Medizinische Verantwortung: Krankenhaus-Haftungsfrage nach verbliebenem Bauchtuch im Patienten nach Chirurgie
In diesem faszinierenden und komplexen Fall behandelt das OLG Dresden die Frage, ob ein Krankenhaus für das Zurücklassen eines Bauchtuchs im Körper eines Patienten nach einer Bauchoperation haftbar gemacht werden kann. Dabei wird der rechtliche Knackpunkt vor allem durch die Diskussion um die sogenannte „Amtsermittlungspflicht“ im Arzthaftungsprozess und die „Darlegungs- und Substantiierungslast“ des Patienten geprägt. Letztlich liegt das Hauptproblem in der Frage, wer die Verantwortung für das im Körper verbliebene Bauchtuch trägt und ob das Krankenhaus seinen Sorgfaltspflichten ausreichend nachgekommen ist.
Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 4 U 352/20 >>>
Übersicht
Der Anscheinsbeweis und die Amtsermittlung
Der Patient behauptet, dass das Krankenhaus durch das Zurücklassen des Bauchtuchs seine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Dies, so argumentiert der Patient, ließe sich durch den sogenannten Anscheinsbeweis belegen: Da das Bauchtuch in seinem Körper gefunden wurde, müsse es bei der Operation vom 29.9.2017 dort vergessen worden sein. Darüber hinaus prangert der Patient an, dass die Ausführungen des Landgerichts nicht mit den in Arzthaftungsprozessen geltenden Grundsätzen der verstärkten Amtsermittlung und umfassenden Aufklärung des medizinischen Sachverhalts vereinbar seien.
Kontroll- und Selbstvergewisserungsfunktion des Krankenhauses
Ein weiterer Punkt, den der Patient kritisiert, ist die unzureichende Dokumentation durch das Krankenhauspersonal. So war die Bestätigung, dass alle chirurgischen Instrumente und Materialien nach der Operation gezählt wurden, lediglich eine pauschale Bestätigung ohne genaue Aufzählung der verwendeten und zurückgelegten Gegenstände. Dies, so argumentiert der Patient, untergrabe die Kontroll- und Selbstvergewisserungsfunktion des Krankenhauses, da eine solche Dokumentation nur dann ihrer Funktion gerecht werden kann, wenn sie die zu zählenden Gegenstände vor und nach der Operation ausführlich aufführt.
Notwendigkeit einer umfangreichen Beweisaufnahme
In diesem Fall steht die Notwendigkeit einer umfangreichen Beweisaufnahme im Vordergrund. Der Behandlungsfehlervorwurf des Patienten sollte durch Sachverständigengutachten zu verschiedenen medizinischen Sachgebieten und gegebenenfalls auch durch Befragungen der vom Krankenhaus benannten Zeugen untersucht werden. Sollte sich der Behandlungsfehlervorwurf bestätigen, wäre der nächste Schritt, Beweise für die vom Patienten behaupteten und vom Krankenhaus bestrittenen Folgen des Eingriffs sowie des Umfangs des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs zu erheben.
Schlussbetrachtung: Folgen und Kausalität
Im Rahmen dieser Beweisaufnahme wäre auch zu klären, ob und welche Folgen kausal auf den vermeintlichen Behandlungsfehler zurückzuführen sind. Dies beinhaltet auch die Frage, ob die gesundheitlichen Probleme des Patienten nicht vielmehr im Zusammenhang mit seiner Grunderkrankung stehen. Diese Debatte um Kausalität und die Auswirkungen des Verhaltens des Krankenhauses bildet den Abschluss dieser juristischen Auseinandersetzung und unterstreicht die Komplexität und Tragweite dieses Falles.
Das vorliegende Urteil
OLG Dresden – Az.: 4 U 352/20 – Urteil vom 07.07.2020
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 27.01.2020, Az. 7 O 1506/19, aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Leipzig zurückverwiesen, auch zur Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens.
II. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird auf bis zu 155.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld, Schadensersatz sowie die Feststellung der Einstandspflicht für materielle Vergangenheits- und Zukunftsschäden wegen behaupteter Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer Bauchoperation im September 2017.
