Skip to content
Menu

Schadensersatz und Schmerzensgeld bei Verkennung eines Bronchialkarzinoms durch Pneumologen

LG Flensburg – Az.: 3 O 198/15 – Urteil vom 02.08.2019

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt als Alleinerbin nach ihrem während des Rechtsstreits verstorbenen Ehemann A. M. (im Folgenden: Patient) Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen einer vermeintlich fehlerhaften lungenärztlichen Behandlung, bei der ein Bronchialkarzinom verkannt worden sei.

Bei der Beklagten zu 1 handelt es sich um ein Medizinisches Versorgungszentrum in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (im Folgenden: MVZ), deren Gesellschafter die Beklagten zu 2 und 3 sind. Ob die Beklagten zu 4 und 5 ebenfalls Gesellschafter des MVZ oder angestellte Ärzte waren, ist zwischen den Parteien streitig. Die Behandlung des Patienten erfolgte allein durch die Beklagten zu 2 und 3. Diese sind Fachärzte für Innere Medizin und Pneumologie.

Am 31.01.2014 stellte sich der Patient aufgrund einer hausärztlichen Überweisung bei der Beklagten zu 1 vor. Die Anamnese ergab einen seit zwei Monaten bestehenden Reizhusten, Schmerzen im Bereich des Brustkorbs seit ca. einem Monat, Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit sowie auffällige Atemgeräusche im Liegen; der Patient berichtete von einem vorausgegangenen unspezifischen Infekt nach einem Aufenthalt in der Eishalle. Ein durchgeführter Lungenfunktionstest war unauffällig, ebenfalls ein von der Beklagten zu 3 durchgeführter bronchialer Provokationstest. Die Beklagte zu 3 führte sodann eine Röntgenuntersuchung des Thorax durch. Hierzu heißt es in der Behandlungsdokumentation der Beklagten (Anlage K1, Blatt 18 der Akte):

„Rö 2 EB 31.1.2014 opB …“

In dem Arztbrief der Beklagten vom 31.01.2014 (Anlage K2, Blatt 20 f. der Akte) heißt es hierzu u.a.:

„Unauffälliger Befund an Lunge, Herz, Pleura und Mediastinum. Kein Hinweis auf Pneumonie, kein Anhalt für Tumor.“

In der Behandlungsdokumentation der Beklagten für den 31.01.2014 (Anlage K1, Blatt 18 der Akte) heißt es schließlich u.a.:

„PROC WV wenn Beschwerden länger als 4 Wochen anhaltend, dann Thorax CT …“

Ob dies mit dem Patienten auch so besprochen wurde, ist zwischen den Parteien streitig.

Am 09.05.2014 stellte sich der Patient mit fortbestehenden Schmerzen im Brustkorb wieder bei der Beklagten zu 1 vor. Nach körperlicher Untersuchung und Lungenfunktionstest wurde die Diagnose eines Asthma bronchiale (mit Husten als Asthmaäquivalent) gestellt. Dem Patienten wurde eine orale Steroid-Therapie mit Prednisolon, zusätzlich ein inhalatives Steroidpräparat (Beclometason 100), bedarfsweise eine Inhalation eines bronchienerweiternden Medikaments (Salbutamol) empfohlen. In der Behandlungsdokumentation der Beklagten für den 09.05.2014 (Anlage K1, Blatt 19 der Akte) heißt es schließlich u.a.:

„… Wenn in 2 Wochen nicht besser, dann kurzfristig CT-Thorax …

PROC WV 3m, wenn nicht besser, dann kurzfristig CT-Thorax“

Ob dies mit dem Patienten auch so besprochen wurde, ist zwischen den Parteien streitig.

