Das Gericht wies die Klage der Patientin ab, da der Hausarzt im Behandlungsverlauf sorgfältig, zeitgemäß und fachgerecht gehandelt hatte und keine schadensersatzbegründende Pflichtverletzung vorlag. Die umfangreiche Diagnostik durch den Hausarzt entsprach dem medizinischen Standard, und die Patientin muss die Kosten des Rechtsstreits tragen.
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Übersicht
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Falschbehandlung wegen Verdauungsproblemen: Hausarzt haftet nicht für Schäden
- Der Fall vor dem Landgericht München II im Detail
- ✔ FAQ zum Thema: Verdauungsprobleme und Falschbehandlung
- Was sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Klage wegen ärztlicher Fehlbehandlung?
- Wie wird der medizinische Standard in Gerichtsverfahren festgestellt?
- Welche Rolle spielen medizinische Leitlinien in der Beurteilung von Behandlungsfehlern?
- Was ist der Unterschied zwischen Schadensersatz und Schmerzensgeld?
- § Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- ➜ Das vorliegende Urteil vom Landgericht München II
✔ Das Wichtigste in Kürze
- Der Hausarzt (Beklagte) wurde von Behandlungsfehlern freigesprochen, da er die gebotene Diagnostik durchführte und der medizinische Standard eingehalten wurde.
- Eine Stuhluntersuchung zur Erkennung von Parasiten war bei den vorliegenden Symptomen nicht zwingend erforderlich.
- Die durchgeführten Untersuchungen wie Gewebeentnahmen, Endoskopien und Labortests entsprachen dem fachärztlichen Standard.
- Die fehlende Stuhluntersuchung hatte keinen Einfluss auf die Behandlung und Beschwerdedauer.
- Der Sachverständige bestätigte, dass der Hausarzt sorgfältig, zeitgemäß und fachgerecht handelte.
- Die Klägerin konnte keinen Behandlungsfehler nachweisen, sodass keine Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüche bestehen.
- Leitlinien beschreiben nicht zwingend den medizinischen Standard, entscheidend ist das bewährte fachärztliche Vorgehen.
- Die Empfehlung zur Stuhluntersuchung durch einen Gastroenterologen wurde letztlich von diesem selbst kontrolliert, sodass weitere Maßnahmen nicht erforderlich waren.
Falschbehandlung wegen Verdauungsproblemen: Hausarzt haftet nicht für Schäden
Verdauungsprobleme und Störungen des Stuhlgangs sind häufige gesundheitliche Beschwerden, die viele Menschen betreffen. Ursachen hierfür können vielfältig sein – von Nahrungsmittelunverträglichkeiten über Reizdarmsyndrom bis hin zu schwerwiegenderen Erkrankungen des Verdauungstrakts. Ist die Ursache nicht klar, kann eine sorgfältige medizinische Abklärung durch den Hausarzt entscheidend sein, um die richtige Diagnose zu stellen und eine effektive Behandlung einzuleiten.
Nicht immer verläuft eine solche Behandlung jedoch reibungslos. Manchmal kommt es zu Fehleinschätzungen oder Behandlungsfehlern durch den Arzt, die eine Verschlimmerung der Beschwerden zur Folge haben können. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob der Patient Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld hat.
Im Folgenden soll ein konkreter Gerichtsfall beleuchtet werden, in dem es um Verdauungsprobleme und eine mögliche Falschbehandlung durch den Hausarzt ging.
Der Fall vor dem Landgericht München II im Detail
Patientin scheitert mit Klage gegen Hausarzt wegen angeblicher Falschbehandlung
In diesem Fall klagte eine Patientin gegen ihren Hausarzt wegen einer angeblichen Falschbehandlung ihrer Verdauungs- und Stuhlgangsprobleme. Sie warf dem Internisten vor, notwendige Diagnostik, wie eine Stuhlprobe und eine Röntgenuntersuchung im Stehen, unterlassen zu haben. Diese Versäumnisse hätten zu einer jahrelangen Behandlungsverzögerung und einer Verschlechterung ihrer Beschwerden geführt. Die Klägerin forderte ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000 Euro sowie Schadensersatz für Haushaltsführungs- und Erwerbsschäden.
Umfangreiche Diagnostik durch Hausarzt entsprach medizinischem Standard
Das Gericht wies die Klage der Patientin ab, da sie den Vorwurf eines Behandlungsfehlers nicht beweisen konnte. Der Hausarzt hatte im Zeitraum von Februar 2016 bis Dezember 2018 eine gründliche Anamnese, klinische Untersuchungen sowie laborchemische und sonografische Untersuchungen durchgeführt. Zusätzlich empfahl er der Patientin fachspezifische Abklärungen bei HNO-Ärzten, Gastroenterologen und Orthopäden.
Ausschlaggebend für das Urteil war das Gutachten eines Sachverständigen, Facharzt für Allgemeinmedizin und Innere Medizin mit Spezialisierung in Gastroenterologie. Der Experte bestätigte, dass der Hausarzt im gesamten Behandlungsverlauf sorgfältig, zeitgemäß und fachgerecht gehandelt habe.
Stuhluntersuchung nicht zwingend erforderlich, Leitlinien nicht immer maßgeblich
Die Klägerin argumentierte, dass eine frühzeitige Stuhluntersuchung den Befall mit Amöben und Parasiten, der erst im Mai 2018 diagnostiziert wurde, früher erkannt hätte. Der Sachverständige stellte jedoch klar, dass die erhobenen Befunde keine Stuhluntersuchung zum Ausschluss einer Parasitenbesiedlung erforderten. Die Gewebeentnahmen aus Dünn- und Dickdarm sowie die durchgeführten Endoskopien waren ausreichend, um den Symptomen nachzugehen.
Die Klägerin berief sich zudem auf die S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom“, die eine Stuhluntersuchung empfiehlt. Der Sachverständige wies darauf hin, dass Leitlinien nicht immer den medizinischen Standard abbilden und im konkreten Fall die alltägliche Praxis für die Obstipationssituation der Klägerin auf eine Stuhluntersuchung verzichtet.
Keine Fehlinterpretation der Befunde und keine falsche Diagnose
Das Gericht schloss auch eine Fehlinterpretation der Befunde oder eine falsche Diagnose durch den Hausarzt aus. Die Klägerin hatte vielfältige Symptome, die sich keinem konkreten Krankheitsbild zuordnen ließen. Der Sachverständige betonte, dass bei Darmbeschwerden häufig keine organischen Befunde vorliegen und die Ursachen für bestimmte Symptome oft unklar bleiben.
Auch der Vorwurf, der Hausarzt habe ein Megacolon übersehen, wurde entkräftet. Ein Megacolon war auf den vorhandenen Röntgenaufnahmen nicht erkennbar und wurde auch nie objektiv diagnostiziert.
Das Gericht sah keine schadensersatzbegründende Pflichtverletzung durch den Hausarzt und wies die Klage ab. Die Patientin muss die Kosten des Rechtsstreits tragen.
✔ FAQ zum Thema: Verdauungsprobleme und Falschbehandlung
Was sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Klage wegen ärztlicher Fehlbehandlung?
Für eine erfolgreiche Klage wegen ärztlicher Fehlbehandlung müssen Patienten in der Regel beweisen, dass der behandelnde Arzt den allgemein anerkannten medizinischen Standard nicht eingehalten hat und sie dadurch einen Gesundheitsschaden erlitten haben. Es muss also ein Verstoß gegen die ärztlichen Sorgfaltspflichten vorliegen, die sich aus dem jeweiligen, dem behandelnden Arzt bei zumutbaren Anstrengungen zugänglichen und verfügbaren Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung ergeben.
Der Patient trägt grundsätzlich die Beweislast für den Schaden, den Behandlungsfehler und den Ursachenzusammenhang zwischen beidem. Allerdings gibt es Beweiserleichterungen für den Patienten, wenn grobe Behandlungsfehler, Aufklärungs- oder Dokumentationsmängel vorliegen. Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen aus objektiver Sicht nicht mehr verständlichen Fehler begangen hat, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.
Neben dem Nachweis eines Behandlungsfehlers muss der Patient auch belegen, dass der Gesundheitsschaden durch den Fehler verursacht wurde (Kausalität). Ein Misserfolg der Behandlung allein reicht nicht aus, da Ärzte nur zu einer Behandlung nach medizinischem Standard, nicht aber zu einem bestimmten Heilungserfolg verpflichtet sind.
Gelingt dem Patienten der Nachweis eines (groben) Behandlungsfehlers und des Ursachenzusammenhangs, kann er Schadensersatz und Schmerzensgeld vom Arzt bzw. Krankenhausträger verlangen. Die Höhe richtet sich nach der Schwere des Gesundheitsschadens und weiteren Umständen des Einzelfalls. Zur Orientierung können Schmerzensgeldtabellen herangezogen werden.
Wie wird der medizinische Standard in Gerichtsverfahren festgestellt?
Der medizinische Standard wird in Gerichtsverfahren in der Regel durch medizinische Sachverständige festgestellt. Der Sachverständige hat die Aufgabe zu prüfen, welcher Standard zum Zeitpunkt der Behandlung galt, ob die Behandlung diesem Standard entsprach und ob es gegebenenfalls nachvollziehbare Gründe für ein Abweichen gab.
Dabei repräsentiert der Standard den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft und ärztlichen Erfahrung. Er gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften Arzt des jeweiligen Fachbereichs in der konkreten Behandlungssituation erwartet werden kann.
Medizinische Leitlinien können den Standard grundsätzlich nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen. Ein Verstoß gegen Leitlinien führt daher nicht automatisch zu einer Standardunterschreitung. Umgekehrt befreit leitlinienkonformes Verhalten nicht zwangsläufig vom Vorwurf eines Behandlungsfehlers. Für die Feststellung des Standards bedarf es stets mehr als den bloßen Vergleich einer Behandlung mit Leitlinienempfehlungen.
Letztlich entscheidet der Richter unter Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens über den im konkreten Fall geltenden Standard. Ohne den medizinischen Sachverständigen wäre der Richter dabei faktisch hilflos. Dennoch dürfen weder Richter noch Sachverständiger den Inhalt von Leitlinien ignorieren, sondern müssen diese berücksichtigen.
Welche Rolle spielen medizinische Leitlinien in der Beurteilung von Behandlungsfehlern?
Medizinische Leitlinien spielen bei der Beurteilung von Behandlungsfehlern eine wichtige, aber keine allein entscheidende Rolle. Sie können den zum Behandlungszeitpunkt geltenden medizinischen Standard grundsätzlich wiedergeben, diesen aber nicht konstitutiv begründen.
Leitlinien sind in erster Linie als fachliche Orientierungshilfe für Ärzte zu verstehen. Sie sollen die Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen unterstützen, können aber nicht jeden Einzelfall abbilden. Ihr vorrangiges Ziel ist es, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die Versorgung zu tragen und so den medizinischen Standard fortzuentwickeln.
Daher können Leitlinien den medizinischen Standard im haftungsrechtlichen Sinne nicht definieren oder ersetzen. Ein Abweichen von Leitlinienempfehlungen führt nicht automatisch zu einer Unterschreitung des Standards und damit zu einem Behandlungsfehler. Umgekehrt garantiert leitlinienkonformes Verhalten nicht, dass kein Behandlungsfehler vorliegt.
Für die Feststellung des im konkreten Fall geltenden medizinischen Standards bedarf es stets einer Gesamtbetrachtung durch medizinische Sachverständige. Diese müssen den Standard zum Behandlungszeitpunkt ermitteln und darlegen, ob die Behandlung diesem entsprach. Dabei sind Leitlinien zu berücksichtigen, aber nicht allein maßgeblich.
Letztlich entscheidet der Richter unter Würdigung des Sachverständigengutachtens, ob ein Behandlungsfehler vorliegt. Leitlinien können somit weder den Sachverständigen noch dessen Bewertung des Standards ersetzen. Dennoch kommt ihnen als Orientierungshilfe und Anhaltspunkt für den Standard eine nicht zu unterschätzende Indizwirkung zu.
Was ist der Unterschied zwischen Schadensersatz und Schmerzensgeld?
Der zentrale Unterschied zwischen Schadensersatz und Schmerzensgeld liegt in der Art des Schadens, der ausgeglichen werden soll:
Schadensersatz bezieht sich auf materielle Schäden, also auf konkrete finanzielle Verluste oder Aufwendungen. Ziel ist die Wiederherstellung des Zustandes vor dem Schadensereignis, meist durch Geldleistungen. Beispiele sind Kosten für Reparaturen, Arztbehandlungen, Verdienstausfälle oder Mehraufwendungen aufgrund einer Behinderung. Die Anspruchsgrundlage für Schadensersatz ist in § 249 BGB geregelt.
Schmerzensgeld hingegen soll immaterielle Schäden kompensieren, die sich nicht ohne weiteres in Geld beziffern lassen. Es geht um den Ausgleich für erlittene Schmerzen, Leiden und andere Nachteile wie Einschränkungen der Lebensqualität. Die Höhe des Schmerzensgeldes hängt von der Schwere und Dauer der Beeinträchtigungen ab und muss im Einzelfall geprüft werden. Anspruchsgrundlage ist § 253 BGB.
Wichtig: Schadensersatz und Schmerzensgeld schließen sich nicht aus, sondern können nebeneinander geltend gemacht werden. Bei Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit bestehen oft Ansprüche auf beides – Schadensersatz für die finanziellen Folgen und Schmerzensgeld für die immateriellen Einbußen.
Für die Durchsetzung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen ist eine sorgfältige Aufstellung aller Schadenspositionen nötig. Dabei kann die Unterstützung eines erfahrenen Anwalts für Medizinrecht hilfreich sein.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 630a Abs. 2 BGB (Behandlungsvertrag): Regelt die Pflichten aus dem Behandlungsvertrag, speziell die Anforderung, dass die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat. Im vorliegenden Fall war entscheidend, ob der Hausarzt diese Standards eingehalten hat.
- Beweislast im Arzthaftungsrecht: In Arzthaftungsfällen muss grundsätzlich der Patient beweisen, dass ein Fehler des Arztes vorliegt und dieser zu einem Schaden geführt hat. Hier konnte die Klägerin nicht nachweisen, dass die Behandlung des Hausarztes fehlerhaft war.
- § 823 BGB (Deliktische Haftung): Betrachtet die Haftung für Schäden, die durch eine rechtswidrige und schuldhafte Handlung entstehen. Im Kontext der Falschbehandlung wäre relevant, ob der Hausarzt schuldhaft gegen seine Pflichten verstoßen hat.
- S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom“: Während Leitlinien medizinische Empfehlungen darstellen und oft in der medizinischen Praxis Anwendung finden, sind sie rechtlich nicht bindend. Der Sachverständige betonte, dass das Abweichen von einer Leitlinie im gegebenen medizinischen Kontext gerechtfertigt war.
- § 253 Abs. 2 BGB (Immaterieller Schaden): Regelt die Voraussetzungen für die Gewährung von Schmerzensgeld. Im vorliegenden Fall forderte die Klägerin Schmerzensgeld, konnte aber die Voraussetzungen für eine Haftung des Arztes nicht erfüllen.
- Grundsatz der vorläufigen Vollstreckbarkeit nach § 708 Nr. 11 ZPO: Ermöglicht dem Kläger, das Urteil vorläufig zu vollstrecken, wenn er Sicherheit leistet. Dies ist relevant, da das Urteil vorläufig vollstreckbar erklärt wurde.
➜ Das vorliegende Urteil vom Landgericht München II
LG München II – Az.: 1 O 5153/21 Hei – Urteil vom 31.10.2023
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend bzw. begehrt die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für materielle und immaterielle Zukunftsschäden, im Zusammenhang mit einer hausärztlichen Behandlung im Zeitraum Februar 2016 bis Dezember 2018.
Die am 26.06.1969 geborene Klägerin stellte sich erstmalig am 23.02.2016 unter anderem wegen Schmerzen im Bauch- und Magenbereich / epigastrischen Beschwerden in der hausärztlichen Praxis des Beklagten (Internist) vor. Der Beklagte empfahl eine Säureblocker-Therapie und überwies die Klägerin zur Gastroskopie an einen Gastroenterologen, der keinen Nachweis von Lamblien fand.
Im Mai 2018 wurden ein Darmbefall mit Amöben und Parasiten (vgl. Laborbefund vom 28.05.2018: „Giardia lamblia, Entamoeba histolytica/dispar“ und vom 29.05.2018: „Heliobacter“) und ein Megakolon festgestellt.
Im Januar 2019 ließ die Klägerin eine subtotale Kolektomie durchführen.
Die Klägerin behauptet, der Beklagte habe gebotene Diagnostik, insbesondere eine Stuhlprobe und eine Röntgenuntersuchung im Stehen, unterlassen. Folge der unterlassenen Befunderhebung seien eine Behandlungsverzögerung von zwei bzw. drei Jahren mit anhaltenden Magen-, Bauch- und Darmschmerzen, ein stark aufgeblähter Bauch, der insbesondere im Stehen Probleme bereitet habe, Verdauungs- und Stuhlgangsprobleme, Gliederschmerzen, stark nachlassende Leistungsfähigkeit, erhebliche Gewichtsabnahme, Kreuzschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Essstörungen, Lähmungs- und Missempfindungserscheinungen der Nerven, Blasenprobleme, Schwierigkeiten beim Stehen und Gehen, Schwindel, Kreislaufzusammenbrüche, Zittern und anfallartige Muskelzuckungen, Steißbeinverformung (S. 5 der Klage), unerträgliche Schmerzen und psychischen Belastungen („man wird von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen können“, S. 5 der Klage) sowie Einschränkungen in der Haushaltsführung gewesen (näher dargelegt ab S. 8 der Klage).
Die Klägerin erachtet ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000,00 € für angemessen (näher ausgeführt auf S. 11/12 der Klage) und verlangt einen Ersatz für Haushaltsführungsschäden (S. 13 der Klage) sowie Erwerbsschäden (S. 14 der Klage).
Die Klägerin beantragt:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nicht unter 100.000 EUR nebst Zinsen darauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB ab 29.03.2021 zu zahlen.
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von 42.765,78 EUR nebst Zinsen darauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB ab 29.03.2021 zu zahlen.
3. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von 10.625,62 EUR nebst Zinsen darauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB ab 29.03.2021 zu zahlen.
4. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von 4.153,58 EUR nebst Zinsen darauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB ab 29.03.2021 zu zahlen.
5. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Zukunftsschäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften Behandlung ab Februar 2016 durch den Beklagten resultieren, sofern diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergehen.
Der Beklagte beantragt, die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
Der Beklagte bringt vor, die ärztliche Behandlung sei lege artis erfolgt.
Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. S vom 17.04.2023 und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24.10.2023 Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24.10.2023 sowie auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin stehen weder unter vertraglichen, noch unter deliktischen Gesichtspunkten Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten zu, weil sie schadensursächliche Behandlungsfehler nicht nachzuweisen vermochte.
Die Kammer hat sich bei ihrer Beurteilung sachverständig durch Dr. S beraten lassen. Der Sachverständige ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie. Als Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin der Kreisklinik R verfügt er über eine hohe wissenschaftliche Expertise und eine herausragende klinische Erfahrung gerade in der Behandlung von Patienten mit Darmbeschwerden. Er ist nach gründlicher Auswertung der Behandlungsunterlagen unter Berücksichtigung der Argumente der Parteien zu gut nachvollziehbaren und ausführlich begründeten Ergebnissen gekommen.
I. Die vom Beklagten durchgeführte Diagnostik entsprach in Anbetracht der erhobenen Befunde dem – gebotenen (§ 630a Abs. 2 BGB) – fachärztlichen Standard; aus der streitgegenständlichen Behandlung ist der Klägerin kein Schaden entstanden.
1. Die Klägerin hat zahlreiche Symptome während der streitgegenständlichen Behandlung geschildert, welche sich nicht einem einzigen Organsystem oder konkreten Krankheitsbild zuordnen ließen. Nach dem Ausschluss lebensbedrohlicher Erkrankungen ist in derartigen Fällen eine etappenweise Abklärung der Ursache für die Beschwerden geboten. Der Beklagte hat eine gründliche Anamnese sowie klinische, laborchemische und sonografische Untersuchungen durchgeführt. Darüber hinaus hat er eine fachspezifische Abklärung von Symptomen bei HNO-Ärzten, Gastroenterologen und Orthopäden empfohlen. Im gesamten Verlauf hat der Beklagte stets sorgfältig, zeit- und fachgerecht gehandelt (S. 19-22 des Gutachtens vom 17.04.2023).
2. Die mikrobiologische Untersuchung einer Stuhlprobe war nicht geboten und hätte im Übrigen an den klägerischen Beschwerden nichts geändert (vgl. zu letzterem speziell Punkt I. 2. c. bb.).
a) Insbesondere geboten die erhobenen Befunde eine derartige Untersuchung nicht zum Ausschluss einer Besiedlung mit Parasiten und anderen Krankheitserregern. Durch die Gewebeentnahme aus Dünn- und Dickdarm wurde in ausreichendem Maße den Symptomen nachgegangen. Spezifische Anzeichen eines akut-symptomatischen Befalls mit Amöben und Parasiten – nämlich eine akute Durchfallerkrankung oder einen Ileus – zeigte die Klägerin nicht. Durch die Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (im Folgenden: ÖGD) sowie die Koloskopien wurden zudem Veränderungen ausgeschlossen, die es bei einem chronischen Befall mit Amöben und Lamblien gegeben hätte. Wenn man überhaupt in Anbetracht der während der streitgegenständlichen Behandlung geschilderten Symptome eine Erregerdiagnostik für notwendig halten sollte, wäre diese durch die Gewebeentnahmen in jedenfalls ausreichender Weise erfolgt; eine darüberhinausgehende Stuhldiagnostik wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn eine akute Durchfallerkrankung vorgelegen oder es Auffälligkeiten in der Biopsie gegeben hätte, die einer weiteren Abklärung bedürfen (S. 22-25 des Gutachtens vom 17.04.2023; S. 2-3 des Protokolls vom 24.10.2023; die Aussage des Sachverständigen auf S. 2 des Protokolls, natürlich sei bei einer solchen Erkrankung eine Erregerdiagnostik – welche nicht zwingend eine Stuhlprobe impliziere – geboten, bezog sich auf eine akute schwere Durchfallerkrankung, an welcher die Klägerin jedoch nicht während der streitgegenständlichen Behandlung litt). Ohne Erfolg versucht die Klägerin auf S. 3-4 ihres Schriftsatzes vom 27.10.2023 einen Widerspruch zwischen S. 6 des schriftlichen Gutachtens und S. 3 oben der mündlichen Anhörung des Sachverständigen aufzuzeigen: zwar wurden im Jahr 2016 in der Tat nur Gewebeproben aus dem oberen Verdauungstrakt entnommen (S. 6 des Gutachtens). Zur Entnahme von Proben aus dem Dickdarm kam es hingegen am 28.02.2018 – ohne dass ein Nachweis von Lamblien, einer Giardiasis, eines M. Whipple oder einer sonstigen Dünndarmerkrankung erbracht werden konnte (S. 15 des schriftlichen Gutachtens).
b) Auch in Anbetracht der S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom“ stellt sich das Absehen von der Stuhlprobe nicht als fehlerhaft dar.
aa) Zum einen beschreiben Leitlinien nicht zwingend den Facharztstandard.
Leitlinien von ärztlichen Fachgremien können den Standard zutreffend beschreiben, aber auch – insbesondere wenn sie veraltet sind – hinter diesem zurückbleiben (Geiß/Greiner ArzthaftpflichtR Kap. B Rn. 9a), oder – z.B. wenn sie in den Fachkreisen umstritten sind – über ihm liegen (Ulsenheimer/Gaede ArztStrafR Rn. 71 ff.; BGH VersR 2014, 879 (881 f.)). So soll nach Auffassung des OLG Koblenz im Jahr 2004 die in den Leitlinien der geburtshilflichen Fachgesellschaften vorgesehene Zeit von maximal 20 Minuten für die Spanne von der notwendigen Entschließung zur notfallmäßigen Entbindung durch Kaiserschnitt bis zur Entwicklung des Kindes noch kein „unumstößlicher, allseits anwendbarer Standard“ gewesen sein, weil dieses Intervall „bei einer sehr erheblichen Zahl von Kaiserschnitten besonders in Belegkliniken oder kleineren Chefarztkliniken nicht erreicht“ werde (VersR 2010, 356 f.; vgl. zu einer ebenfalls über dem Standard liegenden Leitlinie im chirurgischen Bereich OLG Köln MedR 2019, 725 (727)).
Für den vorliegenden Fall hat der Sachverständige für die – bei der Klägerin während der streitgegenständlichen Behandlung vorliegende – Obstipationssituation (und für welche es wiederum in der Leitlinie zum Reizdarmsyndrom keine spezifische Empfehlung gibt) klar mitgeteilt, dass es alltägliche Praxis sei, auf eine Stuhluntersuchung zu verzichten. Diese verspreche keinen relevanten Erkenntnisgewinn und die ÖGD sei zudem gleichwertig (S. 4 des Protokolls vom 24.10.2023). Allein auf diese anerkannte und gelebte Praxis kommt es an, denn der haftungsrechtlich geschuldete Standard eines berufserfahrenen Facharztes ist das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können (BGH NJW 2000, 2754 (2758)), nicht aber die strikte Befolgung von Leitlinien.
bb) Hinzu kommt, dass die klageseits zitierte S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie“ (AWMF-Registriernummer: 021/016) von Juni 2021 stammt und die Klägerin schon nicht einmal geltend macht, dass insoweit dieselben Anforderungen schon vor Juni 2021 in Leitlinien aufgestellt worden waren.
cc) Zuletzt ergibt sich nicht einmal auf Grundlage der aktuellen – also heutigen bzw. nach Juni 2021 gültigen – Leitlinien, dass in einer Behandlungssituation, wie der streitgegenständlichen, eine Stuhluntersuchung gefordert gewesen wäre. Die Anwendbarkeit der Leitlinie setzt neben anhaltenden Beschwerden, die sowohl Patient als auch Arzt auf den Darm beziehen, Stuhlveränderungen und damit verbundenen Beeinträchtigungen der Lebensqualität des Patienten auch das Nichtvorliegen von anderen charakteristischen Veränderungen voraus, die wahrscheinlich für die Symptome verantwortlich sind. Im vorliegenden Fall war der Obstipationstyp eines Reizdarmsyndroms von dem Krankheitsbild einer chronischen Obstipation abzugrenzen, für welches die Leitlinie zur chronischen Obstipation einschlägig ist. Zwar wird in der Leitlinie zur chronischen Obstipation wiederum auf die Leitlinie Reizdarmsyndrom verwiesen; jedoch ist bei richtiger Interpretation diese Verweisung gerade nicht einschlägig, soweit auf Seite 1348 in Tabelle 3.3 der Leitlinie zum Reizdarmsyndrom eine Stuhluntersuchung auf Erreger – u. a. explizit Lamblien – gefordert wird, denn gerade eine (nicht auf einem Ileus beruhende) Obstipationssituation kann nicht auf pathogenen Keimen beruhen, auf deren Nachweis eine Stuhluntersuchung abzielt. Die Leitlinie Reizdarmsyndrom empfiehlt zudem pauschal eine Stuhluntersuchung, ohne näher nach Unterkategorie zu differenzieren; auch dies eröffnet den Spielraum, für den Obstipationstyp eines Reizdarmsyndroms auf die Stuhluntersuchung zu verzichten, denn in diesem Fall verspricht sie keinen relevanten Erkenntnisgewinn (S. 4 des Protokolls vom 24.10.2023).
c) Ansprüche stehen der Klägerin auch nicht deshalb zu, weil Prof. Dr. S in seinem Arztbrief vom 02.05.2016 eine Stuhlprobe zur Kontrolle des Erfolgs einer für den Fall des Nachweises von Helicobacter pylori beabsichtigten Antibiose empfiehlt (worauf die Klägerin mit Schriftsatz vom 27.10.2023 hinweist).
aa) Seine hausärztlichen Pflichten hat der Beklagte in dem Zusammenhang schon deshalb nicht verletzt, weil der Gastroenterologe Prof. Dr. S die empfohlene Nachbehandlung – wie angekündigt (vgl. den genannten, auch als Anlage K 2 vorgelegten Arztbrief: „Pat wird von uns entsprechend informiert“) – selbst vorgenommen hat (vgl. Arztbrief des Prof. Dr. S vom 17.08.2016, welcher sich in den klageseits als Anlagenkonvolut 6 vorgelegten Behandlungsunterlagen befindet und vom Sachverständigen auf S. 5 seines Gutachtens zitiert wird: „Der C16 Harnstoff-Atemtest auf Helicobacter pylori war jetzt negativ, so dass von einer erfolgreichen Eradikation nach französischer Tripeltherapie (Amoxicillin/Clarithromycin/PPI) auszugehen ist“). Nachdem Prof. Dr. S in seinem Arztbrief vom 02.05.2016 eine Stuhlprobe nur zur Kontrolle des Erfolgs einer für den Fall des Nachweises von Helicobacter pylori beabsichtigten Antibiose empfohlen hatte, war aus hausärztlicher Sicht nicht davon auszugehen, dass nach Durchführung der vom Facharzt selbst – wie angekündigt – vorgenommenen Kontrolle (auch wenngleich mit einem anderen Verfahren als zunächst angekündigt/empfohlen) noch weitere Kontrollmaßnahmen erforderlich sind; die Kontrolluntersuchung war im August 2016 erfolgt, also tatsächlich auch 3 Monate nach Ausspruch der Empfehlung, diese Kontrolle „in ca. 2-3 Monaten“ durchzuführen.
bb) Im Übrigen entbehrt die klägerische These im Schriftsatz vom 27.10.2023 jeder tatsächlichen Grundlage, dass bei Durchführung der Stuhluntersuchung im August 2016 Darmkeime aufgefallen wäre.
(1) Hiervon könnte nicht einmal dann ausgegangen werden, wenn es grob fehlerhaft gewesen wäre, in der Situation eine Stuhluntersuchung zu unterlassen. Denn auch bei einem groben Behandlungsfehler kommt es dann nicht zur Beweislastumkehr, wenn sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lässt (BGH, Urt. v. 16.11.2004, VI ZR 328/03). So läge der Fall hier: Die Stuhluntersuchung wäre ausweislich des Arztbriefs allein geboten gewesen, um den Erfolg einer für den Fall des Nachweises von Helicobacter pylori beabsichtigten Antibiose zu kontrollieren, nicht aber um das Vorhandensein anderer Keime zu untersuchen.
(2) Auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Beweislastumkehr wegen unterlassener Befunderhebung (§ 630h Abs. 5 S. 2 BGB) kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich durch eine Stuhlprobe im Jahr 2016 relevante Erkenntnisse ergeben hätten. Im Gegenteil: Eine akute Infektion mit Lamblien und Amöben ist mit Durchfall sowie eine chronische mit Veränderungen der Darmschleimhaut verbunden, was beides in der Zeit zwischen 2016 und 2018 nicht vorlag (S. 2-3 des Protokolls vom 24.10.2023).
d) Unzutreffend wirft die Klägerin dem Beklagten auch (auf S. 4 ihres Schriftsatzes vom 27.10.2023) eine unzureichende Verlaufskontrolle vor. Vielmehr gab es neben den Biopsien im Jahr 2016 auch im Jahr 2018 erneute Gewebsentnahmen aus dem Darm. Konkret hat der Beklagte der Klägerin ausweislich seiner Dokumentation am 09.02.2018 eine Koloskopie empfohlen, welche sodann am 28.02.2018 erfolgte (S. 15 des schriftlichen Gutachtens des Dr. S unter Bezugnahme auf den Arztbrief des Zentrums für G vom 28.02.2018 – in welchem von einer „Totalen Koloskopie“ vom 28.02.2018 die Rede ist -, der sich in den als Anlagenkonvolut 69 vorgelegten Behandlungsunterlagen der A-Klinik findet).
3. Eine Röntgenaufnahme im Stehen war – wegen im Hinblick auf die Strahlenbelastung schonenderer Alternativen – angesichts der Befunde nicht zu rechtfertigen. Eine Röntgenaufnahme hätte einen wegweisenden Befund nur bei einer Perforation, einem Ileus oder einem Fremdkörper gezeigt und wäre daher auch nur bei einem Verdacht auf eine dieser Beschwerdeursachen geboten gewesen (S. 25-26 des Gutachtens vom 17.04.2023; S. 5 des Protokolls vom 24.10.2023). Weitergehende bildgebende Verfahren waren auch nicht vor dem Hintergrund der S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom“ geboten. Zum einen bezieht sich die Klägerin auf eine erst nach der Behandlung veröffentlichte Publikation (vgl. vorstehend Ziff. 2. b. bb.) und im Übrigen wäre die Annahme einer Slow-Transit-Constipation ein Syndrom einer Erkrankung, das aus dem Reizdarmsyndrom herausführt (vgl. vorstehend Ziff. 2. b. cc. und S. 4 des Protokolls vom 24.10.2023). Wenn tatsächlich der Verdacht auf eine Slow-Transit-Constipation bestanden hätte, wären Röntgenaufnahmen geboten gewesen, nachdem ein Patient über sechs Tage hinweg jeweils zehn Kapseln mit radiologischen Markern geschluckt hat; hierbei handelt es sich jedoch um eine gastroenterologische und keine hausärztliche Maßnahme (S. 6 des Protokolls vom 24.10.2023). Die Empfehlung, auch einen Gastroenterologen zu konsultieren, findet sich durchaus in der Dokumentation des Beklagten (S. 20 unten des Gutachtens vom 17.04.2023).
II. Der Beklagte hat den gebotenen fachärztlichen Standard auch nicht im Rahmen der Befundinterpretation und Diagnosestellung verletzt. Auch insoweit gilt, dass eine schadensersatzbegründende Pflichtverletzung (§§ 280, 630a Abs. 2 BGB) nicht schon dann angenommen werden kann, wenn Diagnosen gestellt (oder verkannt) werden, die sich im Nachhinein als fehlerhaft (oder zutreffend) erweisen. Denn zum einen schuldet ein Arzt weder einen konkreten Behandlungserfolg, noch kann erwartet werden, dass es für alle Beschwerden eine sichere Diagnosemöglichkeit und eine immer erfolgreiche Behandlung gibt. Wegen der Unterschiedlichkeit und Unberechenbarkeit des menschlichen Körpers, der Verschiedenartigkeit denkbarer Symptome von Erkrankungen sowie schließlich der stets auf den jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnisse beschränkten Fähigkeiten der Behandler beschränkt sich die Pflicht eines Arztes vielmehr darauf, diejenigen Schritte zu ergreifen, die nach dem fachärztlichen Standard in Anbetracht der für ihn erkennbaren Befunde geboten sind. Vorwerfbar fehlerhaft ist das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome. Doch bereits eine – nicht nur ex post, sondern auch ex ante – objektiv als Fehlinterpretation von Befunden zu bewertende Diagnostik soll wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus und der Verschiedenartigkeit von Krankheitsausprägungen nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (BGH NJW 2003, 2827, 2828).
1. Im vorliegenden Fall kann dem Beklagten schon deshalb nicht eine vorwerfbar fehlerhafte Diagnosestellung angelastet werden, weil die Klägerin – wie ausgeführt – zahlreiche Symptome während der streitgegenständlichen Behandlung geschildert hat, welche sich nicht einem einzigen Organsystem oder konkreten Krankheitsbild zuordnen ließen (S. 19 des Gutachtens vom 17.04.2023). Des Weiteren sind für Darmbeschwerden nicht selten nicht organische Befunde ursächlich und es lassen sich in vergleichbaren Fällen oft bis zuletzt keine Ursachen für bestimmte Symptome finden. Viele Erkrankungen sind bis heute noch nicht ausreichend erforscht; dies gilt insbesondere für Erkrankungen auf immunologischer Ebene, von denen die Klägerin vermutlich betroffen ist (S. 2 und 5 des Protokolls vom 24.10.2023). Falsche Verdachtsdiagnosen hat der Beklagte nicht gestellt (S. 27 des Gutachtens vom 17.04.2023).
2. Auch hat der Beklagte keine unrichtigen Diagnosen gestellt oder tatsächlich bestehende Krankheitsbilder verkannt.
a) Insbesondere wirft die Klägerin dem Beklagten zu Unrecht vor, er habe nicht erkannt, dass für ihre Beschwerden ein Befall mit Amöben und Lamblien ursächlich sei. Die streitgegenständliche Behandlung erweist sich nicht nur aus Sicht ex ante als standardkonform, vielmehr ist sogar bei Betrachtung ex post davon auszugehen, dass die Beschwerden der Klägerin während dieser Behandlung nicht auf einem Befall mit Amöben und Lamblien beruhten. Die zwei diagnostizierten Keime können potentiell eine akute schwere Erkrankung hervorrufen. Eine Giardiasis befällt den oberen Dünndarm, die Amöben den Dickdarm. Es handelt sich um eine akute schwere Durchfallerkrankung. Eine chronische Besiedlung mit solchen Erregern gibt es nur in ganz seltenen Fällen, hier sind dann aber auch Veränderungen der Schleimhaut nachweisbar. Die Zotten im Dünndarm werden kleiner, es gibt eine vermehrte Infiltration mit Entzündungszellen (Leukozyten) und die Funktion des Dünndarms nimmt ab. Im vorliegenden Fall ist jedoch durch histologische Untersuchungen eine chronische Dünndarmerkrankung zu den jeweiligen Untersuchungszeitpunkten ausgeschlossen worden. Auch aus dem Dickdarm wurde Gewebe entnommen. Amöben verursachen eine akute Erkrankung im Dickdarm, deren Symptome nicht während der streitgegenständlichen Behandlung vorlagen, sondern die Klägerin litt unter anderen Beschwerden (S. 2-3 des Protokolls vom 24.10.2023). Die fehlende Relevanz der als nicht diagnostiziert monierten Erreger für die Beschwerden der Klägerin ergibt sich auch daraus, dass die erfolgreiche Behandlung des erst später diagnostizierten Befalls mit Amöben und Lamblien an den Symptomen nichts geändert hat (S. 3 des Protokolls vom 24.10.2023).
b) Das Vorbringen auf S. 5 des Schriftsatzes vom 27.10.2023, die Klägerin habe an einem Megacolon gelitten, welches beschwerdeursächlich gewesen wäre, trifft nicht zu.
aa) Vorwerfbar fehlerhaft hätte der Beklagte ein Megacolon nur verkannt, wenn dieses aufgrund der erhobenen Befunde klar erkennbar gewesen wäre oder wenn die Erhebung von Befunden unterblieb, welche nach den Standards erhoben hätten werden müssen.
(1) Wie schon ausgeführt, unterblieb die gebotene Erhebung von Befunden nicht. Im Gegenteil: Die hausärztliche Betreuung der Klägerin durch den Beklagten war fürsorglich und umfassend (S. 26 des schriftlichen Gutachtens des Dr. S).
(2) Auch hat der Beklagte auf von ihm erhobenen Befunden ein Megacolon nicht verkannt. Auf Röntgenaufnahmen des Abdomens ist ein Megacolon vielmehr nur zu sehen, wenn es zu einem Ileus gekommen ist (S. 3 des Protokolls vom 24.10.2023).
bb) Im Übrigen steht mitnichten fest, dass zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Behandlung ein Megacolon vorlag.
(1) Ein Megacolon liegt erst ab einem Durchmesser von mindestens 6 cm vor (vgl. S. 3 des Protokolls vom 24.10.2023). Es steht nicht einmal fest, dass die Klägerin zu irgendeinem Zeitpunkt ein Megacolon hatte. Ein toxisches Megacolon hatte die Klägerin sicher nicht (S. 3 des Protokolls vom 24.10.2023). Und auch ein nicht toxisches Megacolon ist zu keinem Zeitpunkt objektivierbar und gesichert diagnostiziert worden. Insbesondere in dem Entlassungsbrief der A-Klinik vom 22.01.2019 (sechstes und zugleich vorletztes Geheft der als Anlagenkonvolut 69 vorgelegten Behandlungsunterlagen) werden nach subtotaler Kolektomie vom 15.01.2019 die rechtfertigenden Befunde und die in Anbetracht aller vorangegangenen Diagnostik (MRTs, CTs, Röntgenaufnahmen, MR-Defäkografie, Sonografien, Koloskopien uvm.) gestellten bekannten Diagnosen aufgeführt; von einem Megacolon ist hier – also in der Zeit bis zur Kolektomie und auch in Anbetracht des intraoperativen Situs) nicht die Rede. Stattdessen wurde ein Kolon elongatum beschrieben, von welchem jedoch keine Beschwerden ausgehen (S. 3 des Protokolls vom 24.10.2023). Der Sachverständige hat auch nicht bestätigt, dass die Klägerin an einem Megakolon gelitten habe, sondern er hat auf die entsprechenden Fragen der Klägerin auf sein Gutachten ausgeführt, dass ein Megakolon Beschwerden verursachen könne. Was die tatsächliche Ursache für die Beschwerden der Klägerin sei, könne jedoch gerade nicht definitiv bestimmt werden (S. 2/3 des Protokolls); wahrscheinlich sei eine Erkrankung auf immunologischer Ebene (S. 5 des Protokolls). Gegen die Ursächlichkeit der Struktur des Dickdarms für die Beschwerden der Klägerin spricht auch, dass die abdominellen Beschwerden der Klägerin auch trotz der ausgiebigen Dickdarmresektion anhielten (S. 19 des Gutachtens). Aus welchen Gründen das Reha-Zentrum B in seinem als Anlage K 4 vorgelegten, an die Deutsche Rentenversicherung gerichteten Ärztlichen Entlassungsbericht vom 14.03.2019 vom Vorliegen eines Megacolon ausgeht, bleibt gänzlich unerfindlich. In den Behandlungsunterlagen der A-Klinik findet sich hierfür jedenfalls – anders als klageseits vermutet, vgl. Schriftsatz vom 27.10.2023 – kein Anhalt und es ist naturgegebenermaßen auch auszuschließen, dass sich ein Megacolon erst nach der „ausgiebigen Dickdarmresektion“ vom 15.01.2019 entwickelt hat. Möglicherweise ist der Rehaklinik der Unterschied zwischen einem elongierten Kolon Dickdarm einem Megacolon nicht bekannt gewesen.
(2) Wenn schon für die Zeit der subtotalen Kolektomie im Januar 2019 das Vorliegen eines Megacolons nicht gesichtert ist, so gilt dies erst recht für die Zeit davor.
III. Auch stellte sich die rezeptierte Medikation nicht als kontraindiziert dar; vielmehr war diese medikamentöse Behandlung sinnvoll und folgerichtig (S. 28-29 des Gutachtens vom 17.04.2023).
IV. Einer erneuten Anhörung des Sachverständigen bedurfte es nicht. Die mit Schriftsatz vom 27.10.2023 formulierten Einwendungen vermögen die Ausführungen des Sachverständigen – wie vorstehend ausgeführt – nicht in Frage zu stellen. Die am Ende dieses Schriftsatzes formulierten Fragen sind vom Sachverständigen bereits beantwortet (oder unschwer aus den Behandlungsunterlagen zu beantworten) und stellen sich als nicht entscheidungserheblich dar; zusammenfassend und in aller Kürze noch zu diesen Fragen konkret:
1. Wie ausgeführt, hätten sich durch die Biopsien Lamblien und Amöben wahrscheinlich durch die Biopsien (aber nicht sicher) nachweisen lassen, wenn sie damals bereits vorhanden gewesen waren, was jedoch nicht der Fall war (keine akute Durchfallerkrankung, keine Schleimhautveränderungen als Folge einer chronischen Besiedlung).
2. Laut Histologie vom 03.05.2016 (vgl. Behandlungsunterlagenkonvolut 6 von Prof. Dr. S: Pathologie S) waren in der ÖGD vom 02.05.2016 2 Gewebeproben aus dem Duodenum und 5 Gewebeproben aus dem Magen entnommen worden. Laut Histologie vom 05.03.2018 (Pathologiepraxis Dres. H zu finden in den Behandlungsunterlagen 69, A-Klinik, 3. Geheft, 10. Blatt) waren in der Endoskopie vom 28.02.2018 1 Probe aus dem Duodenum, 2 Proben aus dem Magen, 1 Probe aus dem Dünndarm und 4 Proben aus dem Dickdarm entnommen worden.
Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob diese Untersuchungen den Standards genügten, denn sie wurden vom gastroenterologischen Experten durchgeführt, für dessen Handeln der beklagte Hausarzt nicht einzustehen hat und deren fehlerfreie Durchführung ihm auch nicht zu überprüfen obliegt. Zuletzt wäre der Klägerin aus einer etwaigen Verletzung der Standards bei diesen Untersuchungen auch kein Schaden entstanden; obige Ausführungen unter Punkt I. 2. c. bb. gelten entsprechend.
3. Die Stuhluntersuchung war – wie ausgeführt – nach dem Facharztstandard im vorliegenden Fall nicht gefordert. Der beklagte Hausarzt konnte im Übrigen nach dem Vertrauensgrundsatz von einer ausreichenden Diagnostik seitens des jeweils die Biopsien vornehmenden Gastroenterologen ausgehen.
4. Die Befunderhebung war – wie ausgeführt – insgesamt nicht nur ausreichend, sondern fürsorglich und sorgsam; im Übrigen erfolgten – wie ebenfalls ausgeführt – 2018 nochmals Kontrolluntersuchungen.
5. Wie dargestellt, kann von einer klaren Diagnose eines Megacolons keine Rede sein und es gibt gerade keine klare Diagnose, welche die Beschwerden der Klägerin erklärt. Wahrscheinlich ist eine Erkrankung auf immunologischer Ebene.
V. Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 und 2 ZPO.