Der damals 53-jährige Kläger, bei dem ein Adenokarzinom des Rektums festgestellt wurde, unterzog sich am 29.09.2017 im Hause der Beklagten einer Operation, bei der das Karzinom im Wege einer Rektosigmoidresektion entfernt wurde. Im Rahmen der sich anschließenden, ambulant durchgeführten adjuvanten Chemotherapie kam es zum Auftreten von Fieber, einem Harnwegsinfekt und einer Pneumonie, die eine erneute stationäre Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum vom 08. bis zum 14.12.2017 nach sich zog. Hierbei wurde eine Bauchsonografie durchgeführt, die einen weitgehend unauffälligen (Normal-) Befund erbrachte.
Nachdem der Kläger am 24.04.2018 wegen des Verdachts auf Darmverschluss im Bereich des colon descendens erneut bei der Beklagten aufgenommen wurde, erfolgte notfallmäßig eine Bauchoperation mit Stoma-Anlage. Nach einem am Folgetag durchgeführten CT und einer Endoskopie wurde ein 25 cm großes, zusammengepresstes grünes Bauchtuch in der Darmlichtung des colon sigmoideum aufgefunden, das am 26.04.2018 operativ aus dem Darm des Klägers entfernt wurde. Nach einer weiteren am 12.06.2018 erfolgten Operation zur Stoma-Rückverlegung stellten sich Komplikationen ein, die zu weiteren Behandlungen führten. Der künstliche Darmausgang ist noch vorhanden.
Der Kläger behauptet, das Bauchtuch sei bei der Darmkrebsoperation grob fehlerhaft in seinem Darm vergessen worden und habe zu dem Darmverschluss geführt. Dies werde durch ein MDK-Gutachten vom 23.01.2019 (Anlage K6) belegt.
Die Beklagte bestreitet, dass das aufgefundene Bauchtuch aus der Operation vom 29.09.2017 stammt. Eine durchgeführte Zählkontrolle sei vollständig erfolgt. Einer Haftung stehe ferner entgegen, dass die histologische Untersuchung des aufgefundenen Bauchtuchs durch den Pathologen ergeben habe, dass es weder Fibrinbelege noch Zellinfiltrationen aufweise, nur sehr gering mit Stuhl verschmutzt gewesen sei und daher nur sehr kurzen Kontakt mit dem menschlichen Körper gehabt haben könne. Ferner sei das Bauchtuch nicht – wie sonst bei Operationen im Hause der Beklagten üblich – mit einer Kocherklemme versehen gewesen. Bis zum 24.04.2018 hätten keinerlei Beschwerden beim Kläger vorgelegen. Wäre das Bauchtuch nach der Operation im September 2017 im Körper des Klägers verblieben, hätte dies eine schwerwiegende Störung der Darmpassage verursacht, die ein Überleben nach der Operation unmöglich gemacht hätte. Der Pathologe sei daher zu dem Schluss gekommen, dass der Fremdkörper nur via naturalis per anal in den Darm gelangt sein könne.
Das Landgericht hat die Klage nach Anhörung des Klägers abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die durchgeführte Zählkontrolle gegen ein Zurücklassen des Bauchtuchs anlässlich der Operation vom 29.09.2017 spreche. Selbst wenn man dies nicht so sehen würde, sei der zugunsten des Klägers streitende Anscheinsbeweis durch das Ergebnis der pathologischen Untersuchung widerlegt. Das MDK-Gutachten sei dagegen unergiebig.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er ist der Ansicht, die landgerichtlichen Ausführungen seien mit den bei Arzthaftungsprozessen zu beachtenden prozessualen Grundsätzen zu verstärkter Amtsermittlung und umfassender Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes nicht zu vereinbaren. Aus dem Umstand, dass ein Bauchtuch in seinem Körper gefunden worden sei, sei im Wege des Anscheinsbeweises zu folgern, dass dieses bei der Operation vom 29.9.2017 dort vergessen worden sei, dieser Anscheinsbeweis werde durch das Vorbringen der Beklagten nicht erschüttert. Die vom Landgericht angenommene „Selbstbeibringung“ sei unmöglich, nicht wahrscheinlich und erst recht nicht durch die Feststellungen des Pathologen nachgewiesen. Das Gericht hätte vor der Entscheidung jedenfalls Sachverständigenbeweis erheben müssen. Zudem habe sich das Landgericht nicht mit dem vorgelegten MDK-Gutachten auseinandergesetzt.
