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Radiologenhaftung für Diagnosefehler – Voraussetzungen

Ein Radiologe übersah im MRT-Bild eine gefährliche Wucherung im Ohr eines Patienten – begann damit eine Odyssee aus Operationen und bleibenden Schäden? Obwohl ein Fehler festgestellt wurde, bleibt die Frage: Wer trägt die Verantwortung für die Folgen einer übersehenen Diagnose, wenn der Zusammenhang zwischen Versäumnis und Leid nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann?

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: OLG Dresden
  • Datum: 10.10.2023
  • Aktenzeichen: 4 U 634/23
  • Verfahrensart: Berufungsverfahren im Zusammenhang mit Schmerzensgeld- und Schadensersatzforderungen wegen behaupteter fehlerhafter ärztlicher Behandlung
  • Rechtsbereiche: Medizinrecht, Arzthaftungsrecht, Schadensersatzrecht
  • Beteiligte Parteien:
    • Kläger: Ein 1980 geborener Patient, der infolge anhaltender Beschwerden – zunächst Kopfschmerzen, später Tinnitus, Schwindel und Ohrdruck – Schmerzensgeld und Schadensersatz fordert. Er suchte in den Jahren 2014 und 2015 mehrfach ärztliche Hilfe (zunächst beim Hausarzt, anschließend auch bei Fachärzten im HNO-Bereich).
    • Beklagte: Die medizinische Einrichtung bzw. der behandelnde Arzt, gegen den der Vorwurf einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung erhoben wird.
  • Um was ging es?
    • Sachverhalt: Der Kläger stellte sich aufgrund von Kopfschmerzen im Jahr 2014 bei seinem Hausarzt vor, der ihn zur MRT-Abklärung überwies – ein Befund, der als altersentsprechend und unauffällig galt. Im weiteren Krankheitsverlauf suchte er wegen Tinnitus, Schwindel und Ohrdruck im Januar 2015 sowie im September 2015 einen HNO-Arzt auf. Ein am 14.09.2015 durchgeführtes CT zeigte jedoch destruierende Knochenveränderungen sowie eine ausgedehnte Cholesteatombildung. Aufgrund dieser Befunde behauptet der Kläger, dass ihm eine fehlerhafte ärztliche Behandlung zugrunde liege.
    • Kern des Rechtsstreits: Es ging um die Frage, ob die behauptete fehlerhafte ärztliche Behandlung – und damit ein Versäumnis bei der rechtzeitigen bzw. korrekten Diagnosestellung – einen Anspruch des Klägers auf Schmerzensgeld und Schadensersatz begründet.
  • Was wurde entschieden?
    • Entscheidung: Die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen; der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht vor der Vollstreckung die Beklagte in gleicher Höhe Sicherheit leistet. Zudem wurde die Revision nicht zugelassen.
  • Folgen: Der Kläger muss die Kosten des Berufungsverfahrens tragen. Durch die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils und die Nichtzulassung der Revision ist die Entscheidung abschließend. Zudem wurde der Streitwert auf 57.600 EUR festgesetzt, und die Regelung zur Sicherheitsleistung bestimmt, unter welchen Bedingungen die Vollstreckung abgewendet werden kann.

Der Fall vor Gericht


Radiologe vor Gericht: Haftung für übersehenes Cholesteatom – Ein Urteil des OLG Dresden

Radiologe untersucht aufmerksam ein MRI-Bild eines Ohrs auf einem Monitor in einem modernen, hellen Diagnoseraum.
Haftung des Radiologen bei Diagnosefehler | Symbolbild: KI-generiertes Bild

In einem aufsehenerregenden Fall von mutmaßlicher ärztlicher Fehlbehandlung hatte das Oberlandesgericht (OLG) Dresden über die Haftung eines Radiologen für einen übersehenen Befund zu entscheiden. Im Zentrum stand die Frage, ob ein Radiologe für die Folgen einer verspäteten Diagnose eines Cholesteatoms haftbar gemacht werden kann, wenn er in einem MRT-Bild eine entsprechende Läsion übersieht und dies nicht im Befundbericht erwähnt. Das Urteil des OLG Dresden (Az.: 4 U 634/23) vom 10. Oktober 2023, welches die Berufung des Klägers gegen ein vorinstanzliches Urteil abwies, wirft ein Schlaglicht auf die komplexen Anforderungen an die Befunderhebung und -mitteilung in der Radiologie und die Schwierigkeiten des Nachweises von Kausalität bei Behandlungsfehlern.

