztes Dr. N … wegen des Verdachts auf Pubertas praecox und Minderwuchs bei dem Kinderarzt B … in P …. vor. In diesem Zeitpunkt war sie 123 cm groß und wog 29,5 kg. Der Kinderarzt B … überwies die Klägerin in die radiologische Praxis V… / Dr. M …. in P …. . Dort wurde am 30. Dezember 2004 die linke Hand der Klägerin geröntgt. Als Ergebnis der Untersuchung hielt der Facharzt für diagnostische Radiologie V …. in seinem an den Kinderarzt B …. gerichteten Brief vom selben Tag fest, das Skelettalter betrage etwa 10 Jahre, eine akzelerierte Skelettentwicklung sei wahrscheinlich; eine sichere Aussage sei aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit der Klägerin – sie ist das Kind syrischer Eltern – nicht möglich.

Am 13. Januar 2005 stellte die Klägerin sich erstmals bei dem Kinderarzt S …. , dem Nachfolger des Kinderarztes B …. , vor. Der Vater der Klägerin war nach wie vor beunruhigt, insbesondere weil er der Ansicht war, bei seiner Tochter habe bereits die Brustentwicklung begonnen. Der Kinderarzt S …. veranlasste daraufhin eine Blutuntersuchung. Konkret ließ er einen Gonadotropin-Releasing-Hormon-Test (GnRH-Test) durchführen. Dem anschließenden Bericht des beauftragten Labors in Nordhorn vermochte er keine auffälligen Messwerte zu entnehmen.

Gleichwohl bekräftigte der Vater der Klägerin in weiteren Terminen seine Befürchtung, dass seine Tochter klein bleiben werde. Vorsorglich überwies der Kinderarzt S …. die Klägerin deshalb an die pädiatrisch-endokrinologische Ambulanz im Haus der Beklagten. Dort sollte den Fragen nachgegangen werden, ob die Klägerin an einem Minderwuchs leide und mit welcher Endgröße zu rechnen sei. Am 22. März 2005 fand die Klägerin sich, begleitet von ihrem Vater, in der Ambulanz ein. Ihre Körperlänge betrug damals 124,5 cm, ihr Gewicht 31 kg. Für die Abrechnung der avisierten Behandlung legten sie einen Krankenschein für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vor. Die Ergebnisse des besagten GnRH-Tests und den Bericht des Radiologen V …. vom 30. Dezember 2004 hatte der Kinderarzt S …. der endokrinologischen Ambulanz per Telefax übermittelt. Nachdem die Klägerin untersucht worden war, erläuterte der Kinderendokrinologe S …. dem Vater der Klägerin seine medizinische Beurteilung. Über den Inhalt des Gesprächs herrscht zwischen den Parteien Streit. In dem Arztbrief, mit dem Herr S …. dem Kinderarzt S …. unter dem 23. März 2005 das Ergebnis des Termins übermittelte, heißt es:

„[…] Da über das bisherige Wachstum keine Daten vorliegen ist die Beurteilung erschwert. Auch der vorliegende Röntgenbefund der linken Hand des Radiologen ergibt keine wirklich verwertbare Aussage. Falls wirklich erforderlich, würde ich das Handskelettradiogramm gern selber zusammen mit Dr. G …. noch mal ansehen. Zur Zeit sehe ich keinen weiteren Handlungsbedarf (s. a. Rückseite). Zumindest ist ein Wachstum auf der 10er Perzentile keine Indikation zum tieferen Einstieg in die Diagnostik. Ich rate daher zunächst zu einer abwartenden Haltung […].“

Auf der Rückseite des Arztbriefes findet sich folgender Vermerk:

„Vertraulich

Der mitgebrachte Versicherungsschein ist nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgestellt. Er untersagt mir, weitere Untersuchungen oder gar eine – fragliche – Therapie mit STH.

Auch Du solltest weitere Untersuchungen – z. B. Ultraschall der inneren Genitalorgane oder der Nebenniere – Dir gut überlegen.

Inwieweit diese ärztliche Inanspruchnahme – ebenso wie vor kurzem beim älteren Bruder wegen einer Nihilitis acuta – ein Bleiberecht erleichtern soll, entzieht sich meiner Kenntnis – es wäre aber möglich.“

Als die Klägerin sich am 4. März 2009 bei dem Kinderarzt S …. vorstellte, war sie 144 cm groß. Der Kinderarzt wertete unter anderem eine am 10. Februar 2009 in der radiologischen Praxis V …. / Dr. M …. gefertigte Röntgenaufnahme der linken Hand der Klägerin aus. In seiner elektronischen Patientenkartei hielt er fest, das Bild zeige einen vollständigen Schluss der Epiphysenfugen; es sei kein Wachstum mehr zu erwarten.

Am 4. Mai 2009 ließ die Klägerin sich in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums B ….-N …. untersuchen. Zusammenfassend führten die behandelnden Ärzte aus, die Klägerin sei kleinwüchsig und entwicklungsbeschleunigt. Sie zeige sowohl klinisch als auch laborchemisch Zeichen einer Hyperandrogenämie. Man empfahl ihr einen Adrenocorticotropin-Test (ACTH-Test).

Der ACTH-Test wurde am 1. Oktober 2009 im Klinikum B ….-N …. durchgeführt. In dem anschließenden Arztbrief wird dazu ausgeführt, der Befund spreche für einen funktionellen 3-Beta-HSD-Mangel mit milder gemischter adrenal / ovarieller Hyperandrogenämie; man empfehle eine Hydrocortisontherapie.

Zwischenzeitlich, am 27. Mai 2009, hatte die Klägerin auf Veranlassung des Kinderarztes S …. die P …. für Allgemeine Kinderheilkunde des U … M …. aufgesucht. Hier diagnostizierten die behandelnden Ärzte ebenfalls einen Kleinwuchs und legten in ihrem Bericht dar, dass eine medikamentöse Therapie nach dem Schluss der Wachstumsfugen nicht mehr möglich sei.

Entsprechendes erläuterte Dr. B …., der Chefarzt der pädiatrischen Abteilung des L… M …. , in seinem Bericht über eine von ihm am 29. Mai 2009 durchgeführten Untersuchung. Bei einer gemessenen Körperlänge von 144 cm sei, so Dr. B … , kein wesentliches Wachstum mehr zu erwarten; eine medikamentöse Therapie scheide jetzt aus.

Aus dem Z …. für Kinderheilkunde des U…….B …. erhielt der Vater der Klägerin im Dezember 2009 ebenfalls die Nachricht, dass nach Durchsicht der eingereichten Befunde eine Wachstumshormonbehandlung bei seiner Tochter V …. keinen Erfolg mehr verspreche, weil sie bereits ausgewachsen sei.

Vor dem Landgericht hat die Klägerin behauptet, man habe sie am 22. März 2005 in der endokrinologischen Ambulanz der Beklagten nicht hinreichend untersucht und ihre damalige gesundheitliche Situation falsch beurteilt. Es sei insbesondere versäumt worden, ihren Hormonhaushalt im Wege einer Blutuntersuchung zu kontrollieren. Zudem habe der Endokrinologe S …. den klinischen Befund (beginnende Brustentwicklung und Schambehaarung) und das Ergebnis der Röntgenuntersuchung (akzelerierte Skelettentwicklung) nicht ausreichend gewürdigt. Ferner habe er das Ergebnis des GnRH-Tests falsch bewertet.

Am Ende des Termins habe er geäußert, sie, die Klägerin, und ihr Vater bräuchten sich keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung, es sei nichts weiter zu veranlassen. Über die in der Ambulanzkarte festgehaltene Notwendigkeit einer halbjährlichen Kontrolle der Körperlänge seien sie und ihr Vater nicht informiert worden. Der Inhalt der Ambulanzkarte sei offenbar, soweit es um den 22. März 2005 gehe, nachträglich verändert worden. Darauf deuteten nicht zuletzt die unterschiedlichen Handschriften hin.

Entgegen der Aussage des Endokrinologen S …. wäre es in ihrem Fall angezeigt gewesen, weitere Befunde zu erheben beziehungsweise sofort mit einer Behandlung zu beginnen. In den Jahren 2005 bis einschließlich 2007 wäre es noch möglich gewesen, ihrem Kleinwuchs, der inzwischen nicht mehr therapierbar sei, mittels einer Hormongabe erfolgreich entgegenzuwirken und damit ihre heutige Endgröße von 144 cm deutlich zu übertreffen.

Ihr Kleinwuchs beeinträchtige sie nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern habe auch ihre psychosoziale Entwicklung negativ beeinflusst. Sie leide täglich unter ihrer geringen Körpergröße. Bevor sie im Jahr 2009 erfahren habe, dass sie nicht mehr wachse, habe sie das Gymnasium besucht und gute Schulnoten erhalten; sie sei lebensfroh gewesen, habe gern Sport getrieben und ihre Freizeit mit Freundinnen verbracht. Seit ihr Kleinwuchs zur Gewissheit geworden sei, leide sie unter Antriebslosigkeit. Der Sport bereite ihr keine Freude mehr, sie ziehe sich generell zurück und bleibe lieber zu Hause. Die schulischen Leistungen hätten derart nachgelassen, dass sie auf die Realschule habe wechseln müssen; sogar dort seien die Noten noch hinter ihrem Potenzial zurückgeblieben. Sie müsse täglich 1½ Tabletten Hydrocortison einnehmen, was ihr sehr widerstrebe.

Vermutlich werde sie sich einer operativen Beinverlängerung unterziehen müssen. Auf diesem Weg sei eine Erhöhung der Körperlänge um 10 bis 14 cm zu erreichen. Allerdings seien weitreichende Nachbehandlungen erforderlich; eine endgültige Heilung sei erst nach einem Jahr zu erwarten. Die Kosten für eine Beinverlängerung beliefen sich auf über 100.000,00 €. Sie würden grundsächlich nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen.

Bislang habe sie in materieller Hinsicht einen Schaden in Höhe von 2.595,00 € erlitten. Dieser setze sich im Wesentlichen aus den Fahrkosten zusammen, die ihr seit 2006 infolge des – im Haus der Beklagten unbehandelt gebliebenen – Kleinwuchses entstanden seien. Zudem stehe ihr eine, in dem genannten Betrag ebenfalls enthaltene Schadenpauschale in Höhe von 25,00 € zu.

