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Fachgerechte Behandlung einer Fibulaaplasie bei einem sechsjährigen Kind

LG Gießen – Az.: 3 O 261/09 – Urteil vom 30.11.2012

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche nach ärztlicher Behandlung.

Die Klägerin wurde am … mit einer sog. Fibulaaplasie des rechten Beins geboren, die als Teil eines longitudinalen Reduktionsdefektes des gesamten rechten Beines mit Tibiahypoplasie und Fibulaaplasie sowie einem 3-zehenstraligen Fuß zu sehen ist. Zusätzlich lag eine Oberschenkelhypoplasie des Typ VI-VII vor. Dies bedeutet, dass bei der Klägerin am rechten Bein das Wadenbein fehlte und eine Beinlängenverkürzung des rechten Beines sowie eine Fehlstellung im Unterschenkel (Außenrotationsfehlstellung) und Oberschenkel (Innenrotationsfehlstellung) vorlagen. Die entstandene Beinlängedifferenz wurde von Beginn an mittels orthopädietechnischer Schuherhöhungen ausgeglichen.

2003 entschieden sich die Eltern der Klägerin, diese im Gelenkzentrum … behandeln zu lassen. Zwischen den Eltern der Klägerin und dem damals behandelnden Arzt – Herrn Dr. … – wurde in einem Besprechungstermin am 09.09.2003 vereinbart, die Beinlängendifferenz operativ auszugleichen. Die Operation erfolgte am 19.09.2003 in den … Kliniken … Im Operationsbericht vom 01.10.2003 (Anlage K1 zur Klageschrift, Bl. 34ff. d.A.) wird als Diagnose eine Beinlängendifferenz von 7 cm bei gleichzeitig bestehender Valgusfehlstellung, Außentorsionsstellung des Femurs und Innentorsionsstellung der Tibia angegeben. Zum Ausgleich der Beinlängendifferenz erfolgte die Anlage eines Ringfixateurs am rechten Unterschenkel und Fuß. Gleichzeitig erfolgte eine Verlängerung und Durchtrennung der Achillessehne sowie eine Osteotomie.

Fachgerechte Behandlung einer Fibulaaplasie bei einem sechsjährigen Kind
Symbolfoto: Von Ilike/Shutterstock.com

Nach Entlassung in die ambulante Weiterbehandlung am 01.10.2003 gestaltete sich die Verlängerung des Unterschenkels, welche durch eine Viertelumdrehung am Ringfixateurs 4mal täglich durchgeführt werden sollte, aufgrund starker Schmerzen des Kindes verzögert und kompliziert. Es entstand im Bereich des rechten Beines eine Beugekontraktur, die auch durch eine zuvor verordnete Schiene, welche die Klägerin zur Streckung des Beines sowie zur Dehnung der Muskel- und Sehnenstränge nachts tragen musste, nicht therapiert werden konnte. Die Beugeschonhaltung tagsüber hob die Streckungsversuche über die Nacht hinweg wieder auf. Zusätzlich kam es zu Einschränkungen der Kniegelenksbeweglichkeit. Aufgrund starker Schmerzen belastete die Klägerin das Bein kaum noch. Die Längenkorrektur endete im Januar 2004. Am 02.07.2004 wurde der Fixateur in den … Kliniken … abgenommen. Das Bein der Klägerin wurde anschließend mittels eines Oberschenkelgipses fixiert. Am 10.08.2004 wurde der Gips entfernt und die Klägerin erhielt eine Schutzschiene, die es ihr ermöglichen sollte, aufzutreten und zu laufen. Aufgrund von Schmerzen belastete die Klägerin das Bein aber nicht. Die zwischenzeitlich eingeleitete Ergo- bzw. Wassertherapie brachte keine nennenswerte Verbesserung der Belastbarkeit des Beines.

In der Folgezeit stellten die Eltern der Klägerin fest, dass deren Beine beim Sitzen zwar parallel liefen, das verlängerte rechte Bein aber beim Aufstehen und Strecken aus dem Becken heraus eine ganz deutliche Drehung nach rechts außen machte. Am 10.10.2004 kam es zu einer zunehmenden Verbiegung des rechten Unterschenkels, weshalb die Klägerin die Notfallambulanz der … Klinik … aufsuchte. Dort wurde eine Grünholzfraktur festgestellt, die am 13.10.2004 durch Herrn Dr. … mittels einer Plattenosteosynhese im Bereich des Grünholzbruches behandelt wurde.

