OLG Rostock – Az.: 5 W 32/18 – Beschluss vom 01.10.2018
I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Rostock vom 15.02.2018, Az. 10 OH 11/17 (2), teilweise wie folgt abgeändert:
1. Nach Ziffer I.2.g) werden folgende Beweisfragen eingefügt:
h) Wie hoch war das Misserfolgsrisiko (Eingriff vom 20.11.2015), wie hoch die Erfolgsaussichten?
i) Wie hoch war das Verschlechterungsrisiko bei der konkret vorliegenden medizinischen Behandlung?
j) Welche echten Behandlungsalternativen, beispielsweise konservative Behandlung, Zuwarten, weniger radikaler Eingriff, andere Operationsverfahren, bestanden für den Antragsteller in der konkret vorliegenden medizinischen Behandlung?
k) Gab es zu dem gewählten Vorgehen echte medizinische Operationsalternativen mit anderen Chancen und Risiken?
l) Beschreibt die schriftliche Aufklärung, wie sie sich dokumentiert bei den Behandlungsunterlagen befindet, die konkrete streitgegenständliche Behandlung hinsichtlich seiner Chancen und Risiken sowie bezüglich echter Behandlungsalternativen aus medizinischer Sicht zutreffend und erschöpfend?
m) Beschreibt die schriftliche Aufklärung, wie sie sich dokumentiert bei den medizinischen Behandlungsunterlagen befindet, die möglichen Folgen des Eingriffs vom 20.11.2015 aus medizinischer Sicht zutreffend und erschöpfend?
2. Die Beweisfrage gemäß Ziffer I.2.h) wird zu Ziffer I.2.n).
3. Die Beweisfrage gemäß Ziffer I.2.i) wird zu Ziffer I.2.o) und um folgende Sätze ergänzt:
Insbesondere liegt bei dem Antragsteller eine irreversible Schädigung vor oder kann die Schädigung durch eine oder mehrere Nachbehandlungsmaßnahmen, insbesondere Revisionsoperationen beseitigt werden? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich durch Nachbehandlungsmaßnahmen die Schäden beseitigen lassen?
4. Folgender Satz wird als Abschluss der Ziffer I. eingefügt:
Der Sachverständige soll jeweils angeben, mit welchem Grad der Sicherheit sich die vorstehenden Fragen beantworten lassen: Sicher – sehr wahrscheinlich – wahrscheinlich – möglich – unwahrscheinlich – äußerst unwahrscheinlich – sicher nicht.
II. Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.
III. Eine Gerichtsgebühr ist für das Beschwerdeverfahren nicht zu erheben.
Gründe
I.
Die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft sowie gemäß § 569 ZPO form- und fristgemäß eingelegt. In der Sache hat das Rechtsmittel überwiegend Erfolg.
1. Anders als das Landgericht geht der Senat davon aus, dass auch Fragen an einen medizinischen Sachverständigen, welche Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht betreffen, Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens sein können.
Klärungsfähige Tatsachen im Rahmen der Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens im Arzthaftungsrecht sind nach § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3 ZPO insbesondere die Tatsachenfragen nach dem Zustand einer Person, der Ursache eines Personenschadens oder dem Aufwand für die Beseitigung eines Personenschadens. Der Senat geht davon aus, dass auch Aufklärungsfehler und die diesbezüglichen Beweisfragen die Tatbestandsvoraussetzungen der Ursache eines Personenschadens im Sinne des § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO erfüllen (vgl. auch Hanseatisches OLG, Beschluss vom 11. Oktober 2016, Az.: 1 W 68/16, juris). Zum einen sieht bereits der Gesetzgeber nach Einführung des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten nicht nur den Behandlungsfehler, sondern auch den Aufklärungsfehler als Ursache eines Personenschadens an. So schließt § 630h BGB (“Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler“) in Abs. 2 den Aufklärungsfehler als Ursache der Haftung ausdrücklich mit ein. Daneben führt ein Aufklärungsfehler auch regelmäßig dazu, dass sich der Patient einem rechtswidrigen, in der Regel komplikationsbehafteten, ärztlichen Eingriff unterzieht und gerade hierdurch einen Personenschaden erleidet. Ohne diese Aufklärungsfehler hätte sich der Patient nicht oder jedenfalls nicht in dieser Form behandeln lassen und der konkrete Personenschaden wäre ausgeblieben.