In der ersten Instanz hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in einer Größenordnung von 50.000,00 € und eines Betrages in Höhe von 2.595,00 €, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, zu verurteilen. Daneben hat sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aus dem Behandlungsvertrag mit der Beklagten noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist. Ferner hat die Klägerin beantragt festzustellen, dass ihre Haftung, soweit sie die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, auf ihr bei Eintritt der Volljährigkeit am 27. September 2014 vorhandenes Vermögen beschränkt ist.

Darüber hinaus hat die Klägerin ursprünglich den Antrag angekündigt, die Beklagte zu verurteilen, ihr Ablichtungen der kompletten Ambulanzaufzeichnungen Zug um Zug gegen Kostenerstattung herauszugeben. Die Beklagte hat diesen Anspruch in ihrer Klageerwiderung anerkannt. Nachfolgend – in der Sitzung des Landgerichts am 13. September 2011 – haben die Parteien den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.

Hinsichtlich der übrigen Anträge der Klägerin hat die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat die Einrede der Verjährung erhoben. Darüber hinaus hat sie Behandlungsfehler in Abrede gestellt. Die am 22. März 2005 zur Verfügung stehenden Befunde hätten, so die Beklagte, keine weitere Untersuchung oder Therapie erfordert. Die Röntgenaufnahme der Hand habe aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit der Klägerin keine sichere Beurteilung gestattet. Die damalige Körperlänge der Klägerin habe – gemäß dem Somatogramm für türkische Mädchen – einem Wachstum auf der 10er Perzentile entsprochen, was keinen Hinweis auf einen Wachstumshormonmangel liefere. Wachstumsdaten für den vorhergehenden Zeitraum seien nicht greifbar gewesen, insbesondere hätten die Eltern der Klägerin dazu keine Angaben machen können. Folglich sei im Zeitpunkt der Untersuchung keine Wachstumsbeschleunigung oder -verlangsamung festzustellen gewesen.

Vor diesem Hintergrund habe der Endokrinologe S …. den Eltern der Klägerin zu einer abwartenden Haltung geraten, verbunden mit der Empfehlung, das Wachstum der Klägerin regelmäßig – alle 6 beziehungsweise 12 Monate – zu kontrollieren, um genauere Erkenntnisse über dessen Verlauf zu gewinnen. Im Falle von Auffälligkeiten hätten zusätzliche Untersuchungen veranlasst werden können.

In demselben Sinne, so die Beklagte, habe Herr S …. sich in seinem Arztbrief vom 23. März 2005 gegenüber dem Kinderarzt S …. geäußert.

Zusätzlich habe der Oberarzt S …. die Klägerin und ihre Eltern gebeten, sich in einem halben bis einem Jahr wieder in der endokrinologischen Ambulanz vorzustellen. Offensichtlich sei jedoch keiner seiner Ratschläge befolgt worden.

Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer angeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lasse sich nicht feststellen, dass die Befunde, welche am 22. März 2005 in der pädiatrisch-endokrinologischen Ambulanz der Beklagten vorgelegen hätten, falsch interpretiert worden seien oder Anlass zu weiteren diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen hätten geben müssen. Geboten gewesen sei lediglich eine Kontrolle des Wachstumsverlaufs der Klägerin. Dass man es im Haus der Beklagten versäumt habe, die Klägerin beziehungsweise ihre Eltern auf die Notwendigkeit einer solchen Verlaufskontrolle hinzuweisen, habe die Klägerin nicht beweisen können. Eine Vernehmung ihres Vater, den sie zu diesem Beweisthema als Zeugen benannt habe, sei verfahrensrechtlich nicht zulässig. Da die Klägerin im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch keine 16 Jahre alt gewesen sei, hätte ihr Vater als ihr gesetzlicher Vertreter höchstens als Partei vernommen werden können. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Parteivernehmung hätten jedoch nicht vorgelegen.

Soweit die Klägerin sich für ihre Behauptung, dass sie über die Notwendigkeit von Verlaufskontrollen nicht aufgeklärt worden sei, in der Sitzung am 13. September 2011 auf das Zeugnis der Ärzte S …. und S …. berufen habe, sei ihr Beweisantritt verspätet. Wegen der Begründung im Einzelnen und der vom Landgericht getroffenen Feststellungen wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt. Zunächst hat sie mit einem am 30. November 2011 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz – ohne Ausführungen zur Sache – beantragt, ihr für die beabsichtigte Berufung gegen das am 31. Oktober 2011 zugestellte erstinstanzliche Urteil Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Dem hat der Senat durch Beschluss vom 28. Dezember 2011 entsprochen. Der Beschluss ist den Bevollmächtigten der Klägerin am 3. Januar 2012 zugestellt worden. Ihre Berufungsschrift ist am 11. Januar 2012 bei Gericht eingegangen, verbunden mit den Anträgen, ihr „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren“ und die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 31. Januar 2012 zu verlängern. Dem Fristverlängerungsantrag wurde stattgegeben. Ferner wurde der Klägerin durch Beschluss vom 25. Januar 2012 gegen die Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Anschließend ist die Frist zur Begründung der Berufung auf Antrag der Klägerin mit Zustimmung der Beklagten noch zweimal verlängert worden, zuletzt bis zum 14. März 2012. Die Berufungsbegründung ist am letzten Tag der Frist eingegangen.

In der Sache nimmt die Klägerin nach wie vor den Standpunkt ein, dass der Beklagten ein Behandlungsfehler vorzuwerfen sei. Insbesondere, so die Klägerin, hätte der am 22. März 2005 in der endokrinologischen Ambulanz tätige Oberarzt S …. erkennen können und müssen, dass ihre damalige Wachstumsprognose bereits deutlich unterhalb der genetischen Zielgröße gelegen habe. Ferner habe der Oberarzt S …. es sorgfaltswidrig unterlassen, sich mit ihrer beginnenden Pubertätsentwicklung auseinanderzusetzen. Insgesamt hätten die am 22. März 2005 vorliegenden Befunde den Oberarzt S …. veranlassen müssen, in eine weitergehende Diagnostik einzusteigen und therapeutisch zu intervenieren. Jedenfalls hätte er sowohl sie, die Klägerin, beziehungsweise ihren Vater als auch den Kinderarzt S …. unmissverständlich über die bedenklichen Befunde und die Möglichkeiten einer Therapie, namentlich mit einem GnRH-Agonisten, informieren müssen. Tatsächlich habe er ihnen jedoch den Eindruck vermittelt, dass ein Kleinwuchs ausgeschlossen werden könne. Er habe sie noch nicht einmal darauf hingewiesen, dass es geboten sei, den Verlauf des Wachstums zu kontrollieren. Bei zusammenfassender Betrachtung stelle sich das Vorgehen des Oberarztes S …. als grob fehlerhaft dar.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts spreche, so die Klägerin, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit ihrer Darstellung, so dass eine Vernehmung ihrer Eltern als Parteien gemäß § 448 ZPO statthaft gewesen wäre. Zwar sei in der Ambulanzkarteikarte unter dem 22. März 2005 eine halbjährliche Kontrolle der Körperlänge vermerkt. Doch sei diese Eintragung mit einer anderen Handschrift vorgenommen worden als die übrigen in der Ambulanzkarte mit Datum vom 22. März 2005 niedergelegten Aufzeichnungen. Das spreche für eine nachträgliche Manipulation der Dokumentation. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass sie, die Klägerin, als Patientin keinen Einfluss darauf habe, was der behandelnde Arzt in der Ambulanzkarte festhalte.

Wäre sie im März 2005 fachgerecht untersucht worden und hätte man in der Folge mit der gebotenen Therapie begonnen, hätte sie eine Körperlänge von 153 bis 156 cm erreichen können.

Die notwendige Behandlung, insbesondere eine Medikation mit einem GnRH-Agonisten, zu finanzieren, wäre ihr in jedem Fall gelungen. Zwar sei sie im Jahr 2005 – unstreitig – noch nicht krankenversichert gewesen, sondern habe nur einen – sehr eingeschränkten – Anspruch auf eine Übernahme von Behandlungskosten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besessen. Hätte man sie im Haus der Beklagten zutreffend über ihre gesundheitliche Situation unterrichtet, wäre es ihrem Vater jedoch gelungen, bereits 2005 ein Versicherungsverhältnis in der gesetzlichen Krankenversicherung zu begründen. Immerhin habe ihr Vater, als man ihren Bruder 2007 am Finger habe operieren müssen, anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen und auf diese Weise erreicht, dass ihm kurzfristig die bis dahin zu Unrecht verweigerte Arbeitserlaubnis erteilt worden sei. In der Folge habe er seinen bereits seit Längerem gehegten Wunsch, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, umsetzen können. Dadurch sei sie seit 2007 bis heute als Familienmitglied gesetzlich krankenversichert. Hätte ihr Vater 2005 von ihrem drohenden Kleinwuchs erfahren, wäre er schon damals so vorgegangen wie 2007 anlässlich der Erkrankung ihres Bruders.

Im Übrigen wären, wenn man ihre Erkrankung 2005 aufgedeckt hätte, zahlreiche Freunde und Verwandte bereit gewesen, ihr beziehungsweise ihrer Familie die für eine Behandlung notwendigen finanziellen Mittel zumindest als Darlehen zur Verfügung zu stellen. Das werde nicht zuletzt dadurch untermauert, dass ihre Familie aus dem Verwandten- und Freundeskreis Darlehen erhalten habe, um eine im Jahr 2010 erworbene Immobilie in A. zu finanzieren.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3. Juni 2010 zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.595,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3. Juni 2010 zu zahlen,

3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aus dem Behandlungsvertrag mit der Beklagten noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat dem Kinderarzt S …. und dem Hausarzt Dr. N …. mit Schriftsatz vom 18. Mai 2012 den Streit verkündet. Unter dem 11. Juli 2012 ist der Kinderarzt S …. dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetreten.