Der Fall: Kopfschmerzen, MRT und eine folgenschwere Diagnoseverzögerung

Der Fall begann mit den Beschwerden eines 1980 geborenen Mannes, der im März und April 2014 seinen Hausarzt wegen Kopfschmerzen aufsuchte. Der Hausarzt veranlasste zur Abklärung der Ursache eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Kopfes und überwies den Patienten an die beklagte radiologische Praxis. Die MRT-Untersuchung wurde durchgeführt und am 21. Mai 2014 ein Befundbericht an den Hausarzt erstellt. Dieser Bericht beschrieb den MRT-Befund als altersentsprechend und unauffällig.

Doch die Beschwerden des Patienten hielten an. Im Januar 2015 konsultierte er einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) wegen Tinnitus und Schwindel. Im September 2015, aufgrund von verstärktem Schwindel, Kopfschmerzen und Ohrdruck, suchte er erneut eine HNO-Ärztin auf. Ein daraufhin angefertigtes Computertomogramm (CT) brachte dann die erschreckende Wahrheit ans Licht: Es zeigte deutliche Knochenveränderungen und eine ausgedehnte Cholesteatombildung im Bereich des Felsenbeins.

Ein Cholesteatom ist eine gutartige, aber destruktiv wachsende Wucherung von verhornendem Plattenepithel im Mittelohr oder Warzenfortsatz, die zu Knochenabbau und schwerwiegenden Komplikationen führen kann, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird.

Es folgten mehrere operative Eingriffe in der Universitätsklinik Dresden. Zunächst wurde das ausgedehnte Cholesteatom entfernt, was zu einer linksseitigen Gesichtslähmung (Facialisparese) und einem unvollständigen Lidschluss führte. Bei einer weiteren Operation im Jahr 2018 musste ein Rezidiv des Cholesteatoms entfernt und die Gesichtsmuskulatur stabilisiert werden. Die Facialisparese blieb jedoch bestehen.

Kern des Rechtsstreits: War die Befundung des Radiologen fehlerhaft und ursächlich für den Schaden?

Der Patient warf der radiologischen Praxis vor, bei der Auswertung des MRT vom Mai 2014 einen Behandlungsfehler begangen zu haben. Er argumentierte, dass die im MRT sichtbare Läsion, die später als Cholesteatom identifiziert wurde, von den Radiologen übersehen und nicht im Befundbericht erwähnt worden sei. Hätte der Radiologe die Läsion erkannt und auf die Möglichkeit eines Cholesteatoms hingewiesen, so die Argumentation des Klägers, wäre eine rechtzeitige CT-Untersuchung und Diagnose erfolgt. Durch die verzögerte Diagnose und Behandlung sei das Cholesteatom weiter gewachsen und habe schwerwiegendere Schäden verursacht, insbesondere die bleibende Facialisparese. Der Patient forderte Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 43.200 Euro sowie die Feststellung der Schadensersatzpflicht für zukünftige materielle Schäden.

Das Urteil des Landgerichts: Diagnosefehler ja, aber keine Kausalität

Das Landgericht Dresden holte im Rahmen des Prozesses mehrere Gutachten von Radiologie- und HNO-Sachverständigen ein. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass im Rahmen der MRT-Befundung tatsächlich ein einfacher Behandlungsfehler vorlag. Die Sachverständigen bestätigten, dass die Läsion im MRT-Bild erkennbar war und hätte im Befundbericht erwähnt werden müssen, gegebenenfalls mit dem Hinweis auf eine mögliche Cholesteatom-Erkrankung und die Empfehlung einer weiteren Abklärung mittels CT.

Allerdings wies das Landgericht die Klage dennoch ab, da es die Ursächlichkeit des Befundungsfehlers für die eingetretenen Schäden nicht als erwiesen ansah. Das Gericht war nicht überzeugt, dass bei einer rechtzeitigen Diagnose und Behandlung im Jahr 2014 die Facialisparese und die weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wären.