Die Weiterbehandlung erfolgte durch den Beklagten 1) im Klinikum …, …, welches von der Beklagten 2) getragen wird. Bei der Erstvorstellung am 28.10.2004 wurde neben der Beinlängendifferenz eine (Valgusfehlstellung, X-Beinfehlstellung) des Unterschenkels von 40 Grad festgestellt. Das rechte Bein konnte nicht belastet werden. Die X-Beinabweichung bewirkte, dass die Situation mit orthopädischen Hilfsmitteln nicht mehr versorgt werden konnte (ärztlicher Bericht v. 11.11.2004, Anlage K2 zur Klageschrift, Bl. 36f. d.A.). Aufgrund der Befundung wurde zwischen den Eltern der Klägerin und dem Beklagten 2) eine Behandlung in 2 Schritten abgestimmt. Eine in erster Linie vorzunehmenden Achskorrektur sollte die Belastungsfähigkeit des Beines gewährleisten, woran in einem zweiten Schritt die Beinverlängerung wieder aufgenommen werden sollte.

Am 17.11.2004 führte der Beklagte 1) operativ zur Achskorrektur eine Kortikotomie und die Anlage eines Ringfixateurs nach Ilizarov durch. Nach dem stationären Aufenthalt vom 16.11.2004 bis zum 26.11.2004 wurde die Klägerin am 10.12.2004 zum Kontrolltermin bei dem Beklagten 1) vorstellig. Es zeigte sich eine zunehmende Korrektur der Unterschenkelachse mit einer Restabweichung von 5-7 Grad (Arztbericht vom 03.01. 2012, Anlage K3 zur Klageschrift, Bl. 43f. d.A.). Bei erneuter Vorstellung am 28.12.2004 bei dem Beklagten 1) zeigte sich eine Ausgradung des Unterschenkels mit von vornherein geplanter leichter Überkorrektur (Arztbericht vom 04.01. 2012, Anlage K3 zur Klageschrift, Bl. 42. d.A.).

Daraufhin wurde die Verlängerung des rechten Unterschenkels um 4mal täglich ¼ mm durch Drehung des Fixateurgestänges eingeleitet. Bei Wiedervorstellung am 14.01.2005 und 28.01.2005 zeigte sich ein verzögerter Knochenaufbau, weshalb die Verlängerung zunächst auf 2mal täglich ¼ mm reduziert und schließlich am 28.01.2005 bei einer radiologisch gemessenen Verlängerung von 1,5 cm ganz eingestellt wurde (Arztberichte v. 17.01.2005 u. 28.01.2005, Anlage K3 zur Klageschrift, Bl. 38ff. d.A.). Zugleich wurde durch den Beklagten 1) eine Physiotherapie zur Verbesserung der Streckfähigkeit des Beines verschrieben. Im weiteren Verlauf zeigte sich fortgesetzt eine verzögerte Knochenbildung, so dass der Beklagte 1) am 03.06.2005 den Fixateur um 3mm komprimierte, um den Knochenaufbau bzw. eine Mineralisierung der Knochen zu fördern. Am 30.09.2005 ordnete der Beklagte 1) Krankgymnastik für die Klägerin an. In der Folgezeit entwickelte sich erneut eine Beugekontraktur bei der Klägerin, welche die Streckung des Unterschenkels zunehmend erschwerte.

Daraufhin nahm der Beklagte 1) am 21.02.2006 den Fixateur ab, füllte das noch bestehende Knochendefizit durch anderweitig entnommenen Knochenspan auf und stabilisierte den Unterschenkelknochen durch erneute Plattenosteosynthese. Am 08.05.2007 verordnete der Beklagte1) eine Schiene für das rechte Bein der Klägerin.

Am 05.10.2007 unterzog sich die Klägerin im Universitätsklinikum … einer neuerlichen achskorrigierenden Operation am Unterschenkel (Operationsbericht, Anlage K 5 zur Klageschrift, Bl. 60ff. d.A.). Dabei durchschnitt der Operateur Dr. … den bis dahin noch nicht durchtrennten Fibulastrang der Klägerin.