Der Streithelfer beantragt ebenfalls, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Sie behauptet nach wie vor, der in ihrer endokrinologischen Ambulanz tätige Oberarzt S …. habe den Eltern der Klägerin ausdrücklich eine regelmäßige Messung der Körperlänge in halbjährlichen Abständen angeraten, um im weiteren Verlauf eine eventuelle Wachstumsbeschleunigung oder -verlangsamung feststellen oder ausschließen zu können. Eine solche Empfehlung werde durch den entsprechenden handschriftlichen Vermerk in der Ambulanzkarte belegt. Diesen habe der Oberarzt S …. am 22. März 2005 im Anschluss an die Untersuchung der Klägerin verfasst.

Abgesehen davon seien bei der Klägerin am 22. März 2005 keinerlei Hinweise auf einen Minderwuchs zu erkennen gewesen. Deshalb habe damals aus medizinischer Sicht noch nicht einmal ein zwingender Grund bestanden, Verlaufskontrollen zu empfehlen. Erst recht habe es keiner wachstumsfördernden Therapie bedurft.

Im Übrigen sei sie, die Beklagte, nicht verpflichtet gewesen, den Gesundheitszustand der Klägerin in einem größeren Umfang abzuklären, als es tatsächlich geschehen sei. Denn nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sei – unstreitig – nur die Behandlung akuter Krankheitsbilder oder Schmerzzustände abrechnungsfähig.

Aber selbst wenn die Klägerin im März 2005 erkennbar einer medikamentösen Therapie bedurft hätte und darüber unterrichtet worden wäre, hätte sie daraus keinen Nutzen ziehen können. Entsprechende Medikamente zu bezahlen, wäre ihr beziehungsweise ihrer Familie nicht möglich gewesen. Ebenso wenig hätten die Kosten auf der Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes übernommen werden können.

Schließlich fehle es auch an einem spürbaren Schaden. Selbst im Fall einer pubertätsbremsenden Hormonbehandlung wäre die Klägerin maximal 4 cm größer geworden.

Der Streithelfer der Beklagten hat die Einrede der Verjährung erhoben. Er behauptet ebenfalls, dass es im März 2005 nicht indiziert gewesen sei, die Klägerin mit Hormonen zu behandeln, oder eine Wiedervorstellung in der endokrinologischen Ambulanz der Beklagten zu vereinbaren. Ein Wachstumshormonmangel liege, so der Streithelfer, bei der Klägerin nicht vor. Ebenso wenig seien bei ihr hinreichend deutliche Anzeichen für eine Pubertas praecox sichtbar gewesen. Eine Knospenbrust oder andere Pubertätsmerkmale bildeten nur dann einen Anlass für eine weitere Beobachtung, wenn sie vor Vollendung des 8. Lebensjahrs zu beobachten seien. Die Klägerin sei jedoch im März 2005 bereits 8½ Jahre alt gewesen.

Hätte man die Klägerin gleichwohl wegen einer Pubertas praecox mit einem GnRH-Agonisten behandeln wollen, hätte dies so hohe Kosten verursacht, dass die Klägerin oder ihre Eltern die Therapie nicht hätten bezahlen können. Überdies hätte eine solche Medikation keinen Erfolg gehabt. Das Wachstumsschicksal der Klägerin sei bereits festgelegt und therapeutisch nicht mehr beeinflussbar gewesen, als sie sich bei ihm, dem Streithelfer, erstmals vorgestellt habe.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen M …. S … , J …. J …. , M …. H ….. und F …. R …. . Die Klägerin hat der Senat am 13. Juni 2012, also vor Vollendung ihres 16. Lebensjahres, ebenfalls als Zeugin vernommen. Ferner hat er den Vater der Klägerin angehört.

Überdies hat er den bereits in der ersten Instanz herangezogenen Sachverständigen P .… D …. H …. gemäß Beweisbeschluss vom 25. Juli 2012 (Bd. II Bl. 369 ff. d. A.) mit einer ergänzenden Begutachtung beauftragt. Weiter hat er gemäß Beweisbeschluss vom 17. Januar 2013 (Bd. II Bl. 410 ff. d. A.) ein Gutachten des Sachverständigen Dr. A …. eingeholt und diesen anschließend mündlich zu seinem Gutachten angehört.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die Sitzungsprotokolle vom 13. Juni 2012 (Bd. II Bl. 320 ff. d. A.), vom 19. Februar 2014 (Bd. III Bl. 18 ff. d. A.) und vom 23. April 2014 (Bd. III Bl. 103 ff. d. A.) sowie auf die schriftlichen Gutachten des Sachverständigen P …. D …. . H …. vom 28. November 2012 (Bd. II Bl. 384 ff. d. A.) und des Sachverständigen Dr. A …. vom 7. Mai 2013 (Bd. II Bl. 424 ff. d. A.).

II.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, auch wenn die Berufung und die Berufungsbegründung außerhalb der dafür vorgesehenen Fristen (§§ 517und 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) eingegangen sind.

 

1.

Gegen die Versäumung der Berufungsfrist hat der Senat der Klägerin bereits durch Beschluss vom 25. Januar 2012 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Hinsichtlich der versäumten Berufungsbegründungsfrist war ebenso zu verfahren.

a) Ein entsprechender Antrag der Klägerin liegt vor. Nachdem der Senat der Klägerin durch Beschluss vom 28. Dezember 2011 – zugestellt am 3. Januar 2012 – Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren bewilligt hat, hat sie in ihrer am 11. Januar 2012 eingegangenen Berufungsschrift einen allgemein gehaltenen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Der Senat legt den Antrag dahin aus, dass er sich nicht nur auf die Berufungsfrist, sondern auch auf die Berufungsbegründungsfrist bezieht. Ein solches Verständnis liegt insbesondere deshalb nahe, weil im Zeitpunkt des Antrags bereits beide Fristen abgelaufen waren.

b) Ein hinreichender Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegt vor. Die Klägerin war ohne ihr Verschulden verhindert, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten (§ 233 ZPO). Ist – wie hier – zunächst nur Prozesskostenhilfe beantragt worden und soll mit der Berufungsbegründung zugewartet werden, bis über das Prozesskostenhilfegesuch entschieden ist, ist nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe in der Regel Wiedereinsetzung in die verstrichene Begründungsfrist zu gewähren, wenn die Mittellosigkeit kausal für die Fristversäumung war (vgl. Heßler, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl., § 520, Rn. 39 m .w. N.). Letzteres ist in der vorliegenden Gestaltung zu bejahen. Dass die Klägerin vorgetragen hat, Verwandte und Freunde wären bereit gewesen, ihr ab 2005 Geld für eine Hormontherapie in Form von Darlehen zur Verfügung zu stellen, steht einer Ursächlichkeit zwischen Mittellosigkeit und Fristversäumung nicht entgegen. Wer kein für die Prozesskosten einzusetzendes Vermögen hat, darf nicht darauf verwiesen werden, einen Kredit aufzunehmen, statt auf Prozesskostenhilfe zurückzugreifen.

2.

Die Klägerin hat die Beschwerdebegründung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist eingereicht (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

a) Gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO beträgt die Wiedereinsetzungsfrist einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Liegt das Hindernis in der Mittellosigkeit der Partei, entfällt es für die Berufungseinlegung grundsätzlich mit der Bekanntgabe des Beschlusses über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe. Ist in derartigen Konstellationen die Berufungsbegründungsfrist ebenfalls versäumt worden, ist § 234 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO dahin zu interpretieren, dass die Frist zur Nachholung der Berufungsbegründung erst mit der Mitteilung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist läuft (vgl. BGH, NJW 2007, S. 3354, 3355 f. mit w. N.).

b) Der Beschluss vom 25. Januar 2012, mit dem der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt worden ist, ist den Bevollmächtigten am 9. Februar 2012 zugestellt worden. Die Berufungsbegründung der Klägerin ist zwar erst am 14. März 2012 und damit außerhalb der am 9. Februar 2012 in Lauf gesetzten Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO eingegangen. Das ist jedoch deshalb unschädlich, weil die Klägerin erstmals am 11. Januar 2012 und sodann noch zwei weitere Male rechtzeitig Verlängerungen der Berufungsbegründungsfrist beantragt hat, die ihr jeweils durch den Senatsvorsitzenden – teilweise mit ausdrücklicher Zustimmung der Gegenseite – bewilligt worden sind. Die verlängerte Frist lief am 14. März 2012 ab. An diesem Tag ist die Berufungsbegründung bei Gericht eingegangen. Auf die Wirksamkeit der Fristverlängerungen durfte die Klägerin vertrauen.

aa) Der Senat verkennt nicht, dass gesetzliche Fristen gemäß § 224 Abs. 2 ZPO prinzipiell nur in den besonders bestimmten Fällen verlängert werden können und § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO eine Verlängerung der Wiedereinsetzungsfrist bei Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht vorsieht. In besonders gelagerten Gestaltungen kommt jedoch eine teleologisch erweiternde Auslegung der genannten Vorschriften in Betracht mit der Folge, dass die Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO angemessen verlängert werden kann (vgl. BGH, NJW-RR 2008, S. 146 f.). Für einen solchen Weg spricht insbesondere der Umstand, dass die §§ 234Abs. 1 Satz 2, 224 Abs. 2 ZPO eine bedürftige Partei deutlich schlechter stellen als eine nicht bedürftige Partei, weil eine nicht bedürftige Partei in den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzen eine Verlängerung der Begründungsfrist erhält, während der bedürftigen Partei dieses Recht dem Gesetzeswortlaut zufolge nicht zusteht, wenn nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe eine Begründung des Rechtsmittels innerhalb der regulären Frist nicht mehr möglich ist (vgl. BGH, a. a. O., S. 146).

bb) Diese Ungleichbehandlung wird anhand der vorliegenden Konstellation augenfällig. Hätte die Klägerin keine Prozesskostenhilfe beantragen müssen, wäre eine Fristverlängerung in dem tatsächlich gewährten Umfang ohne weiteres gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO zulässig gewesen. Daraus rechtfertigt sich ein Vertrauensschutz zugunsten der Klägerin. Ein solcher kann zwar entfallen, wenn eine Fristverlängerung gewährt wird, die „schlechthin und offensichtlich ausgeschlossen“ ist (vgl. BGH, NJW-RR 2008, S. 146). Das ist hier nach dem Gesagten aber nicht der Fall.

