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Arzthaftungsprozess: Anforderungen an die Informations- und Substantiierungspflichten der Partei

BGH, Az: VI ZR 49/15, Beschluss vom 01.03.2016

Leitsatz: An die Informations- und Substantiierungspflichten der Partei im Arzthaftungsprozess dürfen nur maßvolle Anforderungen gestellt werden. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter sind insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.

Die gegen die Beklagte zu 1 gerichtete Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 1. Zivilsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 14. Januar 2015 wird zurückgewiesen.

Arzthaftungsprozess: Anforderungen an die Informations- und Substantiierungspflichten der ParteiAuf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben, soweit die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer gegen die Beklagte zu 2 gerichteten Klage zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Hiervon ausgenommen sind die im Nichtzulassungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1, die die Klägerin zu tragen hat.

Streitwert: 70.000 €, davon entfallen 17.500 € auf die Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Beklagte zu 1 und 52.500 € auf die Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Beklagte zu 2.

Gründe

I.

Die am 8. Februar 1950 geborene Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Am 28. Mai 2009 stürzte die Klägerin und zog sich eine Oberschenkelhalsfraktur zu. In der von der Beklagten zu 1 betriebenen Klinik wurde eine gelenkerhaltende Operation in Form einer Reposition mit Schraubenosteosynthese durchgeführt. Die Klägerin wurde am 14. Juni 2009 entlassen. Am 3. Februar 2010 stürzte die Klägerin erneut, wobei sie sich eine schwere dislozierte Schaftfraktur zuzog. Sie wurde notfallmäßig in die von der Beklagten zu 2 betriebene Klinik eingeliefert, wo am 4. Februar 2010 eine Kombination aus einer Konvertierungsoperation und einer operativen Versorgung der frischen Schaftspiralfraktur vorgenommen wurde. Die in der Klinik der Beklagten zu 1 eingebrachten drei Schrauben wurden entfernt und der Klägerin eine Hüftprothese implantiert. Nach einem weiteren Sturz der Klägerin am 20. Februar 2010 wurde am 23. Februar 2010 ein Endoprothesenwechsel durchgeführt. Intraoperativ entnommene Abstriche ergaben eine bakterielle Besiedelung mit Enterokokken, weshalb entsprechend dem Antibiogramm eine Antibiose mit Cefuroxim eingeleitet wurde. In der Folgezeit kam es zu mehreren Luxationen, die geschlossen reponiert wurden. Am 24. März 2010 erfolgten eine operative Grundrevision und eine Pfannenkorrektur. Am 21. April 2010 wurden wiederum eine operative Revision und ein Debridement durchgeführt. Es wurden erneut Bakterien (Enterokokken und Staphylokokken) festgestellt und eine Antibiose durchgeführt.

Die Klägerin macht u.a. geltend, dass sämtliche Operationen fehlerhaft durchgeführt worden seien. Die Tatsache, dass es zu einer tiefen Infektion gekommen sei, lasse darauf schließen, dass die Beklagte zu 2 die anzulegenden Hygienestandards nicht eingehalten habe.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

1. Die gegen die Beklagte zu 1 gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Sie zeigt nicht auf, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.

2. Die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

a) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerin, die nach der Operation vom 4. Februar 2010 vorgenommenen Wunddebridement seien nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, ein Debridement der tiefen Wundhöhle sei nicht erfolgt, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht zugelassen hat. Es hat der Klägerin rechtsfehlerhaft Nachlässigkeit im Sinne des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO vorgeworfen. Soweit es annimmt, die Klägerin habe den nun gebrachten Vortrag über eine mögliche Entstehungsursache der bei ihr eingetretenen tiefen Infektion bei sorgfältiger, auf umfassende Sachverhaltsaufklärung ausgerichteter Prozessführung schon im ersten Rechtszug erheben können, hat es die Anforderungen an die die Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess überspannt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats dürfen an die Informations- und Substantiierungspflichten der Partei im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden. Vom Patienten kann regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter sind insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen (vgl. Senatsurteil vom 8. Juni 2006 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 252; vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712 Rn. 19; Beschluss vom 15. Juli 2014 – VI ZR 176/13, Rn. 5). Nach diesen Grundsätzen ist der Patient nicht verpflichtet, mögliche Entstehungsursachen einer Infektion zu ermitteln und vorzutragen. Bei dieser Sachlage kann es nicht als Nachlässigkeit angesehen werden, dass die Klägerin in zweiter Instanz ihren Angriff konkretisiert hat, nachdem ihr zweitinstanzlicher Prozessbevollmächtigter durch eigene medizinische Recherchen zusätzliche Informationen über mögliche Infektionsursachen erlangt hat.

b) Die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung fehlt es nicht an dem erforderlichen Vortrag der Klägerin zur Schadensursächlichkeit des vermeintlich nicht ordnungsgemäß durchgeführten Wunddebridements. Ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen im Berufungsurteil hatte die Klägerin behauptet, ihr sei erstinstanzlich nicht bewusst gewesen, dass im Zusammenhang mit dem Wunddebridement ein für die spätere Infektion ursächlicher Arztfehler passiert sein könne. Hierüber sei sie erst durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten unterrichtet worden. Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin zutreffend dahingehend verstanden, dass die von der Klägerin behaupteten Fehler anlässlich der nach der Operation vom 4. Februar 2010 vorgenommenen Wunddebridement ursächlich für die spätere Infektion geworden sind.

Das angefochtene Urteil wird auch nicht von der vom Berufungsgericht angestellten Hilfserwägung getragen, dass der von der Klägerin zum Beweis ihrer Behauptung benannte Sachverständige mit den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen keine gerichtsverwertbaren zuverlässigen Feststellungen mehr dazu treffen könne, ob das Wunddebridement in infektionsauslösender Weise fehlerhaft durchgeführt wurde. Die Beantwortung der Frage, ob anhand der Behandlungsunterlagen, insbesondere der von den Ärzten der Beklagten zu 2 erstellten Dokumentation, verlässliche Feststellungen dazu getroffen werden können, ob das nach dem Eingriff vom 4. Februar 2010 erfolgte Wunddebridement dem damals geltenden medizinischen Standard entsprach, bestimmt sich nach medizinischen Maßstäben, die der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet zu ermitteln hat (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712). Dies gilt insbesondere für die Frage, ob und welche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Wunddebridement aus medizinischen Gründen dokumentationspflichtig und möglicherweise nicht dokumentiert worden sind, mit der Folge dass sich hieraus Beweiserleichterungen für die Klägerin ergeben könnten. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht diese Frage verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet hat.

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