Die Klägerin behauptet unter Bezug auf das Privatgutachten des Dr. med. … vom 15.03.2011 (Bl. 407ff d.A.), es sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen, dass der Beklagte 1) den Fibulastrang nicht durchtrennt hätte, da alle weiteren Korrekturmaßnahmen dadurch zum Scheitern verurteilt gewesen seien. Angesichts der problembehafteten und langwierigen Vorgeschichte sei es ferner behandlungsfehlerhaft gewesen, nur die Fehlstellung des Unterschenkels zu therapieren statt eine Gesamtkorrektur der Beinachse vorzunehmen.

Nach der Knochendurchtrennung in der Operation vom 17.11.2004 sei der klaffende Knochenspalt nicht zurück gedreht worden, jedenfalls sei dies nicht dokumentiert.

Der Beklagte 1) habe es behandlungsfehlerhaft unterlassen, auf die auf dem Röntgenkontrollbild der Operation vom 17.11.2004 sichtbare Biegung der Kirschnerdrähte zu reagieren. Es sei durch die Verbiegung der Drähte zu einer Auslockerung derselben gekommen, welche einen örtlichen Abbau des Knochens (sog. Osteolyse) hervorgerufen hätten. Beim Bohren der Drähte sei das Kniegelenk nicht wie lege artis vorgesehen jeweils in Abhängigkeit der Verlaufsrichtung des jeweiligen Drahtes in Streckung oder Beugung umgelagert worden; jedenfalls sei dies nicht dokumentiert. Dieses Unterlassen sei mit großer Wahrscheinlichkeit ursächlich für die Schwierigkeiten bei der Lagerung des Beines sowie für die Beugefehlstellung.

Die Klägerin sei unzureichend versorgt worden, da sie ohne eine Orthese aus dem Klinikum … entlassen worden sei. Eine Orthese sei durch den Beklagten 1) dann nur auf die nachdrücklichen Bemühungen der Mutter der Klägerin verschrieben worden.

Ab dem 28.12.2004 habe die Verlängerung des Beines bei bestehender Funktionseinschränkungen (Beugefehlstellung) des Kniegelenks nicht durchgeführt werden dürfen. Es habe eine kniegelenksübergreifende Montag des/der Ringfixateure erfolgen müssen, um die Kniefehlstellung behandeln zu können. Der Beklagte 1) habe seine Aufklärungspflichten verletzt, weil er während der Verlängerungsphase des Beins die dabei aufgetretenen Komplikationen verschwiegen habe.

Die nach dem 28.01.2005 eingeleitete Physiotherapie zur Verbesserung der Streckfähigkeit des rechten Kniegelenks sei behandlungsfehlerhaft verordnet worden, da sie fast immer mit einer Schädigung des Knochens des Schienbeinkopfes einhergehe. Die Anordnung der Krankengymnastik sei ebenfalls fehlerhaft gewesen, da sie zu weitreichenden Funktionsstörungen des Kniegelenks geführt habe.

Die am 21.06.2006 vorgenommene Verplattung habe nicht den Vorgaben Ilizarov entsprochen und sei fehlerhaft gewesen, weil durch den hochgradig entmineralisierten Knochen eine Verbesserung der Situation nicht zu erwarten gewesen sei.

Bei der am 08.05.2007 angelegten Schiene habe es sich um eine Quengelschiene gehandelt. Das Anlegen dieser sei nicht sinnvoll gewesen, da sie die Fehlstellung am Kniegelenk gegen den erheblichen Widerstand der Weichteile nicht habe korrigieren können.

Die Klägerin beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, wobei hier ein Mindestbetrag in Höhe von 10.000,00 € gefordert wird, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 04.09.2008 zu zahlen;

ferner festzustellen, dass die Beklagten 1) und 2) verpflichtet sind, der Klägerin jedweden weiteren materiellen und immateriellen Schaden für die Vergangenheit und Zukunft zu ersetzen, welche auf der von der Beklagten 1) und 2) durchgeführten Behandlung ab Oktober 2004 bis November 2005, insbesondere des Krankenhausaufenthalts vom 16.11.2004 bis zum 26.11.2004 und der Operation vom 17.11.2004 sowie der Behandlung durch den Beklagten 2) in den Jahren 2006 und 2007 beruhen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, eine Gesamtkorrektur der Achse des gesamten Beines sei langfristig durch den Beklagten 1) vorgesehen gewesen. Es sei medizinisch im Sinne einer schrittweisen Behandlung sinnvoll gewesen, zunächst ausschließlich die massiven Probleme im Bereich des Unterschenkels zu behandeln.