III.

Die Berufung der Klägerin ist überwiegend – in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang – begründet. Ihr steht wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung ein Schadensersatzanspruch gegenüber der Beklagten zu. Diese haftet gemäß §§ 280, 278,249,253 Abs. 2 BGB und §§ 823Abs. 1, 831 Abs. 1 Satz 1,249,253 Abs. 2 BGB. Im Einzelnen gilt Folgendes:

1.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass der Oberarzt S …. , welcher am 22. März 2005 in der endokrinologischen Ambulanz für die Beklagte tätig gewesen ist, bereits damals den Kleinwuchs der Klägerin hätte prognostizieren können und müssen. Bei einem fachgerechten Vorgehen hätte er der Klägerin beziehungsweise ihrem Vater, der sie zu der betreffenden Untersuchung begleitet hat, eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten empfehlen und eine weitere diagnostische Abklärung oder zumindest regelmäßige Verlaufskontrollen nahelegen müssen. In demselben Sinne wäre der Streithelfer der Beklagten zu unterrichten gewesen.

a) Der Sachverständige Dr. A …. ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Arzt mit pädiatrisch-endokrinologischen Fachkenntnissen den bevorstehenden Kleinwuchs der Klägerin bei einem sorgfältigen Vorgehen bereits im Rahmen der Untersuchung am 22. März 2005 hätte erkennen müssen. Zwar habe, so Dr. A …. , eine Bewertung der damaligen Körpergröße der Klägerin in Relation zu der Körpergröße ihrer Eltern und der sich daraus ergebenden genetischen Zielgröße bei isolierter Betrachtung die Diagnose eines familiären Kleinwuchses gerechtfertigt; ein solcher hätte weder zusätzliche Untersuchungen noch eine Verlaufskontrolle oder eine Therapie erfordert. Doch habe der Endokrinologe S …. es versäumt, auf der Grundlage des Knochenalters und der damaligen Körpergröße der Klägerin die prospektive Erwachsenengröße zu berechnen. Anlass dazu hätten insbesondere die von ihm festgestellte beginnende Pubertätsentwicklung (Knospenbrust, beginnende Schambehaarung) und die von dem Radiologen V …. diagnostizierte beschleunigte Skelettreifung geboten. Wie die in der Ambulanzkarte befindlichen Telefaxe belegten, seien die Befunde aller einschlägigen Voruntersuchungen im Haus der Beklagten bekannt gewesen.

Der Radiologe V …. habe dem Handskelettradiogramm der Klägerin entnommen, dass das Skelettalter bei Aufnahme des Röntgenbildes etwa 10 Jahre betragen und damit rund 21 Monate über dem biologischen Alter der Klägerin gelegen habe. An einen solchen Befund hätte sich im Rahmen einer kinderendokrinologischen Untersuchung eine auf die Körpergröße und das Knochenalter gestützte Wachstumsprognose anschließen müssen, auch wenn die Aussagekraft der Röntgenaufnahme wegen der ethnischen Zugehörigkeit der Klägerin und der fehlenden Normwerte für die entsprechende Population eingeschränkt gewesen sei. Die vorzunehmende Berechnung hätte nach der in der Kinderendokrinologie am häufigsten eingesetzten Methode nach B …. und P …. eine prospektive Endgröße von 148,6 cm ergeben. Dieser Wert sei nicht nur deutlich unterdurchschnittlich, sondern liege auch erheblich unterhalb der genetischen Zielgröße. Letztere habe nach den am 22. März 2005 gemessenen Körpergrößen der Eltern der Klägerin 163 cm betragen. Insofern sei bereits am 22. März 2005 ein Kleinwuchs im Erwachsenenalter absehbar gewesen.

b) Weiter hat Dr. A …. reklamiert, dass die Ergebnisse des von dem Kinderarzt S …. initiierten Gonadotropin-Releasing-Hormon-Tests (GnRH-Test) im Haus der Beklagten nicht beachtet worden seien, obwohl sie dort am 22. März 2005 vorgelegen hätten. Zwar lasse, so Dr. A …. , der in dem Laborbericht mit 0,18 ausgewiesene Quotient der Messwerte für das Luteinisierende Hormon (LH) und das Follikel-stimulierende Hormon (FSH) nicht auf eine frühnormale oder vorzeitige Pubertät mit der Gefahr eines Kleinwuchses schließen, weil erst ein Quotient >1 als eindeutiges Zeichen der Pubertät gelte. Doch sei der Laborarzt offenbar nicht mit den in der Kinderendokrinologie relevanten Parametern vertraut gewesen. Das hätte dem Endokrinologen S …. am 22. März 2005 auffallen müssen. Ein genauer Blick auf die Messwerte zeige, dass der besagte Quotient sich auf die basalen LH- und FSH-Werte der 0-Minuten-Probe beziehe. Entscheidend seien jedoch die Werte nach der GnRH-Stimulation in der 30-Minuten-Probe. Der korrekte, daran anknüpfende LH/FSH-Quotient dokumentiere eine laufende, seinerzeit nicht altersentsprechende Pubertätsentwicklung. Er betrage, so Dr. A …. in seiner Anhörung vor dem Senat, 2,15 und weise daher noch deutlicher auf eine Pubertät hin als der Wert der 60-Minuten-Probe (1,35), den er in seinem schriftlichen Gutachten versehentlich herangezogen habe. Ein solcher Befund hätte ebenfalls eine Berechnung der prospektiven Erwachsenengröße nach sich ziehen müssen, die auf eine über den familiären Kleinwuchs hinausgehende spätere Wachstumseinschränkung hingedeutet hätte.

c) Wenn der Oberarzt S …. am 22. März 2005 den maßgebenden LH/FSH-Quotienten auf der Grundlage der Ergebnisse des vorliegenden GnRH-Tests errechnet und die prospektive Erwachsenengröße nach der Methode Bayley / Pinneau bestimmt hätte, hätte er dem Gutachten des Sachverständigen Dr. A …. zufolge sichere Hinweise auf eine frühnormale Pubertätsentwicklung mit signifikanter Beschleunigung der Skelettalterung und erheblicher Einschränkung der Wachstumsprognose erlangt. Darauf hätte, so Dr. A …. , nach fachärztlichem Standard mit monatlichen Injektionen eines – pubertätsbremsenden – GnRH-Agonisten reagiert werden müssen.

Außerdem sei eine weitere diagnostische Abklärung der Befunde oder zumindest eine Verlaufskontrolle geboten gewesen. Zwar bestehe nach den Leitlinien nur dann ein zwingender Anlass für eine tiefergehende Diagnostik, wenn eine vorzeitige Pubertät vorliege, wenn also Zeichen einer Pubertät bei einem Kind unter 8 Jahren festzustellen seien; demgegenüber habe die Klägerin sich im Zeitpunkt der maßgebenden Untersuchungen bereits im 9. Lebensjahr befunden. Indes seien die in ihrem Fall zu berücksichtigenden Faktoren von einer solchen Qualität gewesen, dass sie Eigenschaften einer vorzeitigen Pubertät besessen hätten. Das habe entscheidend für eine diagnostische Abklärung oder zumindest für eine Verlaufskontrolle gesprochen. Immerhin hätte nach den erhobenen Befunden durchaus an einen Tumor in den Eierstöcken, in den Nebennieren oder in der Hirnanhangdrüse gedacht werden können, wenn auch nur mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 2%.

d) Der Senat hält das Gutachten des Sachverständigen Dr. A …. für überzeugend.

aa) Zweifel an seiner Sachkunde bestehen nicht. Er ist als Oberarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des A….. Kinderkrankenhauses tätig und Spezialist auf dem Gebiet der pädiatrischen Endokrinologie. Schon seine schriftlichen Ausführungen lassen erkennen, dass er sich intensiv mit dem Fall der Klägerin auseinandergesetzt hat. Seine Anhörung vor dem Senat, in der er einzelne Punkte noch vertieft und erläutert hat, hat diesen Eindruck untermauert. Insgesamt ist das Gutachten ohne weiteres nachvollziehbar und plausibel. Soweit einige in dem schriftlichen Gutachten enthaltenen Daten – überwiegend Jahreszahlen – unzutreffend sind (vgl. die Übersicht in der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 16. Januar 2014, Bd. III Bl. 1 d. A.), handelt es sich um offensichtliche Schreibfehler, die die wesentlichen Aussagen des Sachverständigen nicht in Frage stellen.

bb) Den Darlegungen des Sachverständigen Dr. A …. wird auch durch das Gutachten des Sachverständigen P .. D … H …. nicht der Boden entzogen. Zwar vermochte P … D … H …. keinen Behandlungsfehler auf Seiten der Beklagten zu erkennen. Doch hält der Senat seine Erwägungen nicht für geeignet, um als Entscheidungsgrundlage zu dienen.

(1) Das Gutachten vom 10. Mai 2011, welches P… D … H …. für das Landgericht verfasst hat, beruht seinem Wortlaut nach auf der Prämisse, dass der Klägerin am 22. März 2005 – der Eintragung in der Ambulanzkarte entsprechend – Verlaufskontrollen empfohlen worden sind („[…] Verlaufsbeobachtung notwendig […]. In einer Karteikarte […] wird die Notwendigkeit halbjährlicher Kontrollen dokumentiert. […] Wie handschriftlich vermerkt, wären Verlaufskontrollen der Schlüssel zur Notwendigkeit eventuell weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen gewesen.“ – S. 6 f. des Gutachtens, Bd. I Bl. 182 f. d. A.).

(2) Nachdem die Beweisaufnahme vor dem Senat ergeben hatte, dass der Oberarzt S …. der Klägerin beziehungsweise ihrem Vater noch nicht einmal eine Verlaufskontrolle nahegelegt hat (dazu näher unten), hat der Senat P… D … H …. beauftragt, den Fall der Klägerin unter Berücksichtigung dieser Feststellung ergänzend zu begutachten.

