Medizinische Dokumentation des Behandlers
OLG Dresden – Az.: 4 W 468/21 – Beschluss vom 30.08.2021
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Chemnitz vom 07.06.2021 – 4 OH 32/20 – wie folgt abgeändert:
Gemäß § 485 Abs. 2 Satz 1 Ziffer 2 ZPO soll ein schriftliches Sachverständigengutachten zu folgenden Fragen eingeholt werden:
1.
Ist die bei der Antragstellerin am 16.02.2017 erfolgte Implantation einer unikondylären, medialen Schlittenprothese Typ Oxford Phase III am Kniegelenk objektiv fehlerhaft erfolgt?
2.
Erfolgte die Nachbehandlung fehlerhaft, insbesondere wurde mit der physiotherapeutischen Behandlung drei Tage postoperativ zu spät begonnen?
3.
Lagen Kontraindikationen bei der Antragstellerin vor?
II. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
III. Gerichtskosten werden im Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Eine Kostenerstattung findet nicht statt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des selbständigen Beweisverfahrens die Einholung eines schriftlichen Gutachtens zu Fragen im Zusammenhang mit einer am 16.02.2017 erfolgten Implantation einer unikondylären Schlittenprothese am linken Kniegelenk. Sie möchte wissen, ob die Implantation behandlungsfehlerhaft erfolgte, ob die Aufklärung über den Eingriff ordnungsgemäß war und Kontraindikationen bei ihr vorlagen und ob mit der physiotherapeutischen Nachbehandlung behandlungsfehlerhaft zu spät begonnen wurde.
Das Landgericht hat den Antrag nach zuvor erteilten umfangreichen Hinweisen mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Das rechtliche Interesse im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO sei wohl zu bejahen. Allerdings könnten mit Hilfe der vorgelegten Unterlagen Feststellungen zur Ursache eines Personenschadens nicht getroffen werden. Die Fragen dienten der Ausforschung. In der gestellten Form seien die Fragen zum Aufklärungsfehler ebenfalls unzulässig. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Ausführungen unter II. des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
In ihrer sofortigen Beschwerde verweist die Antragstellerin darauf, dass sämtliche weiteren erforderlichen Unterlagen wie beispielsweise Arztberichte im selbständigen Beweisverfahren durch den Sachverständigen eingeholt werden könnten.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß den §§ 490, 567 ZPO zulässig. In der Sache ist sie überwiegend begründet.
1.
Zu Recht bejaht das Landgericht ein rechtliches Interesse der Antragstellerin im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO. Ein solches Interesse ist stets dann anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann, und es entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass dies auch in Arzthaftungssachen in Betracht kommt (zuletzt: BGH, Beschluss vom 19.05.2020 – VI ZB 51/19, Rz. 8 m.w.N. – alle weiteren zitierten Entscheidung zitiert nach juris).
2.
Weiter hat das Landgericht zu Recht die Zulässigkeit der Beweisfrage Ziffer 2. verneint. Richtig ist zwar, dass nach neuerer Rechtsprechung die Beantwortung von Fragen im Zusammenhang mit der Aufklärung auch im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens für zulässig erachtet wird (BGH, a.a.O. Rz. 14 f.). Allerdings wird dem Antragsteller auferlegt, im selbständigen Beweisverfahren diejenigen Tatsachen vorzutragen, über die Beweis erhoben werden soll. In diesem Sinne sind rein „abstrakte“ Fragestellungen, wie die Frage danach, ob die Antragstellerin ordnungsgemäß aufgeklärt wurde, unzulässig. Zulässig wäre die Frage nach Aufklärungsfehlern in der Form, dass die Antragstellerin die sachverständige Feststellung darüber verlangt, über welche konkreten Risiken und Behandlungsalternativen bei der streitgegenständlichen Behandlung hätte aufgeklärt werden müssen (BGH, a.a.O., Rz. 14, 18). Die Antragstellerin hat es aber trotz Hinweises des Landgerichts bei der Frage belassen „Ist die Antragstellerin ordnungsgemäß über den geplanten Eingriff aufgeklärt worden?“. So gestellt kann die Frage im selbständigen Beweisverfahren nicht beantwortet werden. Es handelt sich bei der Beurteilung, ob die Aufklärung ordnungsgemäß erfolgt ist, um eine juristische Wertung, die nicht dem Sachverständigen obliegt und nicht Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens sein kann (BGH, a.a.O. Rz. 13 m.w.N.).
3.
Was die Beweisfragen 1. und 3. betrifft, so hat das Landgericht allerdings die Grenzen der Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens zu eng gezogen. Auch wenn eine Ausforschung im selbständigen Beweisverfahren unzulässig ist, dürfen entsprechend den geringeren Anforderungen an den Tatsachenvortrag des Patienten im Arzthaftungsprozess selbst auch im entsprechenden selbständigen Beweisverfahren hieran keine zu hohen Anforderungen gestellt werden (BGH, a.a.O., Rz. 18; Martinek/Rüßmann, jurisPK BGB, Stand 24.08.2020, § 630 h, Rz. 334 m.w.N.). Insbesondere darf es der Antragstellerin nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie noch keine hinreichenden medizinischen Unterlagen vorlegt. Das Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens entfällt nicht bereits deshalb, weil für eine abschließende Klärung des Sachverhaltes weitere Aufklärungen erforderlich sind. Im selbständigen Beweisverfahren müssen nicht alle für die Streitentscheidung relevanten Fragen geklärt werden, ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass die Feststellungen im selbständigen Beweisverfahren der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen können (BGH, Urteil vom 24.09.2013 – VI ZB 12/13; Martinek/Rüßmann, a.a.O., Rz. 326 m.w.N.). Dementsprechend ist es kein Hindernis, wenn im selbständigen Beweisverfahren die komplette ärztliche Dokumentation noch nicht vorliegt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 04.10.2011 – 5 W 477/11 – juris, Rz. 4). Es ist allein das Risiko des Patienten als Antragsteller, wenn ein Vorenthalten von Tatsachenmaterial ihm einen Misserfolg im Verfahren bescheren könnte (Martinek/Rüßmann, a.a.O., Rz. 332).
Vor diesem Hintergrund sind die Fragen nach der ordnungsgemäßen Implantation des Kniegelenks und nach der Rechtzeitigkeit der Nachbehandlung als zulässig einzustufen. Gleiches gilt letztlich auch für die zweite Teilfrage unter Ziffer 2. Nach Durchsicht der bislang vorgelegten, sehr übersichtlichen Unterlagen springt ohne Weiteres ins Auge, dass die Klägerin bekanntermaßen an Allergien gegen Nickel, Gentamycinsulfat, braunes Pflaster und Faustan litt (vorgelegter Entlassungsbrief des Krankenhauses St. Elisabeth vom 20.12.2017). Bei verständiger Auslegung der Beweisfrage ist die Frage nach Kontraindikationen hierauf zu beziehen.
III.
Eine Kostenentscheidung ist im Beschwerdeverfahren nicht veranlasst (Senatsbeschluss vom 01.02.2018 – 4 W 81/18, Rz. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.02.2017 – 9 W 57/16; OLG Celle, Beschluss vom 19.04.2015 – 13 W 18/15).