Das Klaffen des Knochenspaltes auf der postoperativen Aufnahme sei lediglich der Beweis dafür, dass der Knochen lege artis durchtrennt wurde. Der Spalt sei mittels Kompression anschließend geschlossen worden.

Die Kirschnerdrähte seien korrekt eingebracht worden, bei der Verbiegung handele lediglich um eine optische Projektion.

Eine Verlängerung des Knochens führe unweigerlich zu Gelenkfehlstellungen, wie hier im Rahmen des Kniegelenks. Der behandelnde Arzt müsse abwägen, inwieweit er Bewegungseinschränkungen des Gelenks, die sich später auch noch korrigieren ließen, oder das Scheitern des Verlängerungsverfahrens in Kauf nehme. Mit diesem Zwiespalt sei der Beklagte 1) in Abstimmung mit den Eltern sachgerecht umgegangen. Physiotherapeutische Maßnahmen seien allgemein anerkannt, um eine vernünftige Gelenkfunktion aufrecht zu erhalten, eine Schädigung beteiligter Knochen trete nur in Einzelfällen auf.

Die Risken einer Fixateurbehandlung seien den Eltern der Klägerin am 16.11.2004 vor der Operation hinreichend bewusst gewesen, da sie eine solche Behandlung nach Illizarov schon einmal durchlaufen hätten.

Ferner habe der Beklagte 1) im weiteren Verlauf der Behandlung die Klägerin in ausreichendem Maße durch insgesamt 6 Rezepte über Orthesenversorgung bzw. Orthesenänderung versorgt.

Beim der am 08.05.2007 angelegten Schiene habe es sich um eine Lagerungsschiene mit einstellbaren Gelenken für Knie- und Sprunggelenke gehandelt. Diese sei richtigerweise angelegt worden, um die Erfolge der Krankengymnastik zu erhalten bzw. auf weitere Beweglichkeiten durch einfache Neueinstellungen der Gelenke reagieren zu können, ohne für jede Gradzahl-Erweiterung des Bewegungsausmaßes eine neue Oberschenkellagerungsschiene anfertigen zu müssen.

Das Gericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 29.07.2009 (Bl.225 d.A.) und 28.09.2009 (Bl. 255a d.A.) durch Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens Beweis erhoben. Auf die schriftliche Ausarbeitung des Gutachtens vom 31.08.2010 (Bl. 346ff d.A.) des Sachverständigen Prof. Dr. … sowie die ergänzende Stellungnahme vom 14.10.2011 (Bl. 465 d.A.) wird Bezug genommen. Hinsichtlich der mündlichen Erörterung des Gutachtens wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 09.11.2012 verwiesen (Bl. 538 d.A.).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Ein solcher ergibt sich weder aus einer Pflichtverletzung im Rahmen des Behandlungsvertrages gemäß § 280 Abs. 1 BGB noch aus unerlaubter Handlung gemäß §§ 823, 253 Abs. 2 BGB. Dem Beklagten ist kein Behandlungsfehler vorzuwerfen, welcher der Beklagten 2) zuzurechnen wäre.

Diese Einschätzung stützt das Gericht auf die nachvollziehbar begründeten Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. … Seine detailreiche Begutachtung ist schlüssig und unter Auswertung aller Anknüpfungstatsachen erstellt.