Die Entscheidung des OLG Dresden: Berufung des Patienten erfolglos bestätigt

Der Patient legte gegen das Urteil des Landgerichts Berufung beim Oberlandesgericht Dresden ein. Er argumentierte, dass es sich nicht nur um einen einfachen Diagnosefehler, sondern um einen Befunderhebungsfehler handle. Da der auffällige und abklärungsbedürftige Befund nicht mitgeteilt wurde, sei dem Hausarzt die Möglichkeit genommen worden, weitere diagnostische Schritte einzuleiten. Dies führe zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität. Der Patient argumentierte, dass bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung die schwerwiegenden Folgen, insbesondere die Facialisparese, vermieden worden wären oder zumindest in geringerem Ausmaß aufgetreten wären.

Das OLG Dresden teilte diese Auffassung jedoch nicht und wies die Berufung des Patienten zurück. Das Gericht bestätigte im Wesentlichen die Entscheidung des Landgerichts.

Begründung der Richter: Warum die Kausalität nicht bewiesen wurde und die Beweislastumkehr nicht griff

Das OLG Dresden bestätigte zwar den Befundungsfehler der Radiologen. Das Gericht folgte den Sachverständigengutachten, die einen einfachen Behandlungsfehler in der unterlassenen Erwähnung der Läsion im MRT-Befund sahen.

Dennoch sah das OLG keine Grundlage für eine Beweislastumkehr. Eine Beweislastumkehr zugunsten des Patienten greift im Arzthaftungsrecht in der Regel nur bei groben Behandlungsfehlern. Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt eindeutig gegen gesicherte medizinische Erkenntnisse oder Behandlungsstandards verstoßen hat und dieser Fehler objektiv geeignet ist, den eingetretenen Schaden herbeizuführen. Das OLG Dresden qualifizierte den Befundungsfehler im vorliegenden Fall jedoch nicht als grob. Es handelte sich nach Ansicht des Gerichts um einen einfachen Diagnosefehler, der zwar vermeidbar gewesen wäre, aber nicht das Ausmaß eines groben Fehlers erreichte, der eine Beweislastumkehr rechtfertigen würde.

Da keine Beweislastumkehr erfolgte, lag die Beweislast für die Kausalität weiterhin beim Patienten. Der Patient musste also beweisen, dass die verzögerte Diagnose aufgrund des Befundungsfehlers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu den eingetretenen Schäden geführt hat. Dies gelang dem Patienten jedoch vor Gericht nicht. Die vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachten konnten nicht mit der erforderlichen Sicherheit bestätigen, dass eine frühere Diagnose und Behandlung das Auftreten der Facialisparese oder die Schwere der anderen Beeinträchtigungen verhindert hätte. Es blieb unsicher, ob das Cholesteatom auch bei einer früheren Operation zu den gleichen Komplikationen geführt hätte. Die Richter betonten, dass auch bei rechtzeitiger Behandlung Risiken und Komplikationen nicht vollständig ausgeschlossen werden können.

Da der Patient die Kausalität zwischen dem Befundungsfehler und den Schäden nicht beweisen konnte, blieb seine Klage erfolglos. Das OLG Dresden bestätigte somit das Urteil des Landgerichts und wies die Berufung des Patienten zurück. Der Patient muss die Kosten des Berufungsverfahrens tragen. Eine Revision wurde nicht zugelassen.

Bedeutung des Urteils für Patienten und die Radiologie

Das Urteil des OLG Dresden verdeutlicht die hohen Anforderungen an Patienten, die Schadensersatzansprüche wegen ärztlicher Behandlungsfehler geltend machen. Auch wenn ein Behandlungsfehler nachgewiesen wird – wie im vorliegenden Fall der Befundungsfehler des Radiologen – ist dies allein noch nicht ausreichend für einen erfolgreichen Schadensersatzanspruch. Entscheidend ist der Nachweis der Kausalität zwischen dem Fehler und dem eingetretenen Schaden. Dieser Nachweis ist oft schwierig zu erbringen, insbesondere in komplexen medizinischen Sachverhalten.

Für Patienten bedeutet dies, dass sie im Falle eines vermuteten Behandlungsfehlers nicht nur den Fehler an sich nachweisen müssen, sondern auch detailliert darlegen und beweisen müssen, dass gerade dieser Fehler ursächlich für ihre gesundheitlichen Schäden war. Dies erfordert in der Regel die Einholung von medizinischen Gutachten und die Führung eines oft langwierigen und kostspieligen Rechtsstreits.