Zudem ist nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 24. September 2013 (VI ZB 12/13, juris) davon auszugehen, dass ein Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens auch dann zulässig ist, wenn er Fragen zum Gegenstand hat, die einer rechtlichen Wertung bedürfen, wie in dem dort zu entscheidenden Sachverhalt die Frage nach der Bewertung eines Behandlungsfehlers als grober Fehler. Die Zulässigkeit auch solcher Fragen hat der Bundesgerichtshof damit begründet, dass wegen des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabes im Arzthaftungsrecht und wegen der nur auf der Basis sachverständiger Grundlagen zu treffenden Wertungen die rechtlichen Bewertungen in einem solchen Maße von der Beurteilung der damit zusammenhängenden fachmedizinischen Fragen abhängig ist, dass es als sinnvoll anzusehen ist, sie im Beweisverfahren zuzulassen, weil sie die Entscheidung zur Klageerhebung oder zur Verteidigung gegen die Klage maßgeblich mit beeinflussen. Der Bundesgerichtshof hat folglich dem Gesichtspunkt möglicher Prozessvermeidung eindeutig den Vorzug gegeben und damit bewusst in Kauf genommen, dass das Beweisverfahren damit für den Arzthaftungsprozess zu einer überaus weitgehenden Vorwegnahme der Hauptsache führt, und dass die früher vorherrschende, sehr zurückhaltende Anwendung des Beweisverfahrens im Arzthaftungsprozess aufgegeben und die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen wird (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 27. Dezember 2016 – 5 W 41/16 -, juris).
Vergleichbar ist die Sachlage bei der Aufklärungsrüge. Der Begriff des Aufklärungsfehlers ist – wie auch der vom Bundesgerichtshof entwickelte Begriff des groben Behandlungsfehlers – zunächst vom Sachverständigen mit medizinischen Wertungen auszufüllen, weshalb es mithin immer um die Klärung tatsächlicher medizinischer Umstände und nicht allein um eine rechtliche Beurteilung geht. Zwar handelt es sich bei der vom Tatrichter vorzunehmenden Bewertung, ob eine Aufklärung ordnungsgemäß erfolgt ist, um eine juristische Beurteilung. Jedoch bedarf diese einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage in den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen. Das heißt, sie muss in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können. Beispielsweise welches Ausmaß die ärztliche Aufklärung bedurft hätte, lässt sich für das Gericht erst beantworten, nachdem gutachterlich medizinisch festgestellt wurde, welche konkreten Risiken und Alternativen überhaupt bei der streitgegenständlichen Behandlung bestehen und ob und inwieweit die ärztliche Dokumentation insoweit notwendige Angaben enthält oder nicht. Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers besteht bereits darin, dass gerade die medizinische Wertung ihm wichtige Anhaltspunkte für seine Entscheidung über die weitere Rechtsverfolgung verschafft.
Für die Zulässigkeit der Fragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht im selbständigen Beweisverfahren spricht zudem, dass die Frage nach der Ursache eines Personenschadens i. S. d. § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO in medizinischer Hinsicht durchaus vom Umfang der gebotenen Aufklärung mitbestimmt werden kann und sich ebenso der Zustand der Person und die gebotene Aufklärung bedingen. Auch die Frage nach den allgemeinen Risiken eines Eingriffs ist im Rahmen der Haftung als Ursache eines Personenschadens im Sinne des § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO in der Arzthaftungspraxis von großer Bedeutung; insoweit besteht ein rechtliches Interesse an der Feststellung dieser medizinischen Tatsachen als Vorfrage für die richterliche Bewertung. Daneben kann auch die deliktisch relevante unzureichende Risiko-/Alternativaufklärung Ursache eines Schadens und damit im Arzthaftungsrecht streitentscheidend sein. Im Rahmen der Aufklärung sind zudem die medizinischen Erfolgsaussichten und das Misserfolgsrisiko der Behandlung als medizinische Tatsachenfragen von Bedeutung. Über ein Misserfolgsrisiko ist stets dann genau aufzuklären, wenn eine Operation zwar indiziert aber nicht dringlich ist und anstelle der Zustandsbesserung auch eine erhebliche Verschlechterung eintreten kann. Daher besteht auch für diese Frage ein rechtliches Interesse.