Am 28.05.2014 stellte sich der Patient wegen Schmerzen und Schweißausbrüchen in der Notaufnahme des H.-K. in S. vor und wurde dort anschließend bis zum 30.05.2014 stationär behandelt. Am 28.05.2014 erfolgte neben einer körperlichen Untersuchung und einem Aufnahmelabor eine Röntgenuntersuchung des Thorax in zwei Ebenen. In dem Radiologiebefund der Leitenden Oberärztin der Radiologie vom 30.05.2014 (Sonderband Behandlungsunterlagen) heißt es u.a.:

„… Verplumpter Hilus links sowie Plattenatelektase im linken Mittelfeld. Der Befund sollte zum Ausschluss einer zentralen Raumforderung computertomographisch abgeklärt werden.“

Eine solche Abklärung im Helios-Klinikum lehnte der Patient mit Hinweis auf einen bereits bestehenden Termin in der L.C. G. ab. Er verließ das H.-K. gegen ärztlichen Rat am 30.05.2014.

Am 10.06.2014 wurde der Patient in der L.C. G. aufgenommen. Es erfolgten diverse Untersuchungen, unter anderem am 12.06.2014 ein kontrastmittelgestütztes CT. Dessen Befundung ergab einen hochgradigen Verdacht auf ein links-zentrales Bronchialkarzinom. Dieser Verdacht bestätigte sich in der Folge. Bei dem Patienten wurde ein Lungenkarzinom links zentral mit der „Tumorformel: cT4 N0/2 Mx (entspricht Stadium III A/B) … Adenokarzinom“ diagnostiziert (Arztbrief vom 30.06.2014, Sonderband Behandlungsunterlagen). Weder in Hauptcarina, Schleimhaut des linken Hauptbronchus und den biopsierten Lymphknoten wurden Tumoranteile nachgewiesen, Hinweis auf Metastasen im Oberbauch und im Kopf nicht gefunden.

In der Zeit von Juni 2014 bis September 2014 erhielt der Patient vier Zyklen einer systemischen Chemotherapie mit Vinorelbin und Cisplatin, ab dem dritten Zyklus erfolgte eine simultane Bestrahlung des Tumors im Malteser Krankenhaus St. F.-H. in F..

Am 09.12.2014 erfolgte eine erweiterte Pneumektomie links in der L.C. G.. In der Aufarbeitung ergab sich die „Tumorklassifikation ypT4 ypN2 L1 V0 G3 R1 (Pleura parietalis), UICC-Stadium III A/B“. In der Zeit von Dezember 2014 bis Januar 2015 erfolgte eine stationäre Rehabilitationsbehandlung in der Fachklinik A..

Nachdem im Juni 2015 radiologisch ein Rezidiv nachgewiesen worden war, erfolgte in der Zeit vom Juli 2015 bis August 2015 eine Zweitlinien-Chemotherapie in drei Zyklen mit Carboplatin und Pemetrexed. Im September 2015 zeigte ein CT des Thorax einen Tumorprogress, ein CCT Metastasen in Gehirn. In der Zeit vom 23.09.2015 bis zum 08.10.2015 erhielt der Patient eine abschwellende medikamentöse Therapie sowie eine Bestrahlung des Hirnschädels sowie der Metastasen an der zehnten Rippe links. Anschließend erfolgte in der Zeit vom Oktober 2015 bis November 2015 eine Drittlinien-Chemotherapie in drei Zyklen mit Docetaxel.

Im Dezember 2015 schritt das Tumorrezidiv fort, es traten Lymphknotenmetastasen neben der Körperschlagader und hinter dem Bauchfell auf. Am 12.01.2016 wurde eine Viertlinien-Chemotherapie mit Gemcitabine eingeleitet.

Am 03.02.2016 verstarb der Patient. Die Klägerin ist aufgrund des notariellen gemeinschaftlichen Testaments vom 05.12.2014 (Anlage K15, Blatt 150 der Akte) seine Alleinerbin, sie hat den Rechtsstreit fortgeführt.

Die Klägerin wirft den Beklagten zu 2 und 3 Behandlungsfehler vor, und zwar eine fehlerhafte Diagnose und eine unterlassene Befunderhebung:

Sie rügt im Wesentlichen eine fehlerhafte Beurteilung des Röntgen vom 31.01.2014 durch die Beklagte zu 3 und behauptet, zu diesem Zeitpunkt sei das Adenokarzinom bereits deutlich erkennbar gewesen, dieses sei schlicht übersehen worden.

