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Unterscheidung von Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler bei Bandscheibenvorfall

OLG Koblenz, Az.: 5 U 347/15, Beschluss vom 06.07.2015

Gründe

Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig davon überzeugt ist, dass sie offensichtlich ohne Erfolgsaussicht ist, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ein Urteil erfordern und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Im Einzelnen ist zur Sach- und Rechtslage zu bemerken:

I. Der Kläger wurde am 6.05.2008 als Belegpatient der in einer orthopädischen Gemeinschaftspraxis verbundenen Beklagten zu 3. und zu 4. im Krankenhaus der Beklagten zu 1. aufgenommen. Er hatte Wirbelsäulenbeschwerden. Ein MRT zeigte Spondylarthrosen bei L 3/4 und L 4/5 sowie einen großen Prolaps bei L 4/5 auf. Dadurch war der Spinalkanal eingeengt.

Unterscheidung von Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler bei Bandscheibenvorfall
Symbolfoto: Von visivastudio /Shutterstock.com

Man wollte eine konservative Behandlung durchführen. Zu deren Vorbereitung wurden am Vormittag des 8.05.2008 in der Anästhesie der Beklagten ein Peridural-Katheter gelegt und Analgetika zugeführt. In der Folge ließen die Schmerzen und Taubheitsgefühle des Klägers nach. Am frühen Nachmittag kehrten sie indessen zurück. Nach dem Klagevorbringen waren sie erheblich und von einer Gangunsicherheit sowie alsbald auch von einer Blasenentleerungsstörung begleitet.

Der Kläger informierte das Pflegepersonal, das den Beklagten zu 2. herbei rief. Dieser war gemäß der Behauptung des Klägers als Arzt im Krankenhaus der Beklagten zu 1. angestellt, deren Darstellung nach jedoch Mitarbeiter in der Praxis der Beklagten zu 3. und zu 4.. Der Beklagte zu 2. sah die Symptomatik des Klägers im Zusammenhang mit dessen alten Beschwerden und der Katheterbehandlung. Vor seiner Konsultation, die gegen 14 Uhr stattfand, hatte es keine Miktionsprobleme gegeben. Folgt man dem Kläger, traten sie jedoch kurz danach auf und sollen dann gegen 14.30 Uhr dem Pflegepersonal bekannt gegeben worden sein, das den Beklagten zu 3. entsprechend telefonisch unterrichtet habe. Die Beklagten zu 2., zu 3. und zu 4. haben entgegnet, dass sich die Information auf die Mitteilung von Schmerzen beschränkt habe.

Der Beklagte zu 3. deutete die Dinge ähnlich wie der Beklagte zu 2. und ordnete ein anästhesiologisches Konsil an. Daraufhin erschien gegen 18 Uhr eine Assistenzärztin am Bett des Klägers, dem man bisher mangels einer entsprechenden ärztlichen Verordnung die Gabe von Schmerzmitteln verweigert hatte. Die Assistenzärztin zog ihren Oberarzt zu. Unstreitig waren jetzt Blasenentleerungsstörungen offenbar. Ein Notfall-MRT führte zu der Erkenntnis, dass es zu einem Massenprolaps bei L4/L5 gekommen war. Der Kläger wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt und dort noch vor Mitternacht operiert.

Er hat den Beklagten vorgeworfen, dass der Massenprolaps verspätet diagnostiziert worden sei und man langfristig nicht auf eine Blasenentleerung hingewirkt habe. Die Beklagte zu 1. habe keine hinreichende ärztliche Versorgung in der Station gewährleistet, der Beklagte zu 2. die Situation falsch eingeschätzt und die Beklagten zu 3. und zu 4. hätten ihre Betreuungspflichten vernachlässigt, indem sie nicht vor Ort erschienen seien. Die Verzögerung in der gebotenen Therapie habe eine anhaltende Miktionsstörung nach sich gezogen, die – nach dem vorübergehenden Einsatz eines Katheters – nunmehr elektro-stimulatorisch behandelt werde. Deshalb habe er, der Kläger, seinen angestammten Beruf als Kesselwärter aufgeben und sich zum Sachbearbeiter umschulen lassen müssen. Bedingt dadurch und durch Krankheitsausfallzeiten seien ihm Einkommenseinbußen von 27.761,88 € entstanden. Darüber hinaus habe er in Höhe von 390 € Zuzahlungen zu Therapieleistungen erbracht und zu Behandlungszwecken Fahrtkosten von 4.075,80 € gehabt.

Mit der vorliegenden Klage ist gegenüber allen Beklagten die Summe dieser Beträge und daneben ein Schmerzensgeld von zumindest 25.000 € geltend gemacht worden. Außerdem hat der Kläger den Ausgleich vorgerichtlicher Anwaltsgebühren von 2.038,36 € eingefordert und die Feststellung der Haftung der Beklagten für Zukunftsschäden begehrt.

Das Landgericht hat zum Geschehenshergang den Kläger sowie die Beklagte zu 2. und zu 3. angehört; daneben hat es die Ehefrau des Klägers und zwei seinerzeit bei der Beklagten zu 1. beschäftigte Pflegekräfte als Zeugen befragt. Des Weiteren ist ein orthopädisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Anschließend hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Aus seiner Sicht gibt es keine Gewissheit darüber, dass dem Pflegepersonal des Krankenhauses am Nachmittag des 8.05.2008 über Blasenentleerungsprobleme des Klägers berichtet wurde. Ohne eine entsprechende Information habe man die Situation nicht als kritisch zu deuten brauchen. Insofern sei auch ärztlicherseits kein Vorwurf zu machen. Unabhängig davon stehe nicht fest, dass der Schaden des Klägers weniger gravierend gewesen wäre, wenn man den Massenprolaps früher entdeckt hätte.

Dagegen wendet sich der Kläger in Erneuerung seiner erstinstanzlichen Anträge mit der Berufung. Er hält an seiner Darstellung zum Geschehenshergang fest. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht sei insoweit fehlerhaft. Außerdem sei versäumt worden, zur Schadenskausalität ein urologisches Sachverständigengutachten einzuholen.

II. Die Rechtsmittelangriffe sind nicht geeignet, eine Änderung der angefochtenen Entscheidung herbeizuführen. Die Klage ist im Ergebnis zu Recht abgewiesen worden.

Die Berufung rügt die Auffassung des Landgerichts, es wäre möglicherweise auch dann zu einer anhaltenden Blasenschädigung des Klägers gekommen, wenn der Massenprolaps frühzeitig diagnostiziert worden wäre und man dann schneller als geschehen für Abhilfe gesorgt hätte. Insofern beanstandet sie, dass diese Beurteilung lediglich auf das in Auftrag gegebene orthopädische Sachverständigengutachten gegründet worden sei, obwohl es sich um eine spezifische urologische Problematik handele, die nur aus dem dortigen Fachbereich heraus kompetent gewürdigt werden könne.

Es kann auf sich beruhen, ob diese Kritik berechtigt ist und die Frage nach dem Kausalzusammenhang zwischen der verzögerten Behandlung des Klägers und dessen langfristiger Schädigung daher neu beantwortet werden muss. Denn die Haftung der Beklagten ist bereits deshalb zu verneinen, weil sich Pflichtverstöße auf deren Seite nicht feststellen lassen.

Die Sachverständigen Prof. Dr. W. und Dr. P. haben hervorgehoben, dass „das Ereignis eines Massenprolapses, wie im vorliegenden Fall, ausgesprochen selten (ist) und hinsichtlich der klinischen Symptomatik bei Vorliegen eines chronischen Schmerzsyndroms unter laufender Analgesie mittels Peridualkatheter nachvollziehbar fehlinterpretiert werden (kann)“. Nach der gutachterlichen Erkenntnis waren Schmerzen auch stärkerer Intensität, selbst wenn mit ihnen eine Herabsetzung der Sensibilität und der Muskelkraft einherging, nicht indikativ für einen weitreichenden Bandscheibenvorfall, wie er am 8.05.2008 aufgetreten war, solange sich nicht ein plötzlicher massiver Schmerz und eine tiefgreifende Störung der Blasenfunktion manifestierten. Da gemäß den Feststellungen des Landgerichts eine derartige Zuspitzung der Verhältnisse weder für das Pflegepersonal, das den Kläger am Nachmittag des 8.05.2008 versorgte, noch für den vor Ort eingetroffenen Beklagten zu 2. erkennbar war und sich genauso wenig für den telefonisch benachrichtigten Beklagten zu 3. oder für die auf dessen Betreiben informierte Anästhesie erschloss, bestand aus deren Sicht keine neue Gefahrenlage und damit kein akuter Handlungsbedarf.

Die Wertung von Prof. Dr. W. und Dr. P., es habe auf dieser Grundlage keinen vorwerfbaren Diagnosefehler oder Befunderhebungsfehler gegeben, ist zu teilen. Irrtümer in der Stellung einer Diagnose rechtfertigen nämlich nicht schon aus sich heraus den Schluss auf ein schuldhaftes ärztliches oder pflegerisches Verhalten (BGH VersR 1981, 1033; BGH NJW 2003, 2827). Denn derartige Fehleinschätzungen sind in der medizinischen Praxis nicht ungewöhnlich, weil die Symptome einer Erkrankung oft mehrdeutig sind. Liegt eine Ursache dafür nahe, kann das den Blick auf andere Umstände verstellen, ohne dass damit Fahrlässigkeiten einhergehen müssen. Ein haftungsrechtlich erhebliches Verschulden ist erst dort gegeben, wo das diagnostisch gewonnene Ergebnis für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheint. Diese besondere Voraussetzungen lassen sich im vorliegenden Fall angesichts der klaren Aussage der Sachverständigen nicht bejahen. Dass der auf Seiten der Beklagten schuldlos unterlaufene Diagnosefehler die Fertigung einer zielführenden bildgebenden Untersuchung verzögerte, kann nicht als Befunderhebungsfehler begriffen werden (BGH MDR 2011, 224); denn die vermisste Befunderhebung wäre erst bei einer Falsifizierung der Diagnose geboten gewesen.

Freilich beruht die vorstehend dargelegte rechtliche Beurteilung auf der vom Kläger im Tatsächlichen bestrittenen Feststellung des Landgericht, dass die spezifische Symptomatik des neuen Prolaps und dabei insbesondere die Blasenentleerungsstörungen am Nachmittag des 8.05.2008 nicht zur Sprache gebracht wurden und damit nicht in die diagnostischen Überlegungen einbezogen werden konnten. Aber diese Feststellung ist in Abwägung der Gesamtumstände getroffen worden. Dabei wurde auch und gerade der Zeugenaussage der Ehefrau des Klägers, auf die dieser nachdrücklich verweist, eingehend Rechnung getragen. Von deren Glaubhaftigkeit hatte sich das Landgericht, als es nach einer ersten Vernehmung zu einem Richterwechsel gekommen war, noch kurz vor seiner Entscheidungsfindung in Wiederholung der Beweisaufnahme einen umfassenden persönlichen Eindruck verschafft. Insgesamt sind die Überlegungen des Landgerichts plausibel und ohne weiteres nachvollziehbar. Sie geben keinen Raum für rechtserhebliche Zweifel. Damit bindet die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung für das Berufungsverfahren (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

III. Nach alledem sollte der Kläger erwägen, sein Rechtsmittel aus Kostengründen zurückzunehmen. Bis zum 29.07.2015 besteht Gelegenheit zur Stellungnahme.

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