Bei der achskorrigierenden Operation des Unterschenkels am 17.11.2004 hätte der Fibulastrang nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nicht durchtrennt werden müssen. Der Sachverständige hat dargelegt, dass eine Resektion des fibularen Stranges aus großen Teilen der Wissenschaft im frühen Kindesalter empfohlen wird und in diesem Stadium anerkannt ist. Auf die Klägerin haben die Kriterien der Frühbehandlung aber nicht zugetroffen, da sie zum Zeitpunkt der Behandlung bereits über 6 Jahre alt war. Auch im Übrigen war es nicht erforderlich, im Rahmen der Verlängerung des Unterschenkels die Resektion oder Durchtrennung des Stranges vorzunehmen. Zum einen rief der fibulare Strang nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht die Verbiegung des Knochens hervor, zum anderen ist die Notwendigkeit der Resektion bzw. Durchtrennung im Rahmen der Verlängerung im medizinischen Schrifttum sehr umstritten und keinesfalls ein standardisiertes Verfahren. Es ist medizinisch ungewiss, ob und welche Vorteile die Entfernung bzw. Durchtrennung bei einer später durchgeführten Achskorrektur oder Verlängerung hat.

Die Behauptung der Klägerin, dass durch die Nichtentfernung des Stranges alle weiteren Korrekturmaßnahmen des Beines zum Scheitern verurteilt waren, hat sich nicht verifizieren lassen. Der Sachverständige legte dar, dass die weiteren Korrekturmaßnahmen durch den Strang in keiner Weise kausal behindert wurden. Er schloss aus, dass der Heilungsverlauf anders verlaufen wäre, wenn der Fibulastrang entfernt worden wäre. Insbesondere war seiner Einschätzung nach die Verbiegung des Schienbeinknochens nicht ursächlich auf den Fibulastrang, sondern auf die starke Entmineralisierung des Knochens – während der Verlängerung – zurückzuführen. Letztere habe in Kombination mit den Zugkräften der Muskulatur des Unterschenkels die Verbiegung hervorgerufen. Der Sachverständige begründete dies nachvollziehbar damit, dass sich auch nach der operativen Entfernung des Fibulastranges in … Verbiegungen gezeigt hätten. Das Gericht folgt dieser Einschätzung, zumal der Sachverständige die Umstände der Verbiegung in der mündlichen Verhandlung ausführlich, detailreich und widerspruchsfrei erklärt hat.

Es lag auch kein Behandlungsfehler des Beklagten1) darin, dass er nicht sogleich eine Korrektur der Gesamtachse des Beines vorgenommen hat. Der Sachverständige führte aus, dass im Fall des Krankheitsbildes der Klägerin, neben einer Verkürzung oder Verbiegung des Unterschenkels auch in der Regel eine Fehlstellung im Sprunggelenk bzw. des kniegelenksnahen Oberschenkels auftrete. Im Jahr 2004 sei es gängiger Standard gewesen, Fehlstellungen im Oberschenkelbereich nicht zugleich mit der Korrektur der Unterschenkelfehlstellung durchzuführen. Dies begründete der Sachverständige v.a. in der mündlichen Anhörung schlüssig damit, dass bei einer gleichzeitigen Korrektur zwei Fixateure hätten angelegt werden müssen, deren Ringe aneinander stießen, wodurch das Knie nur noch zu 30 – 40 Grad gebeugt werden könne. Der Sachverständige legte dann ergänzend und für das Gericht überzeugend dar, dass dieses Problem heute mittels sog. A-Plates vermieden werden könne. 2004 habe diese Möglichkeit aber noch nicht bestanden. Insofern vermag das Gericht auch in diesem Punkt keinen Behandlungsfehler des Beklagten 1) zu erkennen.

Die Operation vom 17.11.2004 erfolgte nach der Überzeugung des Gerichts lege artis. Nach den Feststellungen des Sachverständigen, welchen das Gericht folgt, war die Anlage des Ringfixateurs lege artis ausgeführt.

Das Gericht geht davon, dass nach der Knochendurchtrennung der klaffende Knochenspalt beseitigt worden ist. Zwar hat der Beklagte 1) die Kompression nicht durch ein Röntgenbild dokumentiert. Die aus dem Dokumentationsmangel folgende Vermutung, dass die Maßnahme nicht getroffen wurde (vgl. BGH NJW 1995, 1611), haben die Beklagten aber widerlegen können. Der Sachverständige legte nachvollziehbar dar, dass eine Röntgenaufnahme von dem klaffenden Spalt ohnehin nur erstellt werde, um zu dokumentieren, dass der Knochen tatsächlich durchtrennt werde, um sich später nicht dem Vorwurf einer frühzeitigen Konsolidierung ausgesetzt zu sehen. Danach komprimiere jeder erfahrene Ilizarov-Behandler standardmäßig die Knochen wieder. Dafür, dass dies vorliegend nicht geschehen ist, hatte der Sachverständige keine Anhaltspunkte. Den weiteren negativen Therapieverlauf führte er auf die starke Entmineralisierung des Knochens zurück, die wiederum auf der fehlenden Belastung des Knochens und nicht auf einem Knochenspalt beruhte.