Darüber hinaus seien die am 31.01.2014 und 09.05.2014 veranlassten Befunderhebungen unzureichend gewesen. Die Symptome und ihre Dauer hätten zu weiteren Befunderhebungen, etwa einer CT, veranlassen müssen, um differentialdiagnostisch die Ursachen der Beschwerden zu klären.

Die Klägerin behauptet, bei einer hinreichenden Befunderhebung und zutreffenden Diagnose am 31.01.2014 wäre der Krankheitsverlauf ein anderer gewesen. Ohne die verzögerte Diagnosestellung hätte die Metastasierung verhindert werden können. Es sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Patient keiner Pneumektomie ausgesetzt gewesen und auch nicht gestorben wäre. Die Klägerin meint, die Beweislast für die Ursächlichkeit sei hier zugunsten der Klägerin umgekehrt. Hierzu behauptet sie, sowohl bei dem gerügten Diagnoseirrtum als auch bei dem gerügten Befunderhebungsfehler handele es sich jeweils um grobe Behandlungsfehler.

Die Klägerin hält ein Schmerzensgeld von mindestens 35.000 € für angemessen.

Sie meint, sämtliche Beklagte hafteten gesamtschuldnerisch. Der Behandlungsvertrag sei mit Wirkung für und gegen alle Gesellschafter der Beklagten zu 1 geschlossen worden. Die Klägerin tritt dem Vortrag der Beklagten, die Beklagten zu 4 und 5 seien angestellte Ärzte gewesen, entgegen. Sie hält dies auch für unerheblich, weil die Beklagten zu 2 bis 5 im Außenverhältnis als Gemeinschaftspraxis aufgetreten seien. Dem seinerzeit verwendeten Briefkopf lasse sich kein Hinweis auf ein Angestelltenverhältnis entnehmen. Die Beklagten zu 4 und 5 hafteten deshalb jedenfalls unter Rechtsscheingesichtspunkten.

Die Klägerin beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches einen Betrag von 35.000,00 € jedoch nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.04.2015 zu zahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.474,89 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten treten dem Vortrag der Klägerin vollumfänglich entgegen.

Ein haftungsbegründender Diagnosefehler liege nicht vor. Nicht jede ärztliche Diagnose, die sich im Nachhinein als fehlerhaft erweise, stelle einen Behandlungsfehler dar. Die Voraussetzungen, unter denen dies der Fall sei, lägen nicht vor. Auf dem Röntgenbild vom 31.01.2014 sei ex ante ein Adenomkarzinom nicht erkennbar gewesen, weil er in einer anatomisch vorgegebenen Struktur verborgen gewesen sei – nur ex post, d.h. in Kenntnis der Erkrankung, sei das Karzinom erkennbar. Jedenfalls habe es sich wegen der Anamnese und der sonstigen Befunde nicht um eine unvertretbare Fehldeutung des Befundes gehandelt. Es seien auch keine elementaren Befunderhebungen unterlassen worden; die aufgrund der klinischen Symptome erforderlichen Befunde seien erhoben worden. Zudem habe sich der Patient nicht wie vereinbart nach vier Wochen, sondern erst nach über drei Monaten wieder vorgestellt. Neue Befunderkenntnisse, die eine Anpassung der Diagnose erforderlich gemacht hätten, habe es nicht gegeben. Dass die Diagnose der Beklagten zu 3 im Januar 2014 nicht unvertretbar gewesen sei, werde durch den Radiologiebefund vom 30.05.2014 aus dem H.-K. bestätigt: Auch darin werde „nur“ ein verplumpter Hilus sowie eine Plattenatelektase festgestellt, eine zentrale Raumforderung sollte zum Ausschluss computertomografisch abgeklärt werden. Trotz der zwischenzeitlichen Zunahme des Befundes habe also selbst eine Fachärztin für Radiologie im Mai 2014 „nur“ eine weitere Abklärung ohne Äußerung eines konkreten Tumorverdachts empfohlen. Dies zeige, dass die Beurteilung im Januar 2014 nicht unvertretbar gewesen sei.