Für Radiologen und andere medizinische Fachrichtungen unterstreicht das Urteil die Bedeutung einer sorgfältigen und umfassenden Befunderhebung und -mitteilung. Auch wenn im konkreten Fall die Haftung letztlich verneint wurde, so wurde der Befundungsfehler selbst gerichtlich festgestellt. Radiologen müssen sich bewusst sein, dass ihre Befundberichte eine entscheidende Grundlage für die weitere Behandlung von Patienten darstellen und Fehler in der Befundung gravierende Folgen haben können. Das Urteil mahnt zu höchster Sorgfalt bei der Auswertung von Bildgebungen und der Kommunikation relevanter Befunde an die weiterbehandelnden Ärzte.


Die Schlüsselerkenntnisse

Ein einfacher Behandlungsfehler bei der radiologischen Befundung reicht nicht automatisch für Schadensersatzansprüche aus – es muss auch nachgewiesen werden können, dass dieser Fehler ursächlich für den späteren Gesundheitsschaden war. Dies konnte im vorliegenden Fall nicht belegt werden.

Radiologen müssen bei Untersuchungen nicht nur gezielt nach dem angefragten Befund schauen, sondern auch auffällige Nebenbefunde dokumentieren und kommunizieren. Eine unterlassene Mitteilung von Auffälligkeiten stellt einen Behandlungsfehler dar.

Die zeitliche Verzögerung einer Diagnose allein begründet noch keine Haftung – entscheidend ist, ob bei einer früheren Diagnose der konkrete Schaden mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Dieser Nachweis gelang hier nicht.

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Professionelle Unterstützung bei radiologischen Diagnosefragen

In Fällen, in denen eine verspätete oder unvollständige Befunderhebung zu unsicheren Situationen geführt hat, können sich viele Betroffene in einer komplexen rechtlichen Grauzone wiederfinden. Solche Sachverhalte stellen häufig ein anspruchsvolles Geflecht aus medizinischen und juristischen Fragestellungen dar, bei denen insbesondere die Frage der Kausalität im Mittelpunkt steht.

Wir begleiten Sie kompetent dabei, Ihren individuellen Sachverhalt eingehend zu prüfen und Klarheit über Ihre rechtlichen Möglichkeiten zu gewinnen. Vertrauen Sie auf eine präzise Analyse, um den nächsten Schritt wohlüberlegt zu gehen.

Ersteinschätzung anfragen

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Welche grundsätzlichen Pflichten hat ein Radiologe bei der Befundung von bildgebenden Untersuchungen?

Der Radiologe muss bei der Befundung bildgebender Untersuchungen strenge fachliche und rechtliche Anforderungen erfüllen. Seine zentrale Pflicht ist die sorgfältige und standardgerechte Befundung der radiologischen Aufnahmen.

Prüfung und Dokumentation

Der Radiologe ist verpflichtet, im Rahmen seiner ärztlichen Sorgfaltspflicht die klinische Fragestellung, die Aussagekraft der Untersuchung und die Belastung für den Patienten gegeneinander abzuwägen. Voruntersuchungen und klinische Informationen müssen aktiv in den radiologischen Ablauf bei der Indikationsstellung und Befundung einbezogen werden.

Inhaltliche Anforderungen an den Befundbericht

Der radiologische Befundbericht muss nach der DIN-Norm folgende Elemente enthalten:

  • Angaben zum Patienten
  • Informationen zur Untersuchung
  • Klinische Angaben und Fragestellung
  • Beschreibung der Untersuchungsergebnisse
  • Medizinische Wertung der Befunde

Haftungsrelevante Sorgfaltspflichten

Bei der Befundung muss der Radiologe besonders darauf achten, dass seine Diagnose medizinisch vertretbar ist. Ein Diagnosefehler führt nur dann zur Haftung, wenn die Interpretation der Befunde nicht mehr vertretbar ist oder wenn eindeutige Symptome übersehen oder falsch gedeutet wurden.

Besondere Dokumentationspflichten

Für radiologische Untersuchungen gilt eine gesetzliche Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht. Die Aufbewahrungsfrist beträgt bei Erwachsenen 10 Jahre, bei strahlentherapeutischen Behandlungen und berufsgenossenschaftlichen Untersuchungen 30 Jahre.

Wenn Sie als Patient eine radiologische Untersuchung erhalten, können Sie davon ausgehen, dass der Radiologe nicht nur das Bildmaterial auswerten muss, sondern auch alle relevanten Begleiterscheinungen in die Bewertung einbeziehen muss. Dies gilt beispielsweise bei der Mammographie, wo auch klinische Auffälligkeiten berücksichtigt werden müssen.