Er beantragt, Unter Abänderung des am 27.01.2020 verkündeten Urteils des Landgerichts Leipzig, Az: 7 O 1506/19 die Beklagte zu verurteilen,
1. ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes, angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, welches einen Betrag von EUR 75.000,00 nicht unterschreiten sollte nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 13.04.2019 an den Kläger zu zahlen,
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger EUR 17.581,56 nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 13.04.2019 zu zahlen.
3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren entstandenen und künftig noch entstehenden materiellen Schäden, welche aus der fehlerhaften Behandlung des Klägers in der Zeit vom 28.09.2017 bis zum 09.10.2017 entstanden sind, zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen sind,
4. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,6 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG aus einem Gegenstandswert von EUR 140.673,51 nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer, mithin einen Betrag von EUR 3.371,03, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit freizustellen.
sowie hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Leipzig zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung hat insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil auf Antrag des Klägers aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen war. Das Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler i.S.d. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, der eine aufwändige Beweiserhebung erfordert.
1. Das Landgericht hat mit Abweisung der Klage ohne vorherige Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen aus Sicht des Senats die in Arzthaftungssachen an die Klägerseite zu stellenden Anforderungen überspannt. Hierin liegt eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Weil das Gericht im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen an die Darlegungs- und Substantiierungslast des klagenden Patienten stellen darf, muss es – soweit die Patientenseite diesen maßvollen Anforderungen genügt – den Sachverhalt „von Amts wegen“ aufklären (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2019 – VI ZR 278/18 –, Rn. 7 – 9, juris; Urteil vom 19. Februar 2019 – VI ZR 505/17, juris Rn. 15; Urteile vom 14. März 2017 – VI ZR 605/15, VersR 2017, 822 Rn. 19; vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, NJW 2015, 1601 Rn. 19; vom 8. Juni 2004 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 252, 254). Mit der eingeschränkten primären Darlegungslast des Patienten geht zur Gewährleistung prozessualer Waffengleichheit zwischen den Parteien regelmäßig eine gesteigerte Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient darauf angewiesen ist, dass der Sachverhalt durch ein solches aufbereitet wird (vgl. BGH, a.a.O.; Urteil vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, NJW 1991, 1541, juris Rn. 9; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. E 6; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Rn. 270). Daher darf das Gericht den medizinischen Sorgfaltsmaßstab regelmäßig nicht ohne gutachterliche Beratung durch einen medizinischen Sachverständigen festlegen (vgl. Senat, Urteil vom 22.03.2016, 4 U 1396/15, m.w.N. – juris; BGH, VersR 2008, 1216; VersR 2002, 480; NJW 1995, S. 776; OLG Brandenburg, OLGR 2005, 489; Senat, Urteil vom 4.10.2012, 4 U 629/12; Urteil vom 23.04.2010, 4 U 1704/09).
b) Nach diesen Grundsätzen verletzt die Klageabweisung durch das Landgericht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Indem der Kläger unter Bezugnahme auf die Behandlungsunterlagen der Beklagten und das von ihm vorgelegte MDK-Gutachten vom 23.01.2019 behauptet hat, das bei der Operation am 26.04.2018 aufgefundene und entfernte Bauchtuch sei bei der früher im Haus der Beklagten durchgeführten Operation vom 29.09.2017 im Bauchraum verblieben, hat er alle Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruches infolge behandlungsfehlerhaften Vorgehens vorgetragen.
c) Darüber hinaus streitet für die Annahme eines Behandlungsfehlers entgegen den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil bereits der Beweis des ersten Anscheins zugunsten des Klägers. Hierfür spricht, dass zu einem späteren Zeitpunkt, aber in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit der am 29.09.2017 durchgeführten Rektosigmoidresektion und zudem im Bereich des Darmes als demselben Operationsgebiet ein grünes Bauchtuch aufgefunden wurde, das offenbar aus einer operativen Intervention stammt.