Die Beklagten meinen, ein Befunderhebungsfehler liege schon aus Rechtsgründen nicht vor: Erfolge die Diagnosestellung in vertretbarer Weise, könne nicht der Vorwurf erhoben werden, dass weitere Befunderhebungen unterlassen worden seien, die bei Bestehen eines Verdachts auf ein Karzinom veranlasst gewesen wären – insoweit entfalte ein Diagnoseirrtum eine Sperrwirkung. Ungeachtet dessen hätten die behandelnden Ärzte aber auch die gebotenen Befunde erhoben.

Die Beklagten tragen vor, sämtliche Primärschäden des Patienten seien tragisch schicksalhaft aufgrund der Grunderkrankung eingetreten, nicht aufgrund etwaiger Behandlungsfehler. Auch bei einer Diagnose des Lungenkarzinoms im Januar 2014 wären Behandlungsverlauf und Erkrankungsverlauf vergleichbar gewesen, aufgrund der Lage des Karzinoms in der Lunge des Patienten habe es auch im Januar 2014 keine günstigeren Therapiealternativen gegeben. Die Beklagten sind der Auffassung, eine Beweislastumkehr komme nicht in Betracht: Hierzu tragen sie vor, ein grober Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Diagnosestellung komme nur bei einem fundamentalen Diagnoseirrtum in Betracht, etwa wenn eine grundlegende Diagnose schon von Examenskandidaten erwartet werden könne oder die angenommene Ursache so wahrscheinlich sei, dass ein massiver Verstoß gegen medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen vorliege. Dies sei hier nicht der Fall. Auch ein grober Befunderhebungsfehler liege nicht vor. Es fehle nicht an der Erhebung einfacher, grundlegender Diagnose- oder Kontrollbefunde. Schließlich lägen auch die Voraussetzungen einer Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler nicht vor, weil schon höchst ungewiss sei, ob bei einer CT-Untersuchung im Januar 2014 bereits ein positiver und reaktionspflichtiger Befund hätte festgestellt werden können.

Die Beklagten zu 4 und 5 meinen schließlich, sie träfe unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen keine vertragliche Haftung. Hierzu tragen sie vor, sie seien angestellte Ärzte des MVZ gewesen, keine Gesellschafter. Deliktische Ansprüche bestünden ihnen gegenüber ohnehin nicht.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Das Gericht hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 12.09.2016 (Blatt 153 der Akte), korrigiert am 04.10.2016 (Blatt 162 der Akte) gemäß § 358a ZPO vor der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen medizinischen Sachverständigengutachtens. Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Facharztes für Innere Medizin und Pneumologie PD Dr. K. vom 20.11.2017 Bezug genommen. Der gerichtliche Sachverständige PD Dr. K. hat seinerseits mit Einverständnis des Gerichts und der Parteien (Blatt 177 und 179 der Akte) ein radiologisches Zusatzgutachten beauftragt. Wegen dessen Inhalts wird auf das undatierte schriftliche radiologische Zusatzgutachten des Facharzts für Radiologie Prof. Dr. R. Bezug genommen. Der Sachverständige PD Dr. K. hat sein schriftliches Gutachten in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt; insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.07.2019 (Blatt 238 der Akte) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Klage ist nicht begründet.

1. Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung ihres verstorbenen Ehemanns. Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 280 Abs. 1, § 630a, § 823 Abs. 1 BGB, § 128 Satz 1 HGB analog.

a) Die geltend gemachten Ansprüche setzen einen Behandlungsfehler durch Ärzte der Beklagten zu 1 voraus. Solche Behandlungsfehler sind hier nicht festzustellen:

Schadensersatz und Schmerzensgeld bei Verkennung eines Bronchialkarzinoms durch Pneumologen
(Symbolfoto: Von Axel_Kock/Shutterstock.com)

aa) Der Beklagten zu 3 und damit den Beklagten insgesamt ist zunächst ein Diagnosefehler bei der Beurteilung des Röntgenbilds vom 31.01.2014 nicht vorzuwerfen. Nach den eindeutigen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen PD Dr. K., an dessen Qualifikation die Kammer keinen Zweifel hat, sowie den ebenso eindeutigen Feststellungen des vom Sachverständigen zusätzlich herangezogenen Radiologen Prof. Dr. R. ist jedenfalls in der Nachbefundung bereits im Röntgenbild vom 31.01.2014 eine links-hiläre tumoröse Raumforderung zu erkennen. Diese hat die Beklagte zu 3 bei der Auswertung des Röntgenbilds am 31.01.2014 verkannt. Eine solche Fehlinterpretation erhobener Befunde (sog. „Diagnoseirrtum“) wird in der Rechtsprechung aber nur zurückhaltend als Behandlungsfehler (sog. „Diagnosefehler“) bewertet: Ein Behandlungsfehler ist nicht immer schon dann anzunehmen, wenn ein Arzt zu einer objektiv unrichtigen Diagnose gelangt. Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu werten. Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von zutreffenden Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (BGH, Urteil vom 08.07.2003 – VI ZR 304/02, juris Rn. 8 ff. mwN). Ein Diagnosefehler als Behandlungsfehler liegt danach vor, wenn die fehlerhafte Diagnose als in der gegebenen Situation objektiv unvertretbar und subjektiv unverständlich war. Dies war hier nach dem zugrunde zu legenden ärztlichen Standard nicht der Fall:

(1) Dem steht nicht entgegen, dass der vom Sachverständigen zusätzlich herangezogene Radiologe Prof. Dr. R. in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt hat, die beschriebene Raumforderung hätte am 31.01.2014 vermutet und in einem schriftlichen Befund Erwähnung finden müssen. Maßgeblicher ärztlicher Standard für die Beurteilung ist hier der eines Facharztes für Innere Medizin und Pneumologie, nicht derjenige eines Radiologen.

Grundsätzlich gilt, dass ein Patient ausgehend von seinem Erwartungshorizont bei Aufsuchen eines Arztes Anspruch auf Einhaltung des Standards guter ärztlicher Versorgung nach Maßstab eines erfahrenen Arztes der jeweiligen Fachrichtung (sog. „Facharztstandard“) hat (Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, Rn. 91 mwN). Da es sich bei der Beklagten zu 3 um eine Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie handelt, wäre dies grundsätzlich auch der maßgebliche Facharztstandard. In einem vergleichbaren Fall, bei dem ein Allgemeinmediziner mit eigener Röntgendiagnostik ein Bronchialkarzinom übersah, hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht dementsprechend den Standard eines Allgemeinarztes zugrunde gelegt (OLG Schleswig, Urteil vom 24.06.2005 – 4 U 10/04, juris Rn. 18). Wendet ein Arzt allerdings Untersuchungs- und Behandlungsmethoden an, die in ein fremdes Fachgebiet fallen, hat er dessen Standard zu garantieren (Frahm/Walter, aaO, Rn. 86). Gehört also die Durchführung und ausschließliche Befundung einer Röntgenaufnahme allein in das Fachgebiet der Radiologie, wäre demnach der maßgebliche Facharztstandard der eines Radiologen. Entsprechend hat die Kammer, sachverständig beraten, für die Anfertigung und Beurteilung einer Mammografie durch einen Frauenarzt entschieden (LG Flensburg, Urteil vom 28.02.2019 – 3 O 5/14, noch n.v.).