In seiner daraufhin verfassten Stellungnahme vermengt P… D.. H…. – wie bereits in seinem ersten Gutachten – zwei voneinander zu trennende Punkte, nämlich auf der einen Seite die Frage, ob aus medizinischer Sicht Kontrollen des Wachstums oder andere Maßnahme geboten gewesen sind, und auf der anderen Seite das Problem, ob und gegebenenfalls welche der durch die medizinische Versorgung entstehenden Kosten die zuständige Gebietskörperschaft nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hätte tragen müssen. So heißt es in dem ergänzenden Gutachten unter anderem, es bestehe für einen Arzt „keinerlei Behandlungsauftrag, die Körpergrößenentwicklung von Patienten, die sich im Asylbeantragungsverfahren befinden, prospektiv zu überwachen“ (S. 3 des Gutachtens, Bd. II Bl. 386 d. A.).

Noch deutlicher tritt die unzureichende Differenzierung zwischen medizinischer Indikation und Kostenübernahme in folgender Formulierung zu Tage: „Da es sich nicht um ein akutes Krankheitsbild oder um einen Schmerzzustand handelte, kann in diesem Zusammenhang nicht von der Notwendigkeit von Verlaufskontrollen gesprochen werden. Hierzu bestand nach dem Versicherungsschein kein Behandlungsauftrag“ (S. 3 des Gutachtens, Bd. II Bl. 386 d. A.). Mit dieser Erklärung hat P… D.. H….sich von der eigentlichen Beweisfrage, ob am 22. März 2005 aus medizinischer Sicht weitere Schritte geboten gewesen sind und gegebenenfalls welche, deutlich entfernt.

Das beschriebene Vorgehen des Sachverständigen relativiert auch die an anderer Stelle zu findende Aussage, eine „dezidierte Verlaufsbeobachtung“ sei in der Regel nicht indiziert, wenn sich die Körpergröße – wie im Fall der Klägerin – auf der 10er Perzentile bewege. Entsprechendes gilt für seine Erklärung, die Aussage in dem ursprünglichen Gutachten, wonach Verlaufskontrollen der Schlüssel zur Notwendigkeit eventueller weiterer diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen gewesen wären, sei eine nur ex post zu gewinnende Erkenntnis. Der sich unmittelbar anschließende Rekurs auf den Asylbewerberstatus der Klägerin („Auch hätten die Asylbewerber […] von sich aus erkennen können, dass kein realer Anspruch auf die Leistung bestand“ – S. 5 des Gutachtens, Bd. II Bl. 388 d. A.) nährt wiederum den Verdacht, dass P .. D… H ….sich entscheidend von dem Aufenthaltsstatus hat leiten lassen.

2.

Von denjenigen Maßnahmen, die aufgrund der Untersuchung am 22. März 2005 hätten veranlasst werden müssen (monatliche Injektionen eines GnRH-Agonisten, weitergehende Diagnostik oder Verlaufskontrolle), hat man im Haus der Beklagten nicht eine initiiert. Ebenso wenig hat der mit der Untersuchung befasste Endokrinologe S …. die Klägerin oder ihren Vater über die medizinische Notwendigkeit dieser Schritte unterrichtet. Auch in seinem an den Streithelfer der Beklagten gerichteten Arztbrief fehlen eindeutige Hinweise auf eine Indikation für eine Behandlung mit einem GnRH-Agonisten und auf das Erfordernis einer weiteren diagnostischen Abklärung oder regelmäßiger Verlaufskontrollen. Durch diese Versäumnisse hat der für die Beklagte tätig gewordene Oberarzt S …. seine ärztlichen Sorgfaltspflichten verletzt.

a) Dass der Klägerin eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten oder eine weitergehende Diagnostik nahegelegt worden ist, trägt die Beklagte selbst nicht vor. Ihre Behauptung, der Oberarzt S … habe der Klägerin beziehungsweise deren Vater zumindest eine Kontrolle des Wachstumsverlaufs empfohlen, ist durch das Ergebnis der Beweisaufnahme widerlegt. Insoweit hält der Senat an der Beweiswürdigung fest, die er – seinerzeit noch in anderer Besetzung – nach Anhörung des Vaters der Klägerin sowie Vernehmung der Klägerin, des Zeugen M …. S …. und der Zeugin J …. J …. in seinem Hinweis- und Beweisbeschluss vom 25. Juli 2012 (Bd. II Bl. 369 ff.) niedergelegt hat (zur Zulässigkeit eines solchen Vorgehens vgl. BGH, NJW 1997, S. 1586, 1587 m. w. N.). Nach wie vor ist der Senat davon überzeugt, dass der Oberarzt S …. der Klägerin und ihrem Vater im Anschluss an die Untersuchung vom 22. März 2005 lediglich sinngemäß erläutert hat, dass das Wachstum der Klägerin sich im Normbereich bewege und keinen Anlass zur Sorge biete. Dafür sind folgende Erwägungen maßgebend:

aa) Der Senat hält die Schilderungen des Vaters der Klägerin zu den Geschehnissen am 22. März 2005 für glaubhaft. Der Vater der Klägerin hat anschaulich und plausibel berichtet, dass ihn 2004/2005 die Sorge umgetrieben habe, seine Tochter V …. könne an „Kleinwuchs“ leiden. Ebenso plastisch hat er beschrieben, dass und weshalb er mit der Behandlung im Haus der Beklagten nicht zufrieden gewesen sei und der damaligen Erklärung des Zeugen S …. , das Wachstum seiner Tochter sei normal, keinen Glauben habe schenken können.

bb) Untermauert wird seine Darstellung durch die Angaben der Klägerin. Danach hat der behandelnde Arzt im Haus der Beklagten sinngemäß geäußert, mit ihr sei alles in Ordnung; ihre Körpergröße sei nicht zu beanstanden. Das wiederum, so die Klägerin, habe ihren Vater sehr aufgeregt, weil er den Eindruck gehabt habe, der untersuchende Arzt habe „sich nicht so den Kopf gemacht“.

cc) Der Senat hat keineswegs den Eindruck gewonnen, dass die Klägerin und ihr Vater ihre Aussagen aufeinander abgestimmt haben. Ebenso wenig war eine Intention der Klägerin oder ihres Vaters erkennbar, die fraglichen Vorgänge notfalls auch der Wahrheit zuwider in einem für sie günstigen Licht darzustellen. Die Klägerin hat freimütig eingeräumt, sich an viele Einzelheiten aus dieser Zeit nicht mehr erinnern zu können, was ohne weiteres nachvollziehbar ist, wenn man sich vor Augen hält, dass sie im März 2005 erst knapp 8½ Jahre alt gewesen ist.

dd) Das von dem Streithelfer der Beklagten vorgelegte Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. S …. ist nicht geeignet, Zweifel daran zu begründen, dass die Klägerin wahrheitsgemäß ausgesagt hat. Abgesehen davon, dass Dr. S …. sein Gutachten nur nach Aktenlage erstattet hat, stellt er sogar fest, es seien „keine eindeutigen Hinweise auffindbar […], die darauf hindeuten, daß V …. eine wesentlich verzerrte oder verfälschte Erinnerung“ wiedergegeben habe. Ihre „spezifische“, das heißt auf die länger zurückliegende Untersuchungssituation bezogene, „Glaubwürdigkeit“ könne nicht in Zweifel gezogen werden. Sie habe „in einer typischen Jugendlichensprache die damalige Befindlichkeit ihres Vaters recht plastisch und durchaus nachvollziehbar“ geschildert. Sie habe nicht behauptet, sich an alles erinnern zu können, sondern Gedächtnislücken eingeräumt.

Soweit der Streithelfer der Beklagten einwendet, die Klägerin habe nicht mehr zwischen dem differenzieren können, was sie selbst erlebt habe, und dem, was ihr durch Erzählungen und Kommentare vermittelt worden sei, wird damit zwar eine reale – und vom Senat auch in Betracht gezogene – Möglichkeit beschrieben. Doch zieht selbst der Gutachter Dr. S …. aus dieser Möglichkeit nicht den Schluss, dass die Aussagen von Kindern und Jugendlichen über ein länger zurückliegendes Geschehen per se unglaubhaft seien. Vielmehr schreibt er: „Dieser Umstand [scil. die „Kontamination“ mit den Erinnerungen an nachträgliche Bewertungen, Ergänzungen oder Modifikationen] muß als Normalfall betrachtet werden; bei der psychologischen Beurteilung von Glaubwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen kommt es daher darauf an, sich ein differenziertes Bild von der Gesamtheit der Aussage zu machen“. Letzteres hat der Senat getan. Im Übrigen führt eine differenzierende Betrachtung selbst den Gutachter Dr. S …. nicht zu der Aussage, dass die Schilderungen der Klägerin unglaubhaft seien.

 

ee) Der Zeuge S …. hat zwar zunächst – abweichend von dem Vater der Klägerin – bekundet, er rate in Gestaltungen der vorliegenden Art gewöhnlich zu einer Kontrolle in einem halben oder in einem Jahr, wobei er angesichts der Eintragung in der Ambulanzkarte davon ausgehe, dass er in dem konkreten Fall eine Kontrolle in einem halben Jahr empfohlen habe. Im Ergebnis ist die Aussage des Zeugen S …. aber nicht geeignet, der Darstellung des Vaters der Klägerin den Boden zu entziehen. Bei zusammenfassender Betrachtung stellt die Aussage des Zeugen S …. sich keineswegs als stringent dar. Im Verlauf seiner Vernehmung ist unter anderem die Frage erörtert worden, ob er dem Streithelfer der Beklagten, der die Klägerin an die Beklagte überwiesen hatte, konkrete Vorgaben für eine Verlaufskontrolle übermittelt habe, gegebenenfalls welche. Ein scharfes und plausibles Bild haben die betreffenden Antworten des Zeugen S …. nicht ergeben, insbesondere nicht in Zusammenschau mit dessen Arztbrief vom 23. März 2005. Vielmehr haben seine teilweise eher ausweichend anmutenden Äußerungen nur neue Ungereimtheiten sichtbar werden lassen. Schließlich hat der Zeuge S ….. die Geschehnisse nach der Untersuchung vom 22. März 2005 auf eine entsprechende Nachfrage des Senats wie folgt zusammengefasst: Den Eltern der Klägerin habe er sinngemäß zu verstehen geben wollen, dass sie sich um das Wachstum ihrer Tochter keine Sorgen zu machen bräuchten, und wenn doch, dass man dann eine Kontrolle durchführen könne. Dem Streithelfer der Beklagten habe er verdeutlichen wollen, dass kein Kleinwuchs vorliege und kein akuter Handlungsbedarf bestehe und er deshalb abwarten könne.

