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Voraussetzungen eines groben ärztlichen Behandlungsfehlers

LG Bochum – Az.: I-6 O 370/16 – Urteil vom 30.01.2019

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro nebst gesetzlicher Zinsen gem. §§ 288 I, 247 BGB seit dem 21.05.2016 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte-vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs- verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen Schaden für die Vergangenheit und die Zukunft, sowie den nicht voraussehbaren immateriellen Schaden aus der fehlerhaften Behandlung ab Februar 2014 zu ersetzen.

Die Beklagte wird ferner verurteilt, an den Kläger Kosten für die Einholung eines Privatgutachtens in Höhe von 751,45 Euro zu zahlen.

Des Weiteren wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3196,34 Euro nebst gesetzlicher Zinsen gem. §§ 288 I, 247 BGB seit dem 21.05.2016 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.

Tatbestand

Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld infolge der Behandlung im Haus der Beklagten ab dem 16.02.2014 bis zum 02.04.2014.

Bei dem Kläger bestand seit 1991 ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, der zu Folgeschäden am Organsystem geführt hatte.

Am 08.08.2013 ließ der Kläger im Haus der Beklagten eine kombinierte Pankreas-/Nierentransplantation vornehmen.

Da der Kläger am 15.02.2014 eine gastrointestinalen Blutung in einem Spenderduodenum erlitt, die unter konservativer Therapie nicht sistierte, wurde er  am 16.02.2014 luftgebunden aus dem F. Krankenhaus in E mit möglicherweise liegendem Katheter in der rechten A. Radialis auf die Intensivstation der Beklagten verlegt.

Bei der sodann sofort durchgeführten Gastroskopie konnte die Blutungsquelle im Spenderduodenum identifiziert werden. Nach Unterspritzung der Blutungsquelle mit Suprarenin sistierte die Blutung, der Hb-Wert bei 8,5 g/dl  konnte konstant gehalten werden. Daraufhin wurde der Kläger am 17.02.2014 auf eine chirurgische Normalstation im Hause der Beklagten verlegt.

Jedoch kam es am Abend des 18.02.2014 zu einem neuerlichen Hb-Abfall auf 6,7 g/dl, so dass er erneut auf die chirurgische Intensivstation verlegt werden musste, nachdem der Kläger rektal Blut abgesondert hatte.

Es wurde, ohne einen Allen Test durchzuführen ein erneuter arterieller Blutdruckkatheter am rechten Handgelenk in die Speichenarterie (A. radialis) eingelegt.

Es erfolgte eine Ösophagogastroduodenoskopie, die eine Blutungsquelle im Bereich des Spenderduodenums zeigte. Es gelang wiederum, die Blutung zum Stillstand zu bringen.

In den Morgenstunden des 19.02.2014 erlitt der Kläger eine Massenblutung mit hämorrhagischem  Schock und erneutem Hb Wert Abfall. In einer Notfalllaparatomie gelang die Blutstillung mittels Übernähung des Spenderduodenums. Es konnte mittels Katecholamintherapie (Noradrenalin) eine hämodynamische Stabilisierung des Klägers erreicht werden.

Postoperativ zeigte sich eine „livide Verfärbung“ der rechten Hand. Es erfolgte die Gabe von Prostavasin. Der Katheter in der A. radialis wurde entfernt und femoral umgesetzt.

In der Nacht vom 19. auf den 20.02.2014 war mit Arterenol zur Stabilisierung des Kreislaufs begonnen worden und es wurden Transfusionen und gewinnungswirksame Medikamente verabreicht.

Am Morgen des 20.02.2014 konnte in einer Gefäßdarstellung (DSA) ein Verschluss der rechten A. Radialis in Folge einer so genannten Dissektion (Gefäßschädigung) und auch eine fehlende Durchblutung der Bauchspeicheldrüse nachgewiesen werden.

Bei jahrelangem juvenilem Diabetes mellitus bestand zudem ein chronischer Verschluss der Ellenarterie (A. Ulnaris). Der arterielle Hohlhandbogen war ebenfalls unterbrochen, so dass eine bedrohliche Minderdurchblutung der Daumenseite der rechten Hand vorlag.

In einer weiteren Operation wurde die Bauchspeicheldrüse entfernt und eine weitere Duodenalübernähung vorgenomen.

Während sich nach dieser weiteren abdominalchirurgischen Operation der Allgemeinzustand des Patienten verbesserte, blieb die rechte Hand livide bis marmoriert. Hiervon waren der Daumen, der Daumenballen, der Zeigefinger und Teile des Mittelfingers betroffen.

Der Kläger wurde am 21.02.2014 extubiert und am 24.02.2014 auf die periphere Station verlegt. Die weitere Therapie bestand in der Hemmung der Blutgerinnung (Antikoagulation) mit Heparin und der Erweiterung der Blutgefäße mit Prostavasin.

Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich die rechte Hand an den Endgliedern der Fingern 1-3 zyanotisch  und leicht schmerzhaft.

Am 03.03.2014 zeigte die rechte Hand nekrotische Erscheinungen (schwarze Verfärbungen). Eine am 04.03.2014 durchgeführte Doppler-Sonographie zeigte, dass im körperfernen Drittel der A. Radialis kein Blutfluss mehr vorhanden war.

Einen Tag später zeigte sich bei einer erneuten digitalen Subtraktionsangiographie ein  hoher Abgang der Speichenarterie, die ab dem oberen Drittel des rechten Unterarms nicht mehr weiter kontrastiert war. Lediglich über die A. interossea und die Ellenarterie war eine Handdurchblutung an den ulnaren in zwei Fingern erkennbar.

Es zeigten sich des Weiteren ein fehlender Schluss des Hohlhandbogens und keine ausreichende Gefäßdarstellung in den radialen Fingern 1-3 der rechten Hand.

Am 06.03.2014 erfolgte die Rekanalisation der Speichenarterie rechts bis in Höhe der Interdigitalarterien. Es wurde mit einem Mikroballon eine Ballon-Dilatation über die gesamte Verschluss Strecke der Speichenarterie bis zum Hohlhandbogen durchgeführt.

Hierbei zeigte sich eine langstreckige Gefäßdissektion der Speichenarterie.

Voraussetzungen eines groben ärztlichen Behandlungsfehlers
(Symbolfoto: megaflopp/Shutterstock.com)

Es kam zu einem erneuten Verschluss des Gefäßwegs. Aufgrund der geringen Kalibergröße der Speichenarterie bestellte die Beklagte notfallmäßig ein geeignetes Stent-System für den kommenden Tag, da ein solches System nicht vorrätig vorhanden war.

Die bereits eingelegte Schleuse wurde belassen und am 07.03.2014 ein Ballon explantierbarer Stent in die Speicharterie eingebracht. Dies führte aber nicht zu einer Rekanalisation im Stent, so dass keine ausreichende Durchblutung erzielt werden konnte. Daraufhin wurde eine lokale Lyse-Behandlung mittels rTPA über 24 Stunden in die liegende Schleuse begonnen.

Eine erneute operative Freilegung mit Thrombektomie am Folgetag blieb erfolglos.

Weitere gefäßchirurgische Maßnahmen wurden nicht durchgeführt. In der Folgezeit kam es zu einer weiteren Mumifiezierung der Radialseite rechten Hand.

Dem Kläger wurde am 13.03.2014 eine Amputation der betroffenen Areale empfohlen, was er jedoch zunächst ablehnte.

Der Kläger begab sich sodann am 01.04.2014 ins Klinikum Bergmannsheil in Bochum, wo ihm ebenfalls eine Teil Amputation der rechten Hand, sowie eine Defektdeckung mittels Leistenlappenplastik empfohlen wurde.

Am 02.04.2014 wurde der Kläger aus der Klinik der Beklagten mit teilmumifizierter rechter Hand entlassen.

Am 18.06.2014 wurde der Kläger stationär in die Klinik für plastische, Hand-und Wiederherstellungschirurgie I Klinik E aufgenommen, wo am Folgetag, dem 19.06.2014, die Amputation der mumifizierten Teile der rechten Hand vorgenommen wurde. Die Weichteildeckung erfolgte durch einen Lappenstil.

Der Kläger macht geltend, dass er seitens der Ärzte der Beklagten fehlerhaft behandelt worden sei.

Er behauptet, dass sämtliche Operationsvorbereitungen ausschließlich mit der damaligen Stationsärztin Frau Doktor L, Doktor L1 und einem weiteren Arzt, der namentlich nicht bekannt ist, koordiniert wurden.

Aufgrund seines hohen Risikoprofils hätte zwingend ein Allen Test durchgeführt werden müssen, da dies zu einer Auswahl eines anderen Gefäßes geführt hätte.

Auch habe er einen starken, einschießenden Schmerz bei Einlegung des Katheters in die rechte A. Radialis am 18.02.2014 gespürt. Zudem sei die Arterie zweimal punktiert worden. Die Hinzuziehung eines Gefäßchirurgen sei ebenfalls fehlerhaft nicht erfolgt.

Ferner habe eine Indikation für eine frühzeitige Intervention/Operation der betroffenen Speichenarterie des rechten Arms am 20.04.2014 bestanden. Es hätte frühzeitig ein Stent und gegebenenfalls ein Bypass eingebracht werden können, wenn nicht sogar müssen.

Er ist der Auffassung, dass eine notfallmäßige Operation zur Rettung der Hand zu spät angedacht worden sei, selbst nachdem er auf Schmerzen und Verfärbungen seiner Hand hingewiesen habe.

Es fänden sich auch keinerlei Hinweise auf durchgeführte Überlegungen bezüglich einer derartigen Vorgehensweise.

Selbst am 05.03.2014 sei eine gefäßchirurgische Intervention nicht erfolgt, obwohl sich nach der Darstellung der Arterie eine solche aufgedrängt habe. Auch sei nicht nachvollziehbar, wieso keine Bypass-Operation nach dem 5.3.2014 an der A. Radialis durchgeführt wurde.

Die am 18.06.2014 erfolgte Teilamputation der rechten Hand gehe kausal auf den Behandlungsfehler der Beklagten zurück. Auch sei die Nichtreaktion auf die Minderdurchblutung der rechten Hand als grob fehlerhaft zu werten, da bei frühzeitiger Intervention eine Wahrscheinlichkeit bestanden hätte, dass die Finger, der Daumen und der Daumenballen hätten gerettet werden können.

Der Kläger sei nicht nur im Alltag, sondern insbesondere auch in der Gestaltung seiner Freizeit erheblich beeinträchtigt. Hobbys, denen er früher nachgegangen sei, seien mittlerweile nicht mehr möglich.

Auch fühle er sich psychisch stark belastet, weil er auch im sonstigen Alltag der bei alltäglichen Dingen, wie etwa dem Einkaufen, Anziehen, Schreiben etc. Hilfe benötige. Ferner hätten er und seine Ehefrau ihren Kinderwunsch in Zweifel gezogen, weil der Kläger zweifele, ob er seiner Rolle als Vater mit einer derartigen Beeinträchtigung gerecht werden könne.

Auch schäme sich der Kläger für die optische Verunstaltung seiner rechten Hand. Er gehe davon aus dass er eine 40-45 %ige Minderung der Erwerbsfähigkeit erleide.

Der Kläger ist der Ansicht, die erlittenen Beeinträchtigungen rechtfertigten ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000,00 EUR.

Der Kläger beantragt,

1.  die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichtes gestelltes Schmerzensgeld nebst gesetzlicher Zinsen gemäß §§ 288 Abs. 1, 247 BGB seit dem 21.05.2016 zu zahlen,

2.  festzustellen, dass die Beklagte-vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs-verpflichtet ist, ihm allen materiellen Schaden für die Vergangenheit und die Zukunft, sowie den weiteren immateriellen Schaden aus der fehlerhaften Behandlung ab Februar 2014 zu ersetzen,

3.  die Beklagte zu verurteilen, an ihn die Kosten für die Einholung eines Privatgutachtens i.H.v. 751,45 EUR zu zahlen,

4.  die Beklagte zu verurteilen, an ihn nicht anrechenbare Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3196,34 Euro nebst gesetzlicher Zinsen gem. §§ 288 I, 247 BGB seit dem 21.05.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,  die Klage abzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die Minderdurchblutung der rechten Hand des Klägers mit ausreichender Konsequenz und behandlungsfehlerfrei behandelt worden sei.

Zunächst sei das Vorgehen am 18.02.2014 nicht zu kritisieren. Angesichts des lebensgefährlichen Zustandes des Klägers habe eine Kanüle in die A. radialis des  rechten Arms erfolgen müssen. Dass es hierbei zu einer Schädigung der Arterie kam, sei schicksalhaft gewesen.

Die Beklagte wendet ein, dass zwar kein Allen-Test durchgeführt worden sei, dieser aber im Übrigen eine geringe Aussagekraft aufweise und angesichts der dramatischen Situation nicht durchzuführen gewesen sei.

Es sei überdies rein spekulativ, ob eine frühzeitige operative Behandlung der rechten Hand, bzw. der A. Radialis einen anderen Verlauf erbracht hätte.

Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Kläger nach der für ihn lebensbedrohlichen Situation zunächst mit Prostavasin behandelt worden sei.

Auch müsse die Gesamtsituation berücksichtigt werden. Danach sei eine konsequente Versorgung der Durchblutung der rechten Hand durch einen invasiven Eingriff ein extrem hohes Risiko für den Kläger gewesen. Infolge einer Risikoabwägung habe man sich für die Therapie mit Heparin und Prostavasin entschieden.

Zwar hätte eine Operation, wie vom Privatgutachter für möglich gehalten, eine Rettung der Hand nach sich ziehen können, es hätte den Kläger jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine stark gesundheitsgefährdende Situation gebracht.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung zweier schriftlicher Sachverständigengutachten der Sachverständigen Dr. N und Prof. Dr. M. Die beiden Sachverständigen haben ihre Gutachten im Termin zur mündlichen Verhandlung erläutert. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung vom 30.01.2019 und auf die schriftlichen Sachverständigengutachten der Sachverständigen verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

I.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 50.000 Euro gem. §§ 280 I, 630a I, 278, 249, 253 II BGB zu.

Die Kammer ist aufgrund der in jeder in jeder Hinsicht plausiblen und überzeugenden Ausführungen  beider Sachverständigen davon überzeugt, dass die Behandlung des Klägers im Hause der Beklagten vom 16.02.2014 bis zum 02.04.2014 grob behandlungsfehlerhaft und somit kausal für die vom Kläger erlittene Teilamputation seiner rechten Hand war.

Zwischen dem Kläger und der Beklagten bestand zum Zeitpunkt der Behandlung ein Schuldverhältnis gem. § 630a BGB in Form eines totalen Krankenhausaufnahmevertrages, da sich der Kläger ab dem 16.02.2014 in der stationären Behandlung bei der Beklagten befand.

Auch ist eine Pflichtverletzung i. S. d. § 280 I BGB in Form eines groben Behandlungsfehlers gegeben.

Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn die Beklagte gegen medizinische Standards verstoßen hat, also nicht diejenigen Maßnahmen ergriffen hat, die von einem aufmerksamen und gewissenhaften Facharzt zum Zeitpunkt der Behandlung erwartete werden können.

Als grob ist ein Behandlungsfehler dann zu werten, wenn der Behandelnde eindeutig gegen bewährte medizinische Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Behandelndem schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. etwa BGH VersR 01, 1115f). Hierbei ist die grobe Abweichung vom geschuldeten medizinischen Standard maßgeblich.

Ausgehend hiervon war die Punktion der A. radialis am 18.02.2014 selbst keine Standardabweichung, da sich ex ante keine Hinweise auf eine Dissektion infolge einer Punktion der A. radialis zeigten.

Der vom Kläger geschilderte Schmerz bei Legung des Katheters konnte nach den Angaben des Sachverständigen Dr. N zwei mögliche Ursachen haben. Zum einen war es denkbar, dass bei der Punktion ein oberflächlicher Ast des N. radialis verletzt worden sei, was aber keinen Einfluss auf die Punktion selbst gehabt hätte. Zum anderen konnte aber auch infolge der Dissektion der Innenwand der Arterie der Blutfluss abgeschnitten worden sein.

Im letzteren Fall hätte es sich dann angeboten, ein anderes Gefäß zu punktieren.

Feststellungen, welche von den beiden Möglichkeiten tatsächlich aufgetreten ist, lassen sich aber nicht mehr treffen. Selbst, wenn -wie vom Kläger vorgetragen- es eine zweite Punktion der A. radialis gegeben hat, hat der Katheter danach ordnungsgemäß funktioniert, so dass diese Maßnahme zum Zeitpunkt der Behandlung lege artis war und damit dem ärztlichen Standard entsprach.

Im übrigen finden die Behauptungen des Klägers hinsichtlich der zweifachen Punktion und der erheblichen Schmerzen keinen Niederschlag in der Behandlungsdokumentation. Ob sich die Geschehnisse bei der Punktion letztendlich so abgespielt haben, wie vom Kläger behauptet musste die Kammer nicht abschließend  entscheiden, da dies für die Frage der Haftung der Beklagten nicht relevant ist.

Es ist  nicht behandlungsfehlerhaft gewesen, vor der Punktion der A. radialis keinen Allen Test durchzuführen.

Dies wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn es dem gängigen medizinischen Standard zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Behandlung entsprochen hätte, vor derartigen Punktionen einen solchen Test durchzuführen.

Auch wenn der Sachverständige Prof. Dr. M angesichts der beim Kläger wahrscheinlichen arteriosklerotischen Vorerkrankungen einen solchen Test als sinnvoll erachtet, kann hierin allein keine Abweichung vom medizinischen Standard gesehen werden.

Denn die Sachverständigen kamen insoweit übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass dieser Allen Test in der wissenschaftlichen Literatur sehr umstritten ist und gerade heutzutage keinen ärztlichen Standard mehr darstellt. Er war zwar noch in den 80er Jahren gängige Lehrmeinung. Diese Lehrmeinung hat sich aber seitdem dahingehend verändert, dass vor Punktionen betreffender Arterien kein solcher Test mehr durchgeführt werden muss.

Denn Studien haben ergeben, dass selbst bei pathologischem, also positivem Allen Test keine sichere Aussage darüber getroffen werden kann, ob eine durchgehende Blutversorgung der Hand gegeben ist oder nicht. Im Umkehrschluss kann es daher auch bei einem negativem Allen Test zu einem gestörten Blutfluss in der betreffenden Arterie kommen. Heutzutage wird deshalb in vergleichbarer Situation eine Ultraschalluntersuchung vor der Punktion durchgeführt.

Auch ist der Kläger während der streitgegenständlichen Behandlung von einem Gefäßchirurgen mitbehandelt worden. Dr. X ist insoweit auch Facharzt für Gefäßchirurgie.

Die Nichteinleitung von gefäßchirurgischen Maßnahmen ab dem 21.02.2014 war grob fehlerhaft, weil hier in besonderem Maße vom ärztlichen Standard abwichen wurde und dies objektiv als nicht mehr verständlich erscheint.

Prof. Dr. M bewertet in aller Deutlichkeit die unterlassenen gefäßinvasiven Maßnahmen zur Rekanalisation der A. radialis ab dem 21.02.2014 als schlicht nicht verständlich und in Gänze nicht dem ärztlichen Standard entsprechend. Diese Einschätzung wird auch vom zweiten Sachverständigen Dr. N bestätigt.

Bereits am Morgen des 19.02.2014 lagen bereits akute Anzeichen für eine Ischämie der rechten Hand des Klägers vor, was sich auch an deren livider Verfärbung und ihrer Marmorierung zeigte.

Ferner wurde bereits am Morgen des 20.02.2014 in einer DSA ein Verschluss der A. Radialis infolge der Dissektion nachgewiesen. Hinzu kommt, dass beim Kläger aufgrund des jahrelangen juvenilen Diabetes mellitus ein chronischer Verschluss der A. Ulnaris bestand, sodass mangels ausreichender Versorgung der rechten Hand mit bedrohlicher Minderperfusion gerechnet werden musste.

Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass bis zum 21.02.2014 der Fokus der Behandlung wie von der Beklagten vorgetragen sicher darauf liegen musste, dass Leben des Klägers durch Blutungsstillung im Spenderduodenum zu retten.

Ab dem 21.02.2014 hatte sich der körperliche Zustand des Klägers wieder derart stabilisiert, dass eine gefäßinvasive Maßnahme zur Rettung der rechten Hand ohne konkrete Gefährdung für die Gesundheit oder das Leben des Klägers möglich war und durchgeführt werden musste.

In diesem Zusammenhang wies der Sachverständige Dr. N darauf hin, dass es aus anästhesiologischer Sicht keine Hinderungsgründe gab, die gestörte Minderdurchblutung der rechten Hand operativ anzugehen, nachdem die abdominelle Blutung gestillt war.

Er schilderte selbst auf kritische Nachfrage überzeugend, dass der Kläger spätestens am Nachmittag des 21.02.2014 nach Beendigung der Noradrenalin-Therapie für eine gefäßchirurgische Operation an der A. radialis so kreislaufstabil war, dass diese ohne anästhesiologiosche Bedenken hätte durchgeführt werden können.

Nur bei einer frühzeitigen invasiven Rekanalisationsmaßnahme etwa unter Freilegung der A. Radialis und Einsatz einer Venepatch-Plastik und Durchführung einer Thrombektomie hätte eine gute Erfolgschance zur Rettung der Hand bestanden. Hätte dies nicht gefruchtet, so hätten weitere Maßnahmen bis hin zur Anlage eines Bypasses erfolgen müssen.

Demgegenüber ist es unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M schlicht unverständlich, wieso keinerlei gefäßinvasiven Maßnahmen angedacht wurden, bzw. damit bis zum 06.03.2014 gewartet worden ist.

Ein von der Beklagten eingewandter hoher Blutverlust  wäre nicht zu erwarten gewesen, da eine gefäßchirurgische Operation an der betreffenden Arterie nur auf einem kleinen Abschnitt erfolgt wäre und sich daher das Risiko eines hohen Blutverlustes nicht realisiert hätte.

Eine Operation an einem körperfernen, peripheren Gefäß wie der A. Radialis hätte entgegen der Ansicht der Beklagten nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M keine- bzw. nur die gewöhnlichen Operationsrisiken mit sich gebracht. Es bestand zudem nur ein extrem geringes Infektionsrisiko von unter einem Prozent.

Nur der rechtzeitige und ohne Zuwarten durchzuführende gefäßchirurgische Eingriff versprach eine hohe Erfolgsrate zur Rettung der Hand von etwa 50 %, da eine bestehende Gewebsveränderung aufgrund einer Minderperfusion zu einer Erhöhung des peripheren Widerstandes des Gefäßbettes führt, so dass gefäßinvasive Eingriffe wie die der Beklagten zu späteren Zeitpunkten vom 06.03.2014 bis zum 08.03.2014 von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatten.

Dies bescheinigte der Sachverständige auch trotz kritischer Nachfrage des Prozessbevollmächtigten der Beklagten im Bezug auf eine mögliche arteriosklerotische Vorerkrankung des Klägers. Auch unter Berücksichtigung dieser Grunderkrankung bestand immer noch eine ca. 50 %ige Erfolgschance zur Rettung der rechten Hand, wenn die Ärzte der Beklagten rechtzeitig spätestens ab dem 21.02. die erforderlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung des Blutflusses in der rechten Hand ergriffen hätten.

Die Beklagte muss sich das Verschulden ihrer behandelnden Ärzte gem. § 278 S. 1 BGB zurechnen lassen.

Ferner ist der Behandlungsfehler auch haftungsbegründend kausal für den beim Kläger eingetretenen Primärschaden, der sich in Form einer am 19.06.2014 durchgeführten Teilamputation der rechten Hand manifestierte, was zu einem vollständigen Funktionsverlust seiner rechten Hand führte.

Die haftungsbegründende Kausalität ist gegeben, wenn zwischen dem Verhalten des Schädigers und der eingetretenen Verletzung des Verletzten ein kausaler Zusammenhang besteht, also der Behandlungsfehler unmittelbar ursächlich für den Primärschaden war.

Ausgehend hiervon ist zwar grundsätzlich der Kläger als Patient ist für diesen Kausalitätsnachweis beweisbelastet.

Anders ist es aber dann, wenn wie bereits oben festgestellt ein grober Behandlungsfehler vorliegt, da es dann zu einer Kausalitätsvermutung im Sinne einer Beweislastumkehr kommt.

Denn liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war, vgl. § 630h V S. 1 BGB.

Dem folgend konnte die Beklagte den ihr vorliegend obliegenden Entlastungsbeweis nicht erbringen, dass die Nichteinleitung von gefäßinvasiven Maßnahmen ab dem 21.02.2014 nicht haftungsbegründend kausal für die vom Kläger erlittene Teilamputation der rechten Hand war.

Als Rechtsfolge ist dem Kläger der erlittene immaterielle Schaden gem. § 249 I, 253 I, II BGB durch eine billige Entschädigung in Geld zu ersetzen.

In diesem Zusammenhang ist das Schmerzensgeld nach Überzeugung der Kammer mit 50.000 Euro zu bemessen.

Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe ist eine umfassende Berücksichtigung aller für sie maßgebenden Umstände vorzunehmen, wobei dem Gedanken, dass für vergleichbare Verletzungen unabhängig vom Haftungsgrund ein annähernd gleiches Schmerzensgeld zu gewähren ist, große Bedeutung zukommt (vgl. BGH VersR 70, 281).

Bei den Bemessungsfaktoren stehen dagegen in erster Linie die Umstände im Vordergrund, die den Verletzten betreffen (vgl. Palandt Rn. 15 zu § 253 BGB).

Hierbei müssen vor allem die Schwere der Verletzung, ihr Ausmaß für das zukünftige Leben des Geschädigten und etwaig verbleibende dauernde Beeinträchtigungen berücksichtigt werden.

Dies zum Maßstab genommen, sind maßgebende Bemessungsfaktoren der so gut wie vollständige Funktionsverlust der rechten Hand und die dadurch eingetretene dauernde Beeinträchtigung für das Leben des Klägers.

Ausweislich der  unbestrittenen Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung und der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M in dessen schriftlichen Sachverständigengutachten kann der Kläger mit seiner Haupthand weder greifen, noch heben und damit die der Hand eigentümlichen und zugewiesenen Aufgaben nicht mehr ausführen. Im Wesentlichen beschränkt sich deren Funktion auf die einer Beihand. Hierdurch hat der Kläger eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 45 % erlitten.

Hierzu gab der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft an, dass er bei gesunder Hand möglicherweise trotz seiner Grunderkrankung einen 450 Euro-Job hätte ausüben können.

Auch wird die Funktionsfähigkeit der Hand nicht durch die Prothese verbessert, die der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung trug. Denn diese Prothese stellt eine rein kosmetische Verbesserung des Anblicks der rechten Hand dar, bewirkt aber keinerlei funktionalen Zugewinn.

Die Kammer verkennt zudem nicht die Tatsache, dass der Kläger zur Zeit der Amputation erst 41 Jahre alt war und daher der Teilverlust seiner rechten Hand besonders ins Gewicht fällt, weil der Kläger dadurch auch vielen seiner Hobbies dauerhaft nicht nachgehen kann, was zu einem erheblichen Verlust an Lebensqualität führt

Besonders zu berücksichtigen ist daneben der Umstand, dass das OLG Hamm in einem ähnlich gelagerten Fall, der vor der hiesigen Kammer verhandelt wurde und in dem der dortige Kläger infolge eines Kompartement-Syndroms eine Amputation seines Arms ab dem Oberarm erlitt, ebenfalls ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro zugesprochen hat.

Die Vergleichbarkeit mit dem hier zu entscheidenden Fall besteht darin, dass in beiden Fällen die Funktion eines der wichtigsten Körperteile vollständig aufgehoben ist.

Hierbei kann es keine Rolle spielen, dass in dem zum Vergleich herangezogenen Fall eine Amputation bereits ab dem Oberarm erfolgte. Denn wesentliches Vergleichbarkeitskriterium ist nicht etwa die optische Entstellung, sondern der Verlust an Funktionalität, der in den verglichenen Fällen in etwa der selbe ist.

Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 286, 288 I, 247 BGB. Zinsen sind ab dem 21.05.2016 zu zahlen.

II.

Der geltend gemachte Feststellungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte beruht auf §§ 280 Abs. 1, 630a, 249, 253 Abs. 2 BGB, da die Haftung dem Grunde nach wie oben dargestellt feststeht.

III. Die Kosten des Privatgutachtens in Höhe von 751, 45 Euro sind dem Kläger ebenfalls gem. §§ 280 I S. 1, 630a BGB, 249 I BGB zu ersetzen.

Diese Kosten sind insbesondere auch gem. § 249 I BGB erstattungsfähig.

Denn diese Kosten sind als Kosten der Rechtsverfolgung dann erstattungsfähig, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig sind (vgl. BGH NJW 14, 1947).

Wesentliches Kriterium ist die Frage, ob ein wirtschaftlich vernünftig denkender Mensch nach objektiven Gesichtspunkten in der Situation des Klägers ein solches Privatgutachten in Auftrag gegeben hätte.

Hiervon ausgehend, hätte ein vernünftig denkender Mensch in der Situation des Klägers ein Privatgutachten eingeholt. Denn angesichts der Komplexität der arzthaftungsrechtlichen Materie war von vorneherein nicht abzusehen, wie die Behandlung des Klägers aus medizinischer Sicht bewertet werden würde.

Das Verhalten des Klägers ein Privatgutachten einzuholen, ist aus wirtschaftlicher Sicht umso verständlicher, wenn man dessen Mittellosigkeit berücksichtigt. Denn der Kläger erhielt im vorliegenden Verfahren Prozesskostenhilfe. Im Falle eines Unterliegens  hätte er die außergerichtlichen Kosten der Beklagten tragen müssen.. Um dieses für den Kläger doch erhebliche Kostenrisiko angesichts des hiesigen Streitwertes von 75.751,45 Euro besser einschätzen zu können, war die Einholung eines Privatgutachtens nachvollziehbar und vernünftig.

IV.

Die außergerichtlichen Anwaltsgebühren in Höhe von 3196,34 Euro hat die Beklagte dem Kläger gem. §§ 280 I, 630a, 249 I BGB zu ersetzen, da diese Kosten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung ebenfalls notwendig waren.

Die vom Kläger geltend gemachte 2,0 Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 der Anlage 1 zum RVG zu einem Streitwert bis zu 80.000 Euro ist auch entgegen der Auffassung der Beklagten angesichts des Umfangs und der Komplexität des vorliegenden Falls und der damit verbundenen Schwierigkeit angemessen.

Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 286, 288 I, 247 BGB. Zinsen sind ab dem 21.05.2016 zu zahlen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 I S. 1, 709 S. 2 ZPO.

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