Ausgangspunkt für die Einordnung sind die Weiterbildungsinhalte der Facharztausbildung. In der Weiterbildungsordnung (WBO) der Ärztekammer S.-H. in der seit dem 25.05.2011 geltenden Fassung ist für das Fachgebiet der „Inneren Medizin“ (Nr. 13.1 WBO) die Befundung einer Röntgenaufnahme nicht ausdrücklich erwähnt, auch nicht unter den dort definierten Untersuchungs- und Behandlungsverfahren. Gleiches gilt für das Fachgebiet der „Inneren Medizin und Pneumologie“ (Nr. 13.8 WBO). Demgegenüber gehört die radiologische Diagnostik an Thorax und Thoraxorganen zu den definierten Untersuchungs- und Behandlungsverfahren des Fachgebiets der „Radiologie“ (Nr. 29 WBO). Der Sachverständige PD Dr. K., ebenfalls Prüfer in Facharztprüfungen, hat ergänzend ausgeführt, die Befundung von Röntgenbildern sei nicht Bestandteil der Facharztausbildung für Innere Medizin und Pneumologie. Sie sei weder Ausbildungs- noch Prüfungsvoraussetzung. Für die Durchführung einer Röntgendiagnostik sei eine besondere Weiterbildung erforderlich, dies allerdings wegen der technischen Voraussetzungen und des Strahlenschutzes. Eine Auswertung von Röntgenbildern erfolge in großen Krankenhäusern, bei denen dies organisatorisch eben auch möglich sei, heute nicht durch Pneumologen, sondern durch Radiologen. Eine eigene Anfertigung und Befundung von Röntgenbildern durch einen niedergelassenen internistischen Pneumologen sei aber üblich, wenn auch rückläufig. Aus ärztlicher Sicht sei nicht festzustellen, dass ein Pneumologe keine Röntgenbilder befunden dürfe. Es sei aber eine schwierige Diagnostik. Er selbst lasse in Facharztprüfungen für Innere Medizin und Pneumologie auch Röntgenbilder bewerten. Nach alldem kann die Kammer nicht feststellen, dass die Durchführung und Befundung einer Röntgenaufnahme allein in das Fachgebiet der Radiologie fällt, sondern für pneumologische Sachverhalte aufgrund einer bestehenden Übung auch in das Fachgebiet der Inneren Medizin und Pneumologie. Die Beklagte zu 3 hat also keine Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eines fremdes Fachgebiets angewandt, sondern (auch) eines eigenen. Damit bleibt der ärztliche Standard eines Facharzts für Innere Medizin und Pneumologie für die Beurteilung maßgeblich.

(2) Dieser Facharztstandard wurde durch die von der Beklagten zu 3 gestellten, objektiv fehlerhafte Diagnose nicht in vorwerfbarer Weise unterschritten. Der Sachverständige PD Dr. K. hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, jedenfalls nach erfolgter Beurteilung durch den Radiologen Prof. Dr. R. lasse sich auf der Röntgenaufnahme vom 31.01.2014 ex post auch für einen Pneumologen eine karzinomverdächtige, links-hiläre Verdichtung erkennen. Diese Ausführungen haben bereits darauf hingedeutet, dass dies für die maßgebliche ex ante-Perspektive anders zu beurteilen sein könnte. Die konkrete Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, ob die Verkennung des Verdachts auf eine links-hiläre, tumoröse Raumforderung auf dem Röntgenbild vom 31.01.2014 in der konkreten Situation objektiv unvertretbar und subjektiv unverständlich sei, hat der Sachverständige PD Dr. K. dann auch verneint. Hierzu hat er ausgeführt, dass zwar auch ein Pneumologe die Raumforderung hätte sehen können und sollen, der unterlaufene Diagnoseirrtum unter Berücksichtigung der erhobenen Befunde sowie des Umstands, dass es sich um eine kleine Raumforderung in einem schwer einsehbaren Bereich gehandelt habe, und der rückläufigen Beschwerdesymptomatik sicherlich nicht unvertretbar gewesen sei. Der Sachverständige hat sodann für die Kammer gut nachvollziehbar erläutert, weshalb die Raumforderung anatomisch nicht leicht zu erkennen gewesen sei. Zur Verdeutlichung hat der Sachverständige dargestellt, dass eine zutreffende Auswertung des Röntgenbilds vom 31.01.2014 von einem Studenten im Zweiten Staatsexamen nicht zu erwarten sei und selbst bei einer Facharztprüfung einen schwierigen Befund darstellen würde, bei dessen Fehlinterpretation allein ein Facharzt-Prüfling nicht durchfalle. Aufgrund dieser eindeutigen und gut nachvollziehbaren Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen geht die Kammer mit dem Sachverständigen davon aus, dass die Verkennung der Raumforderung auf dem Röntgenbild vom 31.01.2014 durch die Beklagte zu 3 jedenfalls in der konkreten Situation nicht objektiv unvertretbar und subjektiv unverständlich war. Die Voraussetzungen eines vorwerfbaren Diagnosefehlers sind danach nicht festzustellen.