Eine klare und unbedingte Empfehlung dahin, das Wachstum der Klägerin in bestimmten zeitlichen Abständen zu kontrollieren, kann dem nicht entnommen werden.

ff) Ebenso wenig vermag der Senat der Aussage der Zeugin J …. zu folgen, wonach der Zeuge S …. dem Vater der Klägerin geraten hat, sich in einem halben oder in einem Jahr wieder in der dortigen Ambulanz vorzustellen. Angesichts der Vielzahl an Patienten, mit denen die Zeugin J …. nach eigenem Bekunden Kontakt hat, erscheint es dem Senat schon nicht glaubhaft, dass sie sich mehr als 7 Jahre nach dem fraglichen Gespräch noch konkret an eine derartige Empfehlung erinnert. Dies umso weniger, als ihr weitere Einzelheiten nicht im Gedächtnis geblieben sind. Allein der Umstand, dass die Klägerin sich seinerzeit mit einem Krankenschein für Asylbewerber in der Ambulanz vorgestellt hat, vermag die isolierte Erinnerung an ein einzelnes, möglicherweise entscheidungserhebliches Detail selbst dann nicht zu erklären, wenn dies eher selten vorkommt. Ein innerer Zusammenhang zwischen dem Krankenschein für Asylbewerber und etwaigen Empfehlungen, die der Arzt dem betreffenden Patienten nach einer Untersuchung mit auf den Weg gibt, ist nicht erkennbar.

gg) Hinzu kommt, dass die Aussagen der Zeugen S …. und J …. ihrerseits in Teilen voneinander abweichen. Unter anderem hat der Zeuge S …. bekundet, er sei sich sehr sicher, dass er – entgegen der angeblichen Erinnerung der Zeugin J …. – nicht gesagt habe, der Vater der Klägerin möge sich gerade in der dortigen Ambulanz wieder vorstellen.

Außerdem hat der Zeuge S …. hervorgehoben, er besitze eine genaue Erinnerung daran, dass er in dem Anmelderaum, in dem die Zeugin J …. sich seinerzeit befunden habe, mit dem Vater der Klägerin ein längeres Gespräch über die Untersuchungsergebnisse geführt habe. Demgegenüber hat die Zeugin J …. erklärt, sie habe ein derartiges Gespräch nicht mitbekommen; dies müsse zuvor im Nebenraum geführt worden sein.

Die genannten Widersprüche vermochten die Zeugen S …. und J …. selbst auf Vorhalt der jeweils anderen Aussage nicht plausibel aufzulösen.

hh) Der Eintrag in der Ambulanzkarte „½ jährl. Kontrolle d. Körperl.“ ist ebenfalls nicht geeignet, die Überzeugung des Senats zu erschüttern, wonach die Klägerin am 22. März 2005 ohne weitere ärztliche Empfehlungen nach Hause entlassen worden ist. Der Senat verkennt nicht, dass einer ordnungsgemäßen Dokumentation grundsätzlich Indizwirkung zugunsten der Behandlungsseite zukommt. Diese Indizwirkung ist jedoch durch die oben wiedergegebenen Schilderungen der Klägerin und ihres Vaters entkräftet worden. Hinzu kommt, dass auch in dem Arztbrief, den der Endokrinologe S …. nach der Untersuchung an den Streithelfer der Beklagten gerichtet hat, keine regelmäßige Verlaufskontrolle des Wachstums empfohlen wird. Vielmehr wird sogar dazu geraten, wegen der eingeschränkten Kostenerstattung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von weiteren Untersuchungen abzusehen. Im Übrigen erscheint es nach der Art der Eintragungen, die sich in der Ambulanzkarte unter dem 22. März 2005 finden (unterschiedliches Schriftbild, unterschiedliche Schreibgeräte), keineswegs ausgeschlossen, dass der zitierte Vermerk über die halbjährliche Kontrolle erst nach dem 22. März 2005 aufgenommen worden ist.

b) Dem Vorwurf einer fehlerhaften Behandlung und unzureichenden therapeutischen Aufklärung kann die Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Klägerin lediglich einen Krankenschein für eine ärztliche Behandlung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorgelegt habe und dieser nur die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände notwendigen Kosten abdecke. Die Beklagte ist gerade mit der Frage nach der prospektiven Endgröße und einem möglichen Minderwuchs in der endokrinologischen Ambulanz der Beklagten vorgestellt worden. Nachdem die Beklagte diese spezielle Behandlung übernommen hatte, schuldete sie zunächst die Einhaltung des fachärztlichen Standards. Zumindest durfte sie in der Untersuchung, Beratung und Therapie nicht aus Kostengründen auf halber Strecke stehenbleiben, ohne die Klägerin oder ihre Eltern zuvor über diesen Umstand in Kenntnis zu setzen. Eine schlichte Aufklärung darüber, dass aus medizinischer Sicht eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten und eine weitergehende Diagnostik oder Verlaufskontrolle angezeigt sei, hätte keinen erheblichen Zusatzaufwand bedeutet. Wäre der Klägerin beziehungsweise ihren Eltern ein entsprechender Hinweis erteilt worden, verbunden mit einer Information über die begrenzten Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, hätten sie eigenverantwortlich darüber entscheiden können und müssen, wie weiter verfahren werden solle.

3.

Die aufgezeigten Versäumnisse auf Seiten der Beklagten sind für den heutigen Kleinwuchs der Klägerin mit ursächlich geworden. Wie oben dargelegt, hätte der Endokrinologe S …. sichere Hinweise auf eine frühnormale Pubertätsentwicklung mit signifikanter Beschleunigung der Skelettalterung und erheblicher Einschränkung der Wachstumsprognose erlangt, wenn er die maßgebenden Befunde erhoben, also den LH/FSH-Quotienten anhand der 30-Minuten-Probe errechnet und die prospektive Erwachsenengröße nach der Methode Bayley / Pinneau bestimmt hätte. Bei einem solchen Resultat wären umgehende monatliche Injektionen eines GnRH-Agonisten veranlasst gewesen.

a) Die Klägerin hat bewiesen, dass sie mit einer solchen Behandlung mindestens 5 cm größer geworden wäre, als sie heute – nach Beendigung ihres Wachstums – ist.

aa) Dabei geht der Senat davon aus, dass die tatsächliche Endgröße der Klägerin 144 cm beträgt. Zwar hat sie selbst ihre Größe auf Nachfrage mit 143 cm angegeben. Doch ist in allen neueren Behandlungsunterlagen von rund 144 cm die Rede, jeweils verbunden mit dem Hinweis, dass mit einem signifikanten Wachstum nicht mehr zu rechnen sei – so etwa in dem Schreiben des P .. D … B …. vom 30. April 2010 (Bd. I Bl. 161 f. d. A.), in dem Arztbrief des Chefarztes der Abteilung für Pädiatrie des L… M …. vom 29. Mai 2009 (Bd. I Bl. 39 d. A.), in dem Arztbrief der P …. für Allgemeine Kinderheilkunde des U …M … vom 19. Juni 2009 (Bd. I Bl. 37 f. d. A.) oder in dem Arztbrief der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums B … -N … vom 29. September 2009 (Bd. I Bl. 40 f. d. A.).

bb) Zu der wachstumsverstärkenden Wirkung der GnRH-Agonisten-Therapie hat der Sachverständige Dr. A …. ausgeführt, dass der Erfolg davon abhänge, in welchem Alter die Pubertät beginne und wann mit der Behandlung begonnen werde. Liege dieser Zeitpunkt vor dem 6. Lebensjahr, sei mit einer Verbesserung der Endlänge um 9 bis 10 cm zu rechnen; zwischen dem 6. und dem 8. Lebensjahr sei eine Verbesserung um 4 bis 7 cm zu erwarten, und zwar jeweils bezogen auf die Wachstumsprognose bei Therapiebeginn. Mädchen, bei denen die Pubertätsmerkmale nach dem achten, aber vor dem zehnten Lebensjahr sichtbar werden (frühnormale Pubertät), profitierten von der Therapie in der Regel nicht oder nicht wesentlich. Bei der Klägerin, die im März 2005 Hinweise auf einen frühnormalen Pubertätsbeginn gezeigt habe, seien indes Besonderheiten zu beachten. Während die frühnormale Pubertät grundsätzlich zu keiner Einschränkung in der Endlänge führe, sei die Wachstumsprognose der Klägerin im März 2005, also im Alter von 8 Jahren und 6 Monaten, mit 149 cm bereits um 14 cm gegenüber der genetischen Zielgröße vermindert gewesen. Insofern sei die Ausgangssituation der Klägerin vergleichbar gewesen mit der Prognose einer Patientin, bei der die Pubertät vorzeitig, das heißt vor Vollendung des 8. Lebensjahres, begonnen habe. Deshalb sei auch im Fall der Klägerin mit einer Verbesserung des Wachstums um 4 bis 7 cm zu rechnen gewesen.

Bei der genannten Spannbreite handele es sich naturgemäß um eine Schätzung. Allerdings lasse sich die bei Therapiebeginn angestellte Wachstumsprognose prinzipiell halten. Denn mit dem Einsetzen der Behandlung werde die hormonelle Beschleunigung der Pubertät beendet. Anschließend könne die prospektiv berechnete Größenentwicklung ungestört ihren Fortgang nehmen. Insofern sei die bei Therapiebeginn angestellte Prognose verlässlich, während ein darüber hinausgehendes Wachstum nicht sicher vorhergesagt werden könne.

cc) Nach diesen überzeugenden Erläuterungen des Sachverständigen Dr. A … steht fest, dass die Klägerin wenigstens 149 cm groß geworden wäre, wenn man nach der Untersuchung im Haus der Beklagten umgehend eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten begonnen hätte. Wie dargelegt, war dies die Wachstumsprognose im März 2005.

dd) Dass der Klägerin tatsächlich zeitnah nach der Untersuchung eine Behandlung mit einem GnRH-Agonisten zuteil geworden wäre, wenn man ihr beziehungsweise ihrem Vater eine solche Therapie empfohlen hätte, steht für den Senat außer Zweifel.