Die daher im Wege des Anscheinsbeweises (vgl. insoweit auch OLG Köln, Urteil vom 13. Dezember 1989 – 27 U 2/89 –, Rn. 20 – 23, juris) zu folgernde Annahme, dass das Bauchtuch nach der am 29.09.2017 durchgeführten Operation im Bauchraum verblieben ist, wird entgegen der Würdigung durch das Landgericht nicht bereits durch den von der Beklagten vorgelegten Pathologiebericht (Anlage K4) über die histologische Untersuchung des aufgefundenen Bauchtuches widerlegt, der eine peranale Einbringung durch den Kläger nahelegt. Denn der Pathologiebericht geht offensichtlich von der Annahme aus, dass das Bauchtuch, wenn es bei der Operation übersehen worden wäre, nur aus dem Bauchraum heraus in die Darmlichtung eingewandert sein könnte, was aber aufgrund von fehlenden Zellanhaftungen hier auszuschließen sei. Dieser Annahme, bei der es sich lediglich um substantiierten Parteivortrag der Beklagten handelt, ist der Kläger indes mit der Behauptung entgegengetreten, bei einer Rektosigmoidresektion sei es üblich, auch in der Darmlichtung Darmtücher zu verwenden, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dabei eine Anastomose zu erfolgen hat, bei der der Darm eröffnet wird. Über diese Behauptung, die wohl stillschweigend auch in dem vom Kläger vorgelegten MDK-Gutachten vorausgesetzt wird, hätte sich das Landgericht nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens hinwegsetzen können, die diesen Anscheinsbeweis entkräftet. Eine solche Beweisaufnahme hätte sich auch auf die Frage zu erstrecken, ob es überhaupt möglich ist, sich ein solches Bauchtuch bis zu der Höhe, in der es hier nach dem MDK-Gutachten lokalisiert wurde, selbst einzuführen. Bei der dort festgehaltenen Höhe von 25cm abanal liegt dies für den Senat zumindest nicht auf der Hand, erscheint vielmehr eher fernliegend. Gegen eine Selbstbeibringung durch den Kläger spricht aber ohnehin, dass ein solches Verhalten in erheblichem Maße selbstschädigend wäre und für eine Schadensersatzneurose des Klägers hier weder etwas vorgetragen noch aus den Behandlungsunterlagen ersichtlich ist. Woher der Kläger sich den Besitz eines solchen chirurgischen Bauchtuches verschafft haben sollte, das im herkömmlichen Einzelhandel nicht erhältlich ist, zeigt die Beklagte überdies nicht auf.
b) Es ist daher zur Frage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit das spätere Auffinden des Tuches im Zusammenhang mit der Operation vom 29.09.2017 steht und ob das Bauchtuch infolge der Operation im Körper des Klägers zurückgelassen wurde, Beweis durch Sachverständigengutachten zu erheben. Der Sachverständige hat sich dabei mit den Einwänden der Parteien auseinanderzusetzen. Dazu gehört unter anderem die Auseinandersetzung mit dem Pathologiebericht einschließlich der eigenen Untersuchung des Bauchtuches, der Erörterung der medizinischen Möglichkeit eines Verbleibs über eine Dauer von mehreren Monaten nach der OP vom 29.09.2017 und des Einwanderns in das Colon einschließlich des Beschwerdeverlaufs, der Untersuchungsbefunde vor und im Zusammenhang mit dem Bergen des Tuches und dem Auftreten von Beschwerden und der Frage, ob die Verwendung eines Bauchtuches im Darm bei einer Rektosigmoidresektion üblich ist, sowie ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit das spätere Auffinden des Tuches im Zusammenhang mit der früheren Operation steht oder ob dies wegen der konkreten Situation nicht wahrscheinlich ist.