Selbst wenn der Sachverständige zu der medizinischen Bewertung bzw. Feststellung kommen sollte, dass die gesamten von der Behandlerseite vorzulegenden ärztlichen Behandlungsunterlagen keine oder eine nur unzureichende ärztliche Aufklärungsdokumention enthalten, wäre diese Feststellung für die Bewertung als Schadensursache im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO erheblich. Denn nach ständiger Rechtsprechung und nunmehr auch nach § 630h Abs. 2 und 3 i. V. m. § 630e BGB kommen dem Patienten gesetzliche Beweiserleichterungen zu Gute, wenn der Arzt die Durchführung der Aufklärung nicht richtig dokumentiert hat. Dass möglicherweise eine abschließende Klärung durch das einzuholende Gutachten nicht möglich ist und weitergehende Aufklärungen erforderlich erscheinen, was bei behaupteten Aufklärungsmängeln insbesondere im Fall einer unzureichenden Dokumentation regelmäßig der Fall ist, ändert nichts an der Zulässigkeit der Aufklärungsrüge im selbständigen Beweisverfahren. Denn der Bundesgerichtshof bejaht grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der vorprozessualen Beweissicherung auch dann, wenn zwar die Feststellung der haftungsrechtlich maßgeblichen Gründe für einen Gesundheitsschaden durch einen Sachverständigen der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann, jedoch für eine abschließende Erklärung weitere Aufklärungen erforderlich erscheinen (vgl. BGH, a.a.O.).
Schließlich streitet für die Zulassung der Aufklärungsrüge im selbständigen Beweisverfahren auch, dass für die im Zusammenhang mit einem Behandlungsgeschehen geltend gemachten Schadensersatzansprüche durch das selbständige Beweisverfahren eine Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB nicht nur wegen der vermeintlichen Behandlungsfehler, sondern auch wegen etwaiger Aufklärungsfehler bewirkt wird. Nach allgemeinen Grundsätzen ist die Verjährung nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB für jeden Fehler bzw. Streitgegenstand gesondert zu beurteilen. Das setzt nicht voraus, dass die jeweiligen Pflichtverletzungen zu unterschiedlichen Schäden geführt haben, sondern gilt auch dann, wenn die Pflichtverletzungen denselben Schaden verursacht haben. Bei einem Schadensersatzanspruch, der auf mehrere Fehler in Form von Behandlungsfehlern und/oder Aufklärungsfehlern gestützt werden kann, sind folglich alle Pflichtverletzungen verjährungsrechtlich selbständig zu behandeln. Beweisfragen zu Aufklärungsmängeln im selbständigen Beweisverfahren nicht zuzulassen, hätte zur Folge, dass der Patient nur mit Einreichen einer Arzthaftungsklage die Verjährung aller Ansprüche (d. h. wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern) sicher und umfassend hemmen könnte.
Im Ergebnis ist der Senat aus den vorgenannten Gründen der Ansicht, dass der Aufklärungsfehler im Arzthaftungsrecht stets als Ursache eines Personenschadens im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO zu bewerten und deshalb die Sachverständigenbewertung der Aufklärungsdokumentation im selbständigen Beweisverfahren zulässig ist.
2. Die Beschwerde erweist sich lediglich als unbegründet, soweit der Antragsteller die Beantwortung der Frage begehrt, wie sich ein vorsichtiger Arzt bzw. Facharzt verhalten hätte.
Diese unter Ziffer 2.e) seines Antrages vom 01.05.2017 (dort Seite 7) formulierte Frage bringt keinen Erkenntnisgewinn, der über denjenigen aus der Beantwortung der im angefochtenen Beschluss unter Ziffer I.2 formulierten Beweisfragen hinausgeht. Denn um die Fragen nach der (Nicht)Einhaltung des medizinischen Standards hinsichtlich der erhobenen Vorwürfe (unterlassene Befunderhebung und fehlende medizinische Indikation für den Eingriff vom 20.11.2015) zu beantworten, bedarf es ohnehin der Klärung des medizinischen Standards für die streitbefangene Behandlung, auf die die Beweisfrage zum Verhalten eines „vorsichtigen Arztes bzw. Facharztes“ abzielt.
II.
Im Hinblick auf den überwiegenden Erfolg der sofortigen Beschwerde bestimmt der Senat, dass eine Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren nicht zu erheben ist, Nr. 1812 KV zu § 3 Abs. 2 GKG. Im übrigen ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 9. April 2015 – 13 W 18/15 -, juris m. w. N.).