(1) Regelmäßig spricht bereits eine tatsächliche Vermutung dafür, dass ein Patient sich entsprechend einer ihm erteilten therapeutischen Aufklärung verhalten hätte (vgl. BGH, NJW 1989, S. 2318, 2320). Im Übrigen belegen die glaubhaften Schilderungen der Klägerin und ihres Vaters vor dem Senat und nicht zuletzt die Behandlungsdokumentation des Streithelfers der Beklagten, dass der Vater der Klägerin sich bereits 2004/2005 wegen eines befürchteten Kleinwuchses seiner Tochter sehr in Sorge befunden und dringend nach einer Behandlungsmöglichkeit gesucht hat.

(2) Ferner ist der Senat davon überzeugt, dass es dem Vater der Klägerin gelungen wäre, eine Behandlung mit einem GnRH-Agonisten privat zu finanzieren.

 

(a) Den Darlegungen des Sachverständigen Dr. A …. zufolge hätte eine solche Therapie 2 bis 3 Jahre gedauert. Der Hormonwirkstoff hätte, so Dr. A …., ungefähr 250,00 € pro Monat gekostet. Ferner müsse ein Patient sich im Zuge einer Behandlung mit einem GnRH-Agonisten alle 3 Monate zu einer Kontrolluntersuchung einfinden, wofür rund 30,00 € pro Quartal zu veranschlagen seien.

Legt man den zuletzt Betrag auf die einzelnen Monate um, ergeben sich laufende monatliche Kosten in Höhe von 260,00 €, mithin 3.120,00 € pro Jahr.

Wie Dr. A …. weiter ausgeführt hat, kommen noch mindestens ein GnRH-Test zur Kontrolle des Therapieerfolges (Kosten: circa 100,00 €) und eine Knochenalterungsbestimmung (Kosten: circa 20,00 €) hinzu.

(b) Die Tante der Klägerin, die Zeugin F …. R …. , hat vor dem Senat bekundet, dass sie 2005 Goldschmuck im Wert von rund 6.000,00 € besessen habe und diesen verkauft hätte, wenn sie damit ihrer Nichte hätte helfen können. Sie habe seinerzeit noch in Syrien gewohnt und von dem Einkommen ihres Ehemannes gelebt, der Beamter gewesen sei.

Der Senat hält die Zeugin F …. R …. für glaubwürdig und ihre Aussage für glaubhaft. Sie war während ihrer Vernehmung erkennbar bemüht, alle ihr gestellten Fragen genau zu beantworten. Insbesondere ist deutlich geworden, dass sie keineswegs ihre Aussage an vermeintliche Erwartungen oder Interessen ihres Bruders angepasst hat. Vorhalte des Vaters der Klägerin, die offensichtlich darauf abzielten, die Zeugin sollte Grundstücke, die ihm Erbgang ihr zugefallen sein sollten, als ihr Eigentum gegenüber dem Senat benennen, wies die Zeugin sachlich, aber entschieden zurück. Nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Eindrucks, den sie während ihrer Vernehmung hinterlassen hat, hegt der Senat keinerlei Zweifel, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen.

(c) Gleiches gilt für den Zeugen M …. H …. . Er hat ausgesagt, dass er dem Vater der Klägerin ab 2005 Geld für die Behandlung seiner Tochter zur Verfügung gestellt hätte, wenn er darum gebeten worden wäre. Zwar hat der Zeuge H …. seinerzeit neben seinem Studium nur ein bescheidenes Einkommen von rund 750,00 € erzielt. Doch hat er bekundet, dass er davon einen Betrag in einer Größenordnung von 100,00 bis 150,00 hätte beisteuern können. Außerdem hat er darauf verwiesen, dass er jedenfalls seinen in Syrien lebenden Vater gebeten hätte, Geld zu schicken. Dieser betreibe in A …. einen Kiosk und hätte ebenfalls finanzielle Mittel aufbringen können.

Dass er und sein Vater bereit gewesen wären, der Klägerin zu helfen, hat der Zeuge H …. damit begründet, dass seine Familie mit der Familie der Klägerin verwandt sei. Zwei bis dreimal im Jahr besuchten sie sich gegenseitig.

(d) Der Senat bezweifelt nicht, dass die von dem Zeugen H …. beschriebene familiäre Hilfsbereitschaft tatsächlich besteht und dass es ihm, notfalls mit der Unterstützung seines Vaters, gelungen wäre, einen nicht unerheblichen Betrag zu den Kosten der Hormonbehandlung beizusteuern. Zusammen mit den rund 6.000,00 € der Zeugin F …. R …. wäre es damit nach Überzeugung des Senats gelungen, die Therapie mit einem GnRH-Agonisten jedenfalls bis Oktober 2007 zu finanzieren.

(e) Ab dem 8. Oktober 2007 ist der Vater der Klägerin ausweislich der von ihm vorgelegten Bescheinigung der AOK Niedersachsen vom 19. Februar 2014 (Bd. III Bl. 50 ff. d. A.) Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und seine Tochter dementsprechend über die Familienversicherung abgesichert gewesen. Dass sich das Schreiben der AOK tatsächlich auf den Vater der Klägerin bezieht, steht aus Sicht des Senats fest. Wie der Vater der Klägerin in der Sitzung am 23. April 2014 plausibel erläutert hat, wohnt er seit 2012 unter der in dem Schreiben aufgeführten Adresse …in A …

(f) Im Übrigen ist der Senat davon überzeugt, dass es dem Vater der Klägerin bereits im Laufe des Jahres 2005 gelungen wäre, Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden, wenn er seinerzeit um die Behandlungsbedürftigkeit seiner Tochter gewusst hätte. Er hat nachvollziehbar vorgetragen, dass er in diesem Fall nicht erst 2007, sondern schon 2005 anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen hätte, um in den Genuss der ihm bis dahin verweigerten Arbeitserlaubnis zu gelangen, und dass er sodann durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit einen Krankenversicherungsschutz für sich und seine Familie erreicht hätte. Weshalb ihm dies, angetrieben durch die Sorge um seine Tochter, nicht bereits 2005 hätte gelingen sollen, ist nicht ersichtlich.

b) Ob die Klägerin bei einer rechtzeitigen Therapie mit einem GnRH-Agonisten die für März 2005 geltende Wachstumsprognose von 149 cm nicht nur erreicht, sondern sogar noch um bis zu 7 cm überschritten hätte, lässt sich nach dem oben Gesagten weder positiv feststellen noch ausschließen. Diese Unsicherheit geht zu Lasten der Beklagten, weil sich unter den konkreten Gegebenheiten die Beweislast im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität umkehrt.

aa) Einen groben Behandlungsfehler, der regelmäßig zu einer Umkehr der Beweislast führt, vermochte der Sachverständige Dr. A … allerdings nicht festzustellen. Vielmehr hat er mehrere Aspekte genannt, welche nach seinem Dafürhalten die unterlassene Auseinandersetzung mit der frühen Pubertätsentwicklung der Klägerin zwar nicht sorgfaltsgerecht, jedoch teilweise nachvollziehbar erscheinen lassen.

Einmal, so Dr. A …. , sei zu berücksichtigen, dass eine Pubertätsentwicklung nach den Leitlinien der Kinderendokrinologie in der Regel keiner weiteren Abklärung bedürfe, wenn die Patientin bei ihrem Einsetzen – wie hier – älter als acht Jahre sei. Weiter falle ins Gewicht, dass der Radiologe V …. die von ihm konstatierte beschleunigte Knochenalterung unter Hinweis auf die ethnische Herkunft der Klägerin relativiert habe. Es sei zu vermuten, dass der Endokrinologe S …. deshalb auf die Berechnung der prospektiven Erwachsenengröße verzichtet habe.

Schließlich müsse berücksichtigt werden, dass die Klägerin im März 2005 übergewichtig gewesen sei; eine frühnormale Pubertät und eine leichte Skelettreifungsbeschleunigung bildeten nicht selten Begleiterscheinungen des Übergewichts. Auch dies könne den Blick des Untersuchers auf die wahre Problematik verstellt haben.

bb) Nach der höchstrichterlichen Judikatur kann eine Beweislastumkehr im Zusammenhang mit der haftungsbegründenden Kausalität auch bei einer einfach-fehlerhaften Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung eingreifen.

(1) Voraussetzung dafür ist, dass sich bei Durchführung der fehlerhaft versäumten Untersuchung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, das heißt grundsätzlich mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50%, ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental und die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen müsste (vgl. BGH, NJW-RR 2007, S. 744, 746; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. U 9, U 53, U 56 f., jeweils m. w. N.). Das ist hier der Fall:

(a) Wie oben ausgeführt, hat der Endokrinologe S …. es am 22. März 2005 versäumt, den maßgebenden LH/FSH-Quotienten auf der Grundlage der Ergebnisse des GnRH-Tests zu errechnen und die prospektive Erwachsenengröße nach der Methode Bayley / Pinneau zu bestimmen. Er hat es damit unterlassen, zwei – nach Ansicht des Sachverständigen Dr. A …. richtungsweisende – Befunde anhand der ihm zur Verfügung Daten zu ermitteln.

(b) Bei Durchführung der gebotenen Maßnahmen hätten sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit so deutliche und gravierende Befunde gezeigt, dass sich deren Verkennung als fundamental und eine Nichtreaktion auf sie als grob fehlerhaft darstellt.

(aa) Zum einen hätte sich, so der Sachverständige Dr. A …. , nach der Methode von Bailey und Pinneau eine um 14 cm hinter der genetischen Zielgröße zurückbleibende, deutlich unterdurchschnittliche prospektive Erwachsenengröße (149 cm) ergeben. Zum anderen hätte die korrekte Auswertung des GnRH-Tests eindeutig auf eine schon eingetretene Pubertätsentwicklung hingewiesen.

(bb) Die erhebliche Relevanz der prospektiven Endgrößenbestimmung und des LH/FSH-Quotienten der 30-Minuten-Probe hat Dr. A …. in seiner Anhörung vor dem Senat nochmals explizit hervorgehoben. Wende sich, so Dr. A …. , eine Patientin mit dem Ansinnen an einen Endokrinologen, die Frage nach einer Wachstumseinschränkung abklären zu lassen, so stelle das Verkennen der Bedeutung dieser Befunde einen unverständlichen Fehler dar, der einem Endokrinologen schlechterdings nicht unterlaufen dürfe.

Damit ist ein grober Behandlungsfehler umschrieben. Ein solcher liegt vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt des entsprechenden Fachs schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH, NJW 2007, S. 2767, 2769, Tz. 25 m. w. N.).

(2) Weitere Voraussetzung für eine Beweislastumkehr in der Fallgruppe der unterlassenen Befunderhebung ist, dass das Unterbleiben der gebotenen Maßnahme generell geeignet ist, den eingetretenen Primärschaden zu verursachen. Hierfür genügt es, dass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Arztfehler als – nicht unbedingt nahe liegende oder gar typische – Ursache für den Gesundheitsschaden in Frage kommt (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. G 214, G 522 m. w. N.).

Das ist in der vorliegenden Gestaltung zu bejahen. Die Erkenntnis, dass eine frühnormale Pubertät in Kombination mit einer beschleunigten Skelettalterung gegeben und eine deutlich unterdurchschnittliche Erwachsenengröße zu erwarten ist, hätte eine Behandlung mit einem GnRH-Agonisten geboten. Eine solche Therapie ist nach dem oben Gesagten generell geeignet, einen Kleinwuchs zu verhindern oder wenigstens abzumildern.

(3) Trotz eines Vorliegens der genannten Voraussetzungen, ist eine Beweislastumkehr ausgeschlossen, wenn ein Kausalzusammenhang zwischen der unterlassenen Befunderhebung und dem beim Patienten eingetretenen Körper- oder Gesundheitsschaden (Primärschaden) äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. G 255, U 87 m. w. N.).

 

Diese Einschränkung greift hier nicht ein. Den Ausführungen des Sachverständigen Dr. A …. zufolge ist es durchaus möglich, dass eine rechtzeitige pubertätshemmende Hormonbehandlung ihre volle wachstumsfördernde Wirkung entfaltet und einen Größengewinn von bis zu 7 cm – bezogen auf die Wachstumsprognose bei Therapiebeginn (149 cm) – bewirkt hätte. Auch lässt sich nicht dahin argumentieren, dass es der Klägerin gar nicht möglich gewesen wäre, eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten zu finanzieren. Wie oben ausgeführt, hat die Klägerin das Gegenteil bewiesen.

cc) Nach alledem ist für die hier zu treffende Entscheidung davon auszugehen, dass die Klägerin heute 156 cm groß wäre, wenn sie in der endokrinologischen Ambulanz der Beklagten fachgerecht behandelt worden wäre.

4.

Aus den genannten Gründen hat die Beklagte dafür einzustehen, dass die Klägerin nunmehr damit leben muss, dass sich ihre Endgröße nicht auf 156 cm, sondern nur auf 144 cm beläuft. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der daraus abzuleitende Schadensersatzanspruch nicht verjährt.

a) Nachdem die Beklagte vor dem Landgericht die Einrede der Verjährung erhoben hatte, hat die Klägerin vorgetragen, sie beziehungsweise ihre Eltern hätten erst 2009 Kenntnis davon erlangt, dass sie unter einem Minderwuchs leide und dass sie im Haus der Beklagten falsch beraten worden sei. Dieser Vortrag ist erheblich. Gemäß §§ 195, 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist frühestens mit dem Schluss des Jahres, in dem der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne große Fahrlässigkeit erlangen müsste. Der erstinstanzliche Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin ist bereits im April 2010 bei dem Landgericht eingegangen und der Beklagten bekannt gemacht worden. Er hat damit gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB die Verjährung gehemmt.

Die Beklagte hat den Darlegungen des Klägers nichts Konkretes entgegengesetzt. Insbesondere hat sie nicht substantiiert vorgetragen, dass die Klägerin bereits bis Ende 2006 von dem haftungsbegründenden Geschehen und der angeblichen Beteiligung der Beklagten Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können. Deshalb dringt die Beklagte mit der Einrede der Verjährung nicht durch.

b) Der Streithelfer der Beklagten hat sich ebenfalls auf Verjährung berufen. Indes haben seine Prozessbevollmächtigten die Einrede der Verjährung ausdrücklich „für den Streithelfer“ erhoben. Das ist für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits unbeachtlich, weil es hier nicht um Schadensersatzansprüche gegenüber dem Streithelfer geht. Im Übrigen ist auch der Streithelfer der Darstellung der Klägerin, sie habe erst 2009 von den haftungsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt, nicht mit Substanz entgegengetreten.

5.Wegen der fehlerhaften Behandlung im Haus der Beklagten steht der Klägerin gemäß §§ 280, 278,253 Abs. 2 BGB und §§ 823Abs. 1, 831 Abs. 1 Satz 1,253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld zu. Das auf den Behandlungsfehler zurückzuführende Minderwachstum der Klägerin in einer Größenordnung von 12 cm rechtfertigt nach Ansicht des Senats ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 €.

a) Die Schmerzensgeldhöhe muss unter umfassender Berücksichtigung aller für die Bemessung maßgebenden Umstände festgesetzt werden. Bemessungsfaktoren sind nicht nur Ausmaß und Schwere der Verletzungen, sondern etwa auch das Verbleiben von dauernden Behinderungen und das Alter des Verletzten (vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 73. Aufl., § 253, Rn. 15 ff.).

b) Dass die Klägerin durch ihren Kleinwuchs in dem heutigen Ausmaß – im Vergleich zu Menschen mit einer Körperlänge von 156 cm – erheblich in ihrer Lebensführung und Lebensqualität beeinträchtigt ist, liegt auf der Hand. Die negativen Auswirkungen können in nahezu allen Lebensbereichen zum Tragen kommen, etwa bei alltäglichen Verrichtungen (Einkaufen, Tätigkeiten im Haushalt etc.), in der Ausbildung, bei der Berufswahl und der Berufsausübung, bei der Pflege sozialer Kontakte, bei der Auswahl von Bekleidung oder bei der Freizeitgestaltung. Schon im Hinblick darauf ist es ohne weiteres nachvollziehbar, wenn die Klägerin vorträgt, dass ihr Kleinwuchs für sie eine spürbare psychische Belastung darstellt.

Sie ist erst 17 Jahre alt und wird sich den Rest ihres Lebens mit den Erschwernissen, die eine Körperlänge von nur 144 cm mit sich bringt, arrangieren müssen, es sei denn, sie entschließt sich zu der von ihr avisierten operativen Beinverlängerung. Ein solcher Eingriff ist jedoch seinerseits – zumindest vorübergehend – mit massiven körperlichen Beeinträchtigungen verbunden und birgt nicht unerhebliche Risiken in sich. Deshalb wirkt sich eine solche Option auch nicht etwa schmerzensgeldmindernd aus (vgl. BGH, NJW 1994, S. 1592, 1593; NJW 1989, S. 2332, jeweils m. w. N.).

c) Weiter war bei der Bemessung des Schmerzensgeldes der Grundsatz zu beachten, dass für vergleichbare Verletzungen ein annähernd gleiches Schmerzensgeld zu gewähren ist. Zwar ist keine Gerichtsentscheidung ersichtlich, die auf eine den Einzelheiten des vorliegenden Falls entsprechende Konstellation abzielt. Doch zeigt ein Blick auf Gestaltungen, in denen bislang Schmerzensgelder von 40.000,00 € zugesprochen worden sind, dass eine solche Größenordnung auch unter den konkreten Umständen angemessen ist.

d) Das Schmerzensgeld ist – wie beantragt – gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu verzinsen.

6.

Darüber hinaus hat die Klägerin einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der fehlerhaften Behandlung am 22. März 2005 im Haus der Beklagten noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. In diesem Sinne hat der Senat die von der Klägerin beantragte Feststellung präzisiert.

Das gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist zu bejahen. Geht es – wie hier – um die Verletzung eines absoluten Rechtsguts, so reicht es aus, wenn künftige Schadensfolgen möglich, ihre Art und ihr Umfang, sogar ihr Eintritt aber noch ungewiss sind (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl., § 256, Rn. 9 m. w. N.). Das ist hier der Fall. Gedacht werden kann etwa an finanzielle Aufwendungen, die erforderlich sind, um den sorgfaltswidrig nicht verhinderten Minderwuchs zu kompensieren, oder an psychische oder physische Beeinträchtigungen, die auf den Behandlungsfehler zurückgehen und nach ihrer Art oder ihrem Ausmaß heute noch nicht vorhersehbar sind.

 

7.

Soweit die Klägerin einen materiellen Schaden in Höhe von 2.595,00 € geltend macht, war die Klage abzuweisen. Der genannte Betrag setzt sich aus angeblichen Fahrtkosten und einer „allgemeinen Schadenspauschale“ in Höhe von 25,00 € zusammen. Indes lässt die Klägerin einen substanziierten Vortrag dazu vermissen, inwieweit die Fahrtkosten jeweils auf der behaupteten Fehlbehandlung beruhen. Ein derartiger Vortrag wäre umso mehr geboten gewesen, als eine Therapie mit einem GnRH-Agonisten ebenfalls in einem gewissen Umfang Fahrtkosten verursacht hätte. Auf diese Aspekte hat der Senat die Klägerin mit Beschluss vom 26. März 2014 ausdrücklich hingewiesen. Konkretisiert hat die Klägerin ihren Vortrag darauf nicht. Ebenso wenig lassen ihre Darlegungen auch nur ansatzweise erkennen, worauf sich die „allgemeine Schadenspauschale“ gründet.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 92, 97 Abs. 1,101 Abs. 1 ZPO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708Nr. 10, 711,709 Satz 2 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache besitzt keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Ebenso wenig erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).

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