Der Beklagte 1) hat es auch nicht behandlungsfehlerhaft unterlassen, auf die auf dem Röntgenkontrollbild der Operation vom 17.11.2004 vermeintlich sichtbare Biegung der Kirschnerdrähte zu reagieren. Der Sachverständige erklärte, dass Drahtverbiegungen durch postoperative Röntgenbilder optisch vorgetäuscht werden können, wenn das Röntgenbild nicht parallel zum Draht ausgerichtet ist. Eine Verbiegung der Drähte konnte er nach durchgeführter Durchsicht der Röntgenunterlagen zweifelsfrei ausschließen. Eine mögliche Osteolyse oder Lysemsäume führte der Sachverständige nicht auf eine Lockerung der Drähte zurück, sondern stellte fest, dass die Lysesäume durch die Weichheit des Knochens aufgetreten sind, die wiederum auf die fehlende Belastung des Beins zurückzuführen war. Das Gericht hat daher keinen Anhaltspunkt für ein schuldhaftes Unterlassen des Beklagten 1).

Das Kniegelenk ist auch lege artis beim Bohren der Drähte jeweils in Abhängigkeit der Verlaufsrichtung des jeweiligen Drahtes in Streckung oder Beugung umgelagert worden (sog. Herstellen der Nullstellung). Zwar dokumentierte der Beklagte 1) dies nicht. Die Beklagten haben die Vermutung des Unterlassens dieser Maßnahme aber widerlegt. Der Sachverständige erklärte, dass das Nichtherstellen der Nullstellung dazu führe, dass der Muskel in einer Fehlstellung fixiert werde. Das wäre nach seinen Ausführungen im vorliegenden Fall aber zuerst in Form einer Fehlsstellung des Fußes und nicht in einer Beugefehlstellung des Knies sichtbar geworden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass in der nachfolgenden Behandlung sich primär eine Fehlstellung des Fußes zeigte. Darüber hinaus sah der Sachverständige auf gezielte Nachfrage des Gerichts keine Anknüpfungspunkte für einen Zusammenhang mit der Beugefehlstellung des Knies. Daher schließt das Gericht eine Fehlbehandlung beim Bohren der Drähte aus.

Eine unzureichende Orthesenversorgung vermag das Gericht nicht zu erkennen. Der Sachverständige erläuterte, dass durch die Orthesenbehandlung die Beugefehlstellung des Knies letztlich korrigiert werden konnte. Das Gericht folgt diesen Ausführungen. Im Übrigen räumt die Klägerin selbst ein, dass die notwendigen Orthesen bzw. Orthesenänderungen durch den Beklagten 1) verschrieben worden sind. Ob dies auf Drängen der Mutter der Klägerin oder aus eigenem Antrieb des Beklagten 1) geschah, mag dahin stehen, denn jedenfalls erfolgte die Versorgung.

Es liegt auch kein Behandlungsfehler darin, dass die Verlängerung bei bestehender Beugefehlstellung des Kniegelenks durchgeführt wurde. Der Sachverständige sprach sich eindeutig dagegen aus, einen zweiten Ringfixateur wegen der damit verbundenen weiteren psychischen Belastungen der Klägerin anzulegen. Des Weiteren erläuterte der Sachverständige, dass bei ca. 50 % aller Patienten während der Verlängerungsphase Beugekontrakturen auftreten, diese aber folgenlos nach der Verlängerungsphase wieder beseitigt werden können. Das Gericht folgt diesen nachvollziehbaren Einschätzungen. Dem Beklagten 1) ist auch nicht vorzuwerfen, die Verlängerung nicht rechtzeitig abgebrochen zu haben. Der Beklagte 1) hat die Verlängerung engmaschig im 2-Wochen-Rhythmus kontrolliert. Sobald sich Verschlechterung im Knochenaufbau zeigten, hat er die Verlängerung eingeschränkt bzw. letztendlich am 28.01.2005 abgebrochen. Dies entspricht genau dem Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten, die der Sachverständige während der mündlichen Erläuterung als üblich beschrieb. Soweit der Sachverständige vorbrachte, im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, wenn die Verlängerung nicht durchgeführt worden wäre, folgt daraus kein Behandlungsfehler, da es sich um eine unzulässige ex post Betrachtung handelt. Ferner stellte der Sachverständige abschließend klar, dass das Vorgehen des Beklagten 1) in seiner Situation nicht behandlungsfehlerhaft war.