2. Falls sich erweisen sollte, dass das Bauchtuch bei der Operation am 29.09.2017 eingebracht wurde, wird das Landgericht weiterhin zu klären haben, ob sich das versehentliche Zurücklassen als ein – gegebenenfalls auch grober – Behandlungsfehler darstellt.
a) Das unbemerkte Zurücklassen eines Fremdkörpers im Operationsgebiet wird dem voll beherrschbaren Bereich des Arztes bzw. der Klinik zugeordnet mit der Folge, dass der Krankenhausträger bzw. die Ärzte die Darlegungs- und Beweislast für die Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung tragen (vgl. BGH vom 27.01.1981, VI ZR 138/79 – VersR 1981, 462; BGH vom 18.12.1990, VI ZR 169/90; OLG München, Urteil vom 22. August 2013 – 1 U 3971/12 –, Rn. 43, juris; OLG Zweibrücken, Urteil vom 16. September 2008 – 5 U 3/07 –, Rn. 37 – 38, juris ). Das gilt jedenfalls dann, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die üblichen und notwendigen organisatorischen und technischen Vorkehrungen ergriffen worden sind, um das Risiko zu vermeiden (so schon BGH AHRS 2345/6 S.7, BGH AHRS 2345/8, BGH AHRS, 2345/20, OLG Köln, Urteil vom 13. Dezember 1989 – 27 U 2/89 –, Rn. 20 – 23, juris; OLG Düsseldorf, AHRS, 2345/22). Allerdings hängt es von den Besonderheiten des einzelnen Falles ab, ob den operierenden Ärzten ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass sie im Operationsgebiet einen Fremdkörper zurückgelassen haben. Jedenfalls müssen sie aber alle möglichen und zumutbaren Sicherungsvorkehrungen treffen, wozu Kennzeichnung oder eine Markierung, Zählen der verwendeten Materialien und andere mögliche Sicherheitsvorkehrungen gehören können. Im Einzelfall kann in der Außerachtlassung solcher gebotenen Maßnahmen auch ein grober Behandlungsfehler liegen (so BGH, Urteil vom 27. Januar 1981 – VI ZR 138/79 –, Rn. 11, m.w.N., juris; vgl. auch OLG München, a.a.O.). Maßgeblich sind die Gesamtumstände des Einzelfalles. Welche Vorkehrungen im vorliegenden Fall zu treffen waren, ist zwischen den Parteien streitig und wäre ggfs. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen zu klären.
b) Die Beklagte ist unabhängig hiervon der ihr in diesem Zusammenhang obliegenden Dokumentationspflicht nicht ausreichend nachgekommen. Die Zählkontrolle von Bauchtüchern vor und nach einer Operation und deren Dokumentation ist Ausfluss und Erfüllung einer aus medizinischen Gründen bestehen Dokumentationspflicht, die gerade auch bewirken soll, dass eine Kontrolle tatsächlich stattfindet und ein Verbleib von Operationsmaterial von vornherein verhindert wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 18. Januar 2013 – 26 U 30/12 –, Rn. 29, juris). Dieser Kontroll- und Selbstvergewisserungsfunktion kann die Dokumentation jedoch nur genügen, wenn sie sich nicht auf eine pauschale Kurzbestätigung beschränkt, sondern die einzelnen zu zählenden Gegenstände vor und nach der Operation zahlenmäßig aufführt und die Übereinstimmung beider Zahlenwerte bestätigt. Vorliegend hat indes das Operationspersonal in dem digital geführten Operationsbericht auch nach der Behauptung der Beklagten unter „Zählkontrolle“ bei „Ja“ lediglich ein Kreuz gesetzt. Da aber bereits nicht ersichtlich ist, welche Materialien in welcher Anzahl bei der OP verwendet worden, deren Vorhandensein im Einzelnen bei Abschluss der OP mittels Zählen bestätigt werden soll, wird so nur das „ob“, nicht aber das – positive – Ergebnis der durchgeführten Zählkontrolle dokumentiert. Der somit bestehende Dokumentationsmangel indiziert, dass die gebotene Maßnahme unterblieben ist.
c) Dass überhaupt eine Zählkontrolle durchgeführt wurde, ist als alleinige Sicherungsmaßnahme gegen das unbemerkte Zurücklassen von Materialien unzureichend. Der in diesem Zusammenhang von der Beklagten behaupteten standardmäßigen Verwendung von Kocherklemmen bei Bauchtüchern wird vom Landgericht gegebenenfalls im Rahmen der Beweisaufnahme nachzugehen sein.
