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Behandlungsfehler und Fahrlässigkeit bei seltener Behandlungssituation

GROBER BEHANDLUNGSFEHLER FÜHRT ZU SCHMERZENSGELD UND BEERDIGUNGSKOSTEN

Das Landgericht Flensburg hat in seinem Urteil vom 08.10.2021 (Az.: 3 O 188/18) die Beklagten zu einem Schadensersatz in Höhe von 8.720,84 € nebst Zinsen an den Kläger für Beerdigungskosten verurteilt. Die Klage auf Schmerzensgeld und weiteren materiellen Schadensersatz wurde teilweise als dem Grunde nach gerechtfertigt angesehen, während andere Teile der Klage abgewiesen wurden. Das Gericht stellte fest, dass ein Behandlungsfehler vorlag, da trotz der Diagnose einer Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere riskante medizinische Eingriffe vorgenommen wurden, die als grob fahrlässig eingestuft wurden. Dieser Fehler war geeignet, den tödlichen Ausgang herbeizuführen, jedoch konnte ein direkter Kausalzusammenhang zwischen dem Fehler und dem Tod der Patientin nicht abschließend bewiesen werden, was zu einer Beweislastumkehr führte.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 3 O 188/18 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  • Das Gericht erkannte einen groben Behandlungsfehler durch weitere Aufnahmen der linken Koronararterie und intrakoronare Medikamentengabe nach Diagnose einer Dissektion.
  • Beweislastumkehr zu Gunsten der Kläger wegen des groben Behandlungsfehlers, ohne direkten Kausalzusammenhang abschließend beweisen zu müssen.
  • Schadensersatz für Beerdigungskosten wurde zugesprochen, während Schmerzensgeldansprüche abgelehnt wurden, da keine über das übliche Maß hinausgehenden Schmerzen der Patientin festgestellt werden konnten.
  • Feststellung, dass in einer seltenen Behandlungssituation, in der kein allgemeiner medizinischer Standard existiert, dennoch Sorgfaltspflichten bestehen.
  • Der Tod der Patientin trat ein, ohne dass ein direkter Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Todeseintritt nachgewiesen werden konnte.
  • Die Kläger wurden psychisch stark beeinträchtigt, jedoch wurden diese Beeinträchtigungen nicht als eigene Gesundheitsverletzung anerkannt.
  • Die Entscheidung über weