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Zahnarzthaftung für Versäumung einer Kieferkorrektur durch Multibandapparatur

OLG Koblenz, Az.: 5 U 811/15, Urteil vom 27.01.2016

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 25.6.2015 in Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels dahingehend geändert, dass die Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen gesamtschuldnerisch verurteilt werden, an den Kläger 8.219,96 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.5.2014 zu zahlen und den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten von 290,96 € freizustellen.

2. Die erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben. Von den zweitinstanzlichen Kosten tragen der Kläger 1/3 und die Beklagten als Gesamtschuldner 2/3.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Zahnarzthaftung für Versäumung einer Kieferkorrektur durch Multibandapparatur
Symbolfoto: GeorgeRudy/Bigstock

1. Der am 4.6.1993 geborene und gesetzlich krankenversicherte Kläger hatte Fehlstellungen im Kiefer. Gleichzeitig litt er unter einer massiven Gingiva-Hyperplasie. Zur Therapie wurde am 23.5.2007 in der zahnärztlichen Praxis der Beklagten ein Behandlungsplan gefertigt, nachdem bereits mehr als ein Jahr zuvor anderweit eine Gingivektomie vorgenommen worden war. Man setzte nunmehr einen Bionator ein. Eine relevante Besserung der Situation ergab sich in der Folge jedoch nicht.

Im Herbst 2010 erwogen die Beklagten die Einbringung einer festsitzenden Multibandapparatur. Eine entsprechende Maßnahme war schon anfänglich von der Krankenkasse bewilligt worden und wurde jetzt auf einen erneuten Antrag hin nochmals konsentiert. Gleichwohl unterblieb sie. Als Erklärung dafür haben die Beklagten auf fortbestehende Schleimhautwucherungen hingewiesen.

Unterdessen suchte der Kläger anderenorts Hilfe. Er brach die Behandlung bei den Beklagten im Verlauf des Jahres 2012 ab und ließ von dritter Seite am 28.7. und 18.10.2012 zwei Gingivektomien durchführen, ehe er anschließend an anderer Stelle eine fortlaufende, insgesamt 6.219,96 € teure kieferorthopädische Versorgung suchte. Im Hinblick auf die räumliche Entfernung entstanden dem Kläger dabei – hauptsächlich in Verbindung mit den Gingivektomien – Fahrtkosten von 1.850 € und Unterbringungskosten von 510 € für die eigene Person und für seine Mutter.

Den daraus resultierenden Gesamtbetrag von 8.579,96 € hat der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit eingeklagt. Außerdem hat er ein mit mindestens 5.000 € zu bezifferndes Schmerzensgeld sowie den Ausgleich vorgerichtlicher Anwaltskosten von 899,40 € beansprucht sowie die Feststellung der weitergehenden Haftung der Beklagten begehrt. Aus seiner Sicht wären die Beklagten gehalten gewesen, die von 2012 an anderweit eingeleitete Therapie in 2010 in Angriff zu nehmen. Hätten sie dies getan, wären ihm körperliche und seelische Belastungen erspart geblieben, und er hätte die geltend gemachten Kosten der kieferorthopädischen Behandlung vermeiden können, weil sie dann noch vor seiner Volljährigkeit ausgelöst und damit von seiner Krankenkasse getragen worden wären.

Das Landgericht hat Sachverständigenbeweis erhoben und dem Kläger sodann unter Abweisung der Klage im Übrigen ein Schmerzensgeld von 1.500 € zugesprochen. Dieses Schmerzensgeld rechtfertigt sich seiner Auffassung nach daraus, dass die adäquate Behandlung des Klägers nach 2010 durch Fehler der Beklagten um 1 1/2 Jahre hinausgeschoben worden sei und der Kläger deshalb während dieser Zeit überflüssigerweise einen Bionator habe tragen müssen. Die im Zusammenhang mit den Gingivektomien eingeforderten Kosten hätten den Kläger ohnehin getroffen, die Notwendigkeit der mit der nachfolgenden kieferorthopädischen Versorgung verbundenen Kosten sowie ersatzfähige anwaltliche Leistungen zugunsten des Klägers seien nicht feststellbar. Das Feststellungsbegehren scheitere an der Erkennbarkeit zukünftiger Schäden.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der Berufung. Er erstrebt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgelds von 3.500 € und zu einer materiellen Ersatzleistung von 6.975,96,€ zum Ausgleich der bereits erstinstanzlich geltend gemachten anderweiten Behandlungskosten von 6.219,96 € sowie von begleitenden Fahrtkosten von 756 €. Außerdem verfolgt er das Feststellungsbegehren weiter und verlangt die Erstattung von Anwaltsgebühren von 837,52 €. Er erachtet seine immaterielle Schädigung für gravierender und zeitlich länger anhaltend, als es das Landgericht gesehen habe, und meint, es sei Sache der Beklagten darzutun und zu beweisen, dass der materielle Schaden vermeidbar gewesen sei. Demgegenüber verteidigen die Beklagten die erstinstanzliche Entscheidung. Ihrer Auffassung nach ist der Kläger weithin darlegungs- und beweisfällig geblieben.

2. Die Berufung hat überwiegend Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landgerichts stehen dem Kläger nicht unerhebliche materielle Schadensersatzansprüche zu. Darüber hinaus ist das zugesprochene Schmerzensgeld – wenn auch nur geringfügig – zu erhöhen.

Die Beklagten haben ihre zahnärztlichen Behandlungspflichten gegenüber dem Kläger verletzt. Nach den Erkenntnissen der vom Landgericht herangezogenen Sachverständigen Dr. V. war es grundsätzlich geboten, beim Kläger Ende September 2010 eine Kieferkorrektur in Angriff zu nehmen, indem man einen Multibandapparat einsetzte. Dass dies nicht geschah, ist umso unverständlicher, als dafür eine Kassengenehmigung beantragt und dann auch erteilt wurde.

a) In der Folge ist dem Kläger zunächst ein in §§ 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB begründeter Schmerzensgeldanspruch erwachsen. Denn das Versäumnis der Beklagten führte dazu, dass der Kläger längerfristig mit Schiefstellungen seiner Zähne leben und daneben einen letztlich unbehelflichen Bionator tragen musste, den die Beklagten therapeutisch einsetzten. Die erforderliche Behandlung verzögerte sich bis Mitte November 2012; erst jetzt fand der Kläger anderweitig Zugang zu einer effektiven Versorgung. Allerdings wäre es den Beklagten nicht möglich gewesen, eine entsprechende Versorgung sogleich unmittelbar einzuleiten, als sich Ende September 2010 deren Notwendigkeit zeigte. Es bedurfte nämlich zunächst noch einer Gingivektomie, und die kardiale Situation des Klägers war abzuklären. Dafür sind indessen schwerlich mehr als insgesamt 1 1/2 Monate zu veranschlagen. Nach Ablauf dieser Zeit gab es keinen vernünftigen Grund für ein Zuwarten mehr. Die Sachverständige Dr. V. hat es zwar für „auch vertretbar“ gehalten, die Dinge noch weiter hinauszuschieben, dafür jedoch keine nachvollziehbaren Erwägungen anzuführen vermocht.

Damit ist es angemessen, den vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldbetrag, der auf eine Beeinträchtigungsphase von 1 1/2 Jahren abhebt, um ein Drittel auf 2.000 € zu erhöhen. Eine weitere Korrektur ist freilich nicht angezeigt. Das angefochtene Urteil hat die Beschwerden des Klägers zutreffend gewürdigt. Dessen Rüge, es sei fälschlich unberücksichtigt geblieben, dass er Hänseleien ausgesetzt gewesen sei, hat keine Berechtigung. Denn der dahingehende Vortrag ist erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung erfolgt und kann, da er bestritten ist, auch im Berufungsverfahren nicht beachtet werden (§ 531 Abs. 2 ZPO).

b) Die vom Kläger geltend gemachten anderweitigen Behandlungsaufwendungen sind im Umfang von 6.219,96 € erstattungsfähig. Insgesamt stand hier zunächst eine Ersatzforderung von 8.579,96 € im Raum, die in zweiter Instanz auf 6.975,96 € ermäßigt wurde. Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens sind die im November 2012 begonnene kieferorthopädische Versorgung und nur mehr die allein diese begleitenden Fahrtkosten.

Die zahnärztlichen Kosten dieser Versorgung belaufen sich unstreitig auf 6.219,96 € und sind, wie der Berufungsbegründungsschrift zu entnehmen ist, vom Kläger mittlerweile vollständig aufgebracht worden, ohne dass die Beklagten etwas entgegengesetzt hätten. Sie sind gemäß § 628 Abs. 2 BGB von den Beklagten zu übernehmen, nachdem der Kläger den mit ihnen bestehenden Behandlungsvertrag im Laufe des Jahres 2012 im Anschluss an deren anhaltendes Fehlverhalten gekündigt hat. Eine Honorarersparnis gegenüber den Beklagten braucht sich der Kläger dabei nicht anrechnen zu lassen (vgl. dazu Schellenberg, VersR 2007, 1343), weil für deren Vergütung die Krankenkasse aufzukommen hatte.

Zwischen dem Anfall der Kosten und dem Fehlverhalten der Beklagten besteht der für eine Ersatzpflicht erforderliche Kausal- und Zurechnungszusammenhang. Die Kosten wären bei einer von vornherein sachgerechten Versorgung des Klägers nicht entstanden. Freilich hätten sie sich nach der Darstellung der Beklagten umgehen lassen, wenn der alte, vormals durch die Kasse genehmigte Behandlungsplan übernommen worden wäre. Dass dies unterblieb, ist jedoch nicht der Risikosphäre des Klägers, sondern der der Beklagten zuzuordnen. Denn das war von Anfang an absehbar und für den Kläger im weiteren Verlauf nicht mehr zumutbar zu vermeiden. Die Sachverständige Dr. V. hat dazu bemerkt:

„Der Folgebehandler ist nicht verpflichtet, in den bereits genehmigten Behandlungsplan einzusteigen. Es stehen wirtschaftliche Überlegungen dahinter. Ich würde schätzen, dass 80 % der Kieferorthopäden nicht in den Behandlungsplan eingestiegen wären, 20 % hätten es möglicherweise gemacht.“

Darauf haben die Beklagten nichts Substantielles erwidert.

Von daher scheidet auch ein Mitverschuldenseinwand (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB) aus. Sollte sich der Nachbehandler, wie das Vorbringen der Beklagten insinuiert, gegenüber dem Kläger haftbar gemacht haben, weil er nach einem eigenen Behandlungsplan arbeitete, hätten die Beklagten lediglich Anspruch darauf, dass ihnen der Kläger die insoweit begründeten Schadensersatzansprüche abtritt (§ 255 BGB). Das ist jedoch für den vorliegenden Rechtsstreit unbeachtlich, weil ein solcher Anspruch nicht im Wege der Einrede geltend gemacht worden ist.

Tragfähig ist die Rechtsverteidigung der Beklagten allerdings insoweit, als die streitigen Fahrtkosten von 756 € berührt sind, die anfielen, weil der Kläger, statt sich wohnsitznah versorgen zu lassen, die Behandlung in 180 Kilometer Entfernung vornehmen ließ. Die Beklagten haben die Notwendigkeit eines solchen Schritts geleugnet und vorgetragen, es habe auch vor Ort adäquate Behandlungsmöglichkeiten gegeben. Dafür sprechen nicht nur die allgemeine Erfahrung, sondern ebenfalls die Erkenntnisse der Sachverständigen Dr. V.: „Das hätte auch hier gemacht werden können.“

Es wäre Sache des Klägers gewesen, den so erhärteten Einwand der Beklagten plausibel zu entkräften. Das ist jedoch nicht geschehen. Er hat sich damit begnügt vorzutragen, er sei „durchaus bemüht (gewesen), einen in Koblenz ansässigen Kieferorthopäden zu finden, wobei der aufgesuchte Kieferorthopäde eine Behandlung aus Kapazitätsgründen (abgelehnt habe).“ Das gibt eine lediglich punktuelle Suche zu erkennen und ist darüber hinaus weder von der Person noch vom Zeitpunkt her präzisiert.

c) Das Feststellungsbegehren des Klägers hat das Landgericht zu Recht abgewiesen: Die von den Beklagten versäumte Behandlung ist anderweit nachgeholt worden. Vor diesem Hintergrund heißt es in dem angefochtenen Urteil zutreffend, Folgewirkungen des Versäumnisses seien jetzt nicht mehr zu erwarten. Eine abweichende Sicht hat die Berufung mit ihrer abstrakten Behauptung, die weitere Behandlung und deren Kosten seien nicht zu überblicken, nicht zu vermitteln vermocht.

d) Der Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten, der in erster Instanz nicht nachvollziehbar dargelegt wurde, ist nunmehr mit der Abfassung eines einseitigen Anforderungsschreibens vom 19.11.2012 unterlegt worden. Die Existenz dieses – abschriftlich zu den Akten gereichten – Schreibens ist nicht bestritten. Daraus ergibt sich, ausgehend von einem berechtigten Forderungsvolumen von 8.291,96 € (2.000 € Schmerzensgeld und 6.219,96 € materieller Ersatz) gemäß Nr. 2300, 7001, 7008 RVG-VV bei einem nach Lage der Dinge angemessenen Gebührensatz von 0,5 eine Kostenbelastung von 290,96 €. Dieserhalb kann der Kläger als Minus zu der erstrebten Zahlung (Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 308 Rn. 4) Freistellung verlangen. Es ist weder behauptet noch sonst erkennbar, dass er die Gebühren bisher beglichen hätte.

e) Auf die zuerkannten Zahlungsansprüche sind Rechtshängigkeitszinsen zu entrichten. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision fehlen.

Rechtsmittelstreitwert: 12.975,96 € (davon Feststellungsantrag: 2.500 €)

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