bb) Den Beklagten zu 2 und 3 und damit den Beklagten insgesamt ist auch ein Befunderhebungsfehler nicht vorzuwerfen. Soweit die Klägerin rügt, die Beklagten zu 2 und 3 hätten behandlungsfehlerhaft weitere Befunde nicht erhoben, insbesondere keine Computertomografie der Lunge veranlasst, bleibt dies ohne Erfolg.

Nach den eindeutigen schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. K. waren die Befunderhebungen der Beklagten zu 2 und 3 jedenfalls unter der Annahme der (objektiv fehlerhaften) Bewertung der Röntgenaufnahme vom 31.01.2014 nicht zu beanstanden und leitliniengerecht, die empfohlene Therapie sinnvoll und adäquat. Der Sachverständige PD Dr. K. hat ausgeführt, sämtliche Entscheidungen der Beklagten zu 3 seien aber letztlich auf der Grundlage der Bewertung des Röntgenbildes vom 31.01.2014 folgefehlerhaft gewesen.

Der Umstand, dass bei einer zutreffenden Bewertung des Röntgenbilds vom 31.01.2014 standardgerecht weitere Befunde, etwa eine Computertomografie, zu erheben gewesen wären, kann den Vorwurf eines Befunderhebungsfehlers nicht stützen. Der Beklagten zu 3 ist ein Diagnoseirrtum unterlaufen, daneben aber kein hieraus resultierender Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift. Ein Diagnosefehler wird nicht dadurch zu einem Befunderhebungsfehler, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären (BGH, Urteil vom 21.12.2010 – VI ZR 284/09, juris Rn. 13). Für die Abgrenzung eines Diagnoseirrtums von einem Befunderhebungsfehler ist im Einzelfall der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit maßgeblich (Frahm/Walter, aaO, Rn. 141 mwN). Hier liegt dieser Schwerpunkt des Vorwurfs auf der irrtümlichen Diagnose, nämlich der objektiv fehlerhaften Bewertung des Röntgenbilds vom 31.01.2014, und somit auf der fehlerhaften Interpretation der erhobenen Befunde und nicht auf dem Unterlassen einer weiteren Befunderhebung.

cc) Auch ansonsten sind keine haftungsbegründenden Behandlungsfehler festzustellen. Nach den eindeutigen Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. K. waren sowohl die Befunderhebungen der Beklagten zu 2 und 3 als auch die Therapieempfehlungen zwar folgefehlerhaft, unter der Annahme der (objektiv fehlerhaften) Bewertung der Röntgenaufnahme vom 31.01.2014 aber nicht zu beanstanden.

b) Weil ein haftungsbegründender Behandlungsfehler nicht festzustellen ist, bedarf es keiner Entscheidung über die zwischen den Parteien streitige Frage der Ursächlichkeit für einen Primärschaden des Patienten, also über die Frage, ob die Erkrankung des Patienten bei einer früheren Diagnose des Bronchialkarzinoms am 31.01.2014 einen günstigeren Verlauf genommen hätte. Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung über die streitige Passivlegitimation der Beklagten zu 4 und 5, etwa aufgrund einer Haftung als Scheingesellschafter entsprechend § 128 HGB.

2. Mangels Anspruchs in der Hauptsache besteht auch weder ein Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen, nicht auf die Kosten des Rechtsstreits anrechenbaren Rechtsanwaltskosten noch auf die begehrten Zinsen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Medizinrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Medizinrecht und Arzthaftungsrecht.  Gerne beraten und vertreten wir Sie in medizinrechtlichen Angelegenheiten.

Rechtsanwälte Kotz Medizinrecht - Kreuztal

Urteile und Rechtstipps aus dem Medizinrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!