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Ab wann liegt ein haftungsrelevanter Diagnosefehler in der Radiologie vor?

Ein haftungsrelevanter Diagnosefehler in der Radiologie liegt vor, wenn die Diagnose aus fachlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint und gegen elementare medizinische Standards verstößt.

Grundvoraussetzungen für einen Diagnosefehler

Stellen Sie sich vor, ein Radiologe wertet ein Röntgenbild aus. Ein haftungsrelevanter Fehler entsteht, wenn die Diagnose für einen gewissenhaften Arzt medizinisch nicht vertretbar gewesen wäre. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eindeutige Symptome oder Befunde für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend waren, aber nicht berücksichtigt oder falsch gedeutet wurden.

Abgrenzung zum einfachen Diagnoseirrtum

Nicht jede fehlerhafte Auswertung von Befunden führt automatisch zu einem Behandlungsfehler. Die Rechtsprechung erkennt an, dass radiologische Bildgebung aufgrund klinischer Überschneidungen von Krankheitsbildern nicht immer eindeutige Schlüsse zulässt. Ein einfacher Diagnoseirrtum liegt vor, wenn:

  • Das technische Ergebnis keine eindeutige Deutung zulässt
  • Die Diagnose trotz Unsicherheiten nachvollziehbar begründet wurde
  • Der Krankheitsverlauf keine Besonderheiten aufwies, die weitere Kontrollen erforderten

Schwere Diagnosefehler mit Haftungsfolgen

Ein grober Diagnosefehler mit Haftungsfolgen liegt vor, wenn fundamentale Verstöße gegen bewährte ärztliche Diagnoseregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse vorliegen. Dies ist der Fall, wenn:

  • Ein Knochenbruch auf dem Röntgenbild eindeutig erkennbar war
  • Ein sichtbarer Tumor übersehen wurde
  • Eindeutige Krankheitszeichen nicht in die Bewertung einbezogen wurden

Die Haftung des Radiologen tritt insbesondere dann ein, wenn die fehlerhafte Diagnose sich nicht als vertretbare Deutung der Befunde darstellt und die richtige Diagnose für den Arzt auf der Hand gelegen hätte.


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Wie muss ein Patient einen radiologischen Diagnosefehler beweisen?

Im Arzthaftungsprozess trägt der Patient grundsätzlich die Beweislast für den Behandlungsfehler und den dadurch entstandenen Schaden. Dies bedeutet, Sie müssen als Patient drei zentrale Elemente nachweisen: den Diagnosefehler selbst, einen daraus entstandenen gesundheitlichen Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden.

Erforderliche Beweismittel

Für einen erfolgreichen Nachweis eines radiologischen Diagnosefehlers benötigen Sie:

  • Die vollständige Behandlungsdokumentation einschließlich aller Röntgenbilder, MRT- oder CT-Aufnahmen
  • Ein medizinisches Sachverständigengutachten
  • Dokumentation aller Folgebehandlungen und entstandenen Gesundheitsschäden

Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten

In bestimmten Fällen greifen wichtige Beweiserleichterungen:

Bei Dokumentationsmängeln wird zu Ihren Gunsten vermutet, dass nicht dokumentierte Maßnahmen auch nicht durchgeführt wurden. Wenn beispielsweise eine medizinisch gebotene Röntgenuntersuchung nicht in der Patientenakte vermerkt ist, gilt sie als nicht erfolgt.

Ein grober Behandlungsfehler führt zu einer Beweislastumkehr. In diesem Fall muss der Radiologe beweisen, dass der Schaden auch bei korrekter Behandlung eingetreten wäre.

Abgrenzung verschiedener Fehlerarten

Die rechtliche Bewertung unterscheidet zwischen verschiedenen Fehlerarten:

Ein Diagnosefehler liegt vor, wenn Röntgenbilder oder andere Aufnahmen falsch interpretiert werden. Allerdings führt nicht jede Fehlinterpretation automatisch zur Haftung. Solange die Deutung der Befunde nachvollziehbar und nicht völlig abwegig war, wird kein Behandlungsfehler angenommen.

Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn der Radiologe notwendige Untersuchungen unterlässt. Dies ist besonders relevant bei der Abwehr schwerer Gesundheitsrisiken, etwa wenn trotz tastbarer Knoten keine Mammografie durchgeführt wird.