3. Das ohne die gebotene Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ergangene Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfahrensfehler. Der Senat macht in dieser Situation von seinem Ermessen gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO Gebrauch, die Sache unter Aufhebung des Verfahrens an das Landgericht zurückzuverweisen. Nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO darf allerdings die Zurückverweisung wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers nur erfolgen, wenn aufgrund des Fehlers eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Dafür genügt bereits nach dem Wortsinn dieser Formulierung nicht, dass die Beweisaufnahme im weiteren Verlauf des Verfahrens nur möglich (BGH, Urteil vom 14.05.2013 – II ZR 76/12 Rn. 11 – juris) oder dass ihre Notwendigkeit nicht abzuschätzen ist (BGH, Versäumnisurteil vom 01.02.2010 – II ZR 209/08 Rn. 16). Notwendig i.S.v. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO ist eine Beweisaufnahme auch nicht bereits dann, wenn sie zwar unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich wird, der Eintritt dieser Voraussetzungen aber nicht sicher ist. Vorliegend ist von der Notwendigkeit einer umfangreichen Beweisaufnahme in diesem Sinne auszugehen.
a) Dem Behandlungsfehlervorwurf des Klägers ist durch Einholung eines oder auch mehrerer Sachverständigengutachten zu unterschiedlichen medizinischen Sachgebieten und gegebenenfalls auch durch Einvernahme der von der Beklagten zum Operationsablauf sowie der weiteren nachfolgenden Untersuchungen benannten Zeugen nachzugehen. Sollte sich der Behandlungsfehlervorwurf bestätigen, ist über die vom Kläger behaupteten und von der Beklagten bestrittenen Folgen des Eingriffs einschließlich des Umfangs des geltend gemachten Schadensersatzanspruches Beweis zu erheben. Hierbei ist auch mittels Sachverständigengutachtens abzuklären, ob und gegebenenfalls welche Folgen kausal auf den Behandlungsfehler zurückzuführen sind oder nicht vielmehr im Zusammenhang mit der Grunderkrankung des Klägers stehen. Ferner wird der geltend gemachte und von der Beklagten bestrittene Haushaltsführungsschaden nach Grund und Höhe durch Beweisaufnahme abzuklären sein.
b) Dies rechtfertigt in der Gesamtabwägung auch mit Blick auf die Mängel des Verfahrens erster Instanz eine Aufhebung und Zurückverweisung. Im Rahmen der erforderlichen Ermessensausübung hat der Senat schließlich berücksichtigt, dass ein „Heraufziehen“ des Rechtsstreits für beide Parteien den Verlust einer Instanz nach sich zöge (Senat, Urteil vom 27. Juni 2017 – 4 U 1772/16 –, Rn. 41, juris). Da die Klage erst seit dem 12.07.2019 anhängig ist, erscheint die durch die Aufhebung und Zurückverweisung eintretende Verzögerung demgegenüber hinnehmbar.
III.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Landgerichts vorbehalten. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10 ZPO. Hiernach war das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären, weil erst die Vorlage eines für vorläufig vollstreckbaren Urteils das Vollstreckungsorgan nach §§ 775, 776 ZPO nötigt, eine eingeleitete Vollstreckung aus dem aufgehobenen Urteil einzustellen (Senat, Urteil vom 09. Oktober 2018 – 4 U 448/18 –, Rn. 26, juris; Urteil vom 14. Februar 2017 – 4 U 1256/16 -, Rn. 34, juris; OLG München, NZM 2002, 1032; vgl. auch OLG Oldenburg, Urteil vom 04.09.2018 – 2 U 58/18 – juris Tz. 61 m.w.N). Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Festsetzung des Streitwertes folgt § 3 ZPO.