Das Gericht mag auch nicht zu erkennen, dass die Eltern der Klägerin nicht wirksam in die Behandlung wegen fehlender Aufklärung über das Risiko von Beugekontrakturen einwilligen konnten. Eine Aufklärung ist dann entbehrlich, wenn der Patient die Gefahren der Behandlung kennt (Plandt/Sprau, 2011, § 823 Rn. 156.) Das Risiko von Beugekontrakturen kannten die Eltern der Klägerin aus der Behandlung von Dr. …, bei der diese Komplikation ebenfalls auftrat. Im Übrigen waren die Eltern der Klägerin – wie die Arztberichte zeigen – lückenlos über den Behandlungsverlauf und die auftretenden Komplikationen unterrichtet. Von einem Verschweigen der Komplikationen kann daher keine Rede sein.

Im Hinblick auf die Anordnung der Physiotherapie bzw. Krankengymnastik ist dem Beklagten 1) ebenfalls kein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen anzulasten. Der Sachverständige berichtete unter gründlicher Würdigung der gegenteiligen Auffassung des Privatgutachters …, dass er gute Erfahrungen mit richtig angewandter Physiotherapie gemacht habe. Sie sei auch nach Rücksprache mit Dr. …, der nach Einschätzung des Sachverständigen als Weltspezilist auf dem Gebiet der Fibulaaplasie gilt, ein probates Mittel um Beugekontrakturen zu verhindern. Anhaltspunkte dafür, dass die Physiotherapie zu einer Schädigung des Knochens des Schienbeinkopfes geführt hat, hatte der Sachverständige keine. Soweit die Physiotherapie fehlerhaft gewesen sein mag, entzieht sich dies dem Einfluss des Beklagten 1) und kann ihm deswegen auch nicht als Behandlungsfehler angelastet werden.

Die Verplattung ist als nicht behandlungsfehlerhaft anzusehen. Sie konnte von Anfang an nicht nach den Prinzipien Ilizarovs durchgeführt werden, da zu den Wirkzeiten und im Wirkbereich Illizarovs die Behandlungsmethode gar nicht zur Verfügung stand, wie der Sachverständige überzeugend darlegte. Im Übrigen sind Verplattungen nach den Angaben des Sachverständigen jedenfalls nach zum Teil im medizinischen Schrifttum vertretener Auffassung ein geeignetes Mittel, um Verbiegungen des Knochens zu verhindern. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Behandlung medizinisch gut vertretbar und daher lege artis war.

Im Hinblick auf die Anordnung einer Schiene war auch nach Nachfrage durch das Gericht bei den Eltern der Klägerin nicht abschließend zu klären, ob es sich um eine Lagerungsschiene oder um eine Quengelschiene handelte. Das mag aber auch dahinstehen, da der Sachverständige selbst die Verwendung einer Quengelschiene zwar als problematisch, nicht aber als fehlerhaft ansah. Das Gericht hat keinen Anlass von dieser Einschätzung abzuweichen.

Insgesamt ist das Vorgehen des Beklagten 1) daher als lege artis zu beurteilen. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Klägerin über Jahre hinweg unter den negativen Folgen ihrer Behandlung erheblich zu leiden hatte. Letztendlich beruht dieser äußerst bedauernswerte Umstand aber nicht auf einem Fehlverhalten des Beklagten 1), sondern muss vielmehr als schicksalhaft bezeichnet werden.

Der Feststellungsantrag ist dementsprechend unbegründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S.1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1 u. 2 ZPO.

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