Die Dokumentationspflicht des Radiologen erstreckt sich auf alle medizinisch erforderlichen Aspekte, einschließlich der Weitergabe von Bildern. Der Grundsatz lautet: Was dokumentiert ist, gilt als gemacht – was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht durchgeführt.


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Welche Schadensersatzansprüche bestehen bei einem radiologischen Diagnosefehler?

Bei einem radiologischen Diagnosefehler haben Sie sowohl Anspruch auf materiellen Schadensersatz als auch auf Schmerzensgeld für immaterielle Schäden.

Materielle Schadensersatzansprüche

Der materielle Schadensersatz umfasst alle finanziellen Einbußen, die durch den Diagnosefehler entstanden sind:

  • Behandlungskosten für zusätzlich notwendige medizinische Maßnahmen
  • Verdienstausfall bei Arbeitsunfähigkeit
  • Mehraufwendungen für Hilfsmittel und Pflege
  • Fahrtkosten zu Behandlungen

Schmerzensgeld für immaterielle Schäden

Die Höhe des Schmerzensgeldes richtet sich nach der Schwere der Beeinträchtigung. Wichtige Bemessungsfaktoren sind:

  • Schwere und Ausmaß der Verletzung
  • Dauer und Intensität der Schmerzen
  • Notwendige Operationen
  • Dauerhafte Beeinträchtigungen
  • Soziale Auswirkungen auf Partnerschaft und Familie

Konkrete Beispiele aus der Rechtsprechung

Ein übersehener Tumor auf MRT-Aufnahmen kann zu erheblichen Schmerzensgeldzahlungen führen. So wurde in einem Fall ein Schmerzensgeld von 60.000 Euro zugesprochen, weil ein Radiologe einen Tumor übersah, der in den Gesichtsnerv einwuchs. In einem anderen Fall wurden 80.000 Euro Schmerzensgeld für einen übersehenen Pankreastumor zugesprochen.

Der Radiologe haftet dabei auch für sogenannte Zufallsbefunde, die er bei der Untersuchung entdeckt. Werden diese nicht dokumentiert und führt dies zu Gesundheitsschäden, begründet dies ebenfalls Schadensersatzansprüche.


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Welche Verjährungsfristen gelten bei radiologischen Behandlungsfehlern?

Bei radiologischen Behandlungsfehlern gilt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Diese Frist beginnt jedoch nicht automatisch mit dem Tag der fehlerhaften Behandlung oder Diagnose.

Beginn der Verjährungsfrist

Der Fristbeginn richtet sich nach § 199 Abs. 1 BGB und startet erst mit dem Ende des Jahres, in dem Sie:

  • von dem Behandlungsfehler Kenntnis erlangt haben oder
  • ohne grobe Fahrlässigkeit hätten Kenntnis erlangen müssen.

Wenn Sie beispielsweise im Juni 2024 eine fehlerhafte radiologische Diagnose erhalten, aber erst im März 2025 von diesem Fehler erfahren, beginnt die Verjährungsfrist am 31.12.2025 und endet am 31.12.2028.

Besonderheiten bei der Kenntniserlangung

Für den Beginn der Verjährungsfrist reicht es nicht aus, dass Sie lediglich von einem unbefriedigenden Behandlungsergebnis wissen. Sie müssen konkrete Anhaltspunkte dafür haben, dass der Radiologe von den üblichen medizinischen Standards abgewichen ist.

Absolute Verjährungsfrist

Unabhängig von Ihrer Kenntnis gilt eine absolute Verjährungsfrist von 30 Jahren. Diese beginnt mit dem Tag der fehlerhaften Behandlung. Nach Ablauf dieser Frist können Sie keine Ansprüche mehr geltend machen, auch wenn Sie erst später vom Fehler erfahren.

Hemmung der Verjährung

Die Verjährung kann in bestimmten Fällen gehemmt werden:

Wenn Sie mit dem Radiologen oder dessen Versicherung in Verhandlungen stehen, wird die Verjährung nach § 203 BGB gehemmt. Auch ein Schlichtungsverfahren bei der Ärztekammer führt zur Hemmung der Verjährung. Diese Hemmung endet frühestens sechs Monate nach Abschluss des Verfahrens.


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Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung ersetzen kann. Haben Sie konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – wir beraten Sie gerne.


Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt

Cholesteatom

Eine gutartige aber destruktiv wachsende Gewebegeschwulst im Mittelohr, die umliegendes Gewebe und Knochen zerstören kann. Trotz des Namens handelt es sich nicht um einen Tumor, sondern um eine Ansammlung von Hautgewebe, das sich im Mittelohr ausbreitet. Die Erkrankung kann zu Hörverlust, Schwindel und weiteren schweren Komplikationen führen. Unbehandelt kann ein Cholesteatom lebensgefährlich werden.

Beispiel: Ein Patient bemerkt zunächst nur leichte Ohrenschmerzen und Schwerhörigkeit. Wird das Cholesteatom nicht rechtzeitig erkannt, kann es den Schädelknochen angreifen und zu bleibenden Schäden führen.


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Behandlungsfehler

Ein Verstoß gegen den medizinischen Standard bei der Behandlung eines Patienten. Dies kann durch aktives Fehlverhalten oder Unterlassen geschehen. Geregelt in den §§ 630a ff. BGB. Der Fehler muss von der üblichen Sorgfaltspflicht eines durchschnittlich qualifizierten Arztes abweichen.

Beispiel: Ein Radiologe übersieht bei der Befundung eines MRT-Bildes eine deutlich erkennbare Auffälligkeit, die nach medizinischem Standard hätte erkannt werden müssen.


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Befundbericht

Ein standardisiertes medizinisches Dokument, in dem ein Arzt die Ergebnisse einer Untersuchung schriftlich festhält. Er muss alle relevanten Beobachtungen und Auffälligkeiten dokumentieren, auch wenn diese nicht direkt mit dem ursprünglichen Untersuchungsgrund zusammenhängen. Die Dokumentationspflicht ergibt sich aus § 630f BGB.

Beispiel: Bei der Auswertung eines MRT-Kopfs wegen Kopfschmerzen muss der Radiologe auch zufällig entdeckte Auffälligkeiten im Ohrbereich dokumentieren.


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Kausalität

Der rechtlich erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen einem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Gesundheitsschaden. Für einen Schadensersatzanspruch muss nachgewiesen werden, dass der Schaden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Fehler verursacht wurde und bei korrekter Behandlung vermeidbar gewesen wäre.

Beispiel: Ein verspätet diagnostiziertes Cholesteatom führt zu Komplikationen. Es muss nachgewiesen werden, dass diese bei früherer Erkennung nicht eingetreten wären.


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Sicherheitsleistung

Eine finanzielle Absicherung im Rahmen der Zwangsvollstreckung, die in Höhe von 110% der Forderung hinterlegt werden muss. Sie dient dem Schutz der Parteien bei vorläufiger Vollstreckbarkeit eines Urteils. Geregelt in § 709 ZPO.

Beispiel: Bei einer Forderung von 50.000 Euro muss eine Sicherheitsleistung von 55.000 Euro erbracht werden.

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Wichtige Rechtsgrundlagen


  • § 630a BGB (Behandlungsvertrag): Der Behandlungsvertrag verpflichtet den Arzt zur Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards. Dies umfasst auch die korrekte Befunderhebung und -bewertung. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Beklagte war als Radiologin vertraglich verpflichtet, das MRT fachgerecht zu befunden und auffällige Befunde zu dokumentieren und zu kommunizieren.
  • § 630h Abs. 5 BGB (Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler): Bei einem groben Behandlungsfehler wird vermutet, dass dieser für den eingetretenen Schaden ursächlich war, sofern der Fehler grundsätzlich geeignet ist, den Schaden herbeizuführen. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht stufte den Fehler bei der MRT-Befundung nur als einfachen Behandlungsfehler ein, weshalb keine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers eintrat.
  • § 249 BGB (Art und Umfang des Schadensersatzes): Der Schädiger hat den Zustand herzustellen, der ohne das schädigende Ereignis bestehen würde. Dies umfasst alle unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Pflichtverletzung. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Kläger muss beweisen, dass die verspätete Diagnose kausal für die eingetretene Facialisparese und weitere Gesundheitsschäden war.
  • § 253 Abs. 2 BGB (Schmerzensgeld): Bei Körper- oder Gesundheitsverletzungen kann eine billige Entschädigung in Geld auch für nicht vermögensrechtliche Schäden verlangt werden. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Kläger macht Schmerzensgeld für die eingetretene Facialisparese und weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend.

Das vorliegende Urteil


OLG Dresden – Az.: 4 U 634/23 – Urteil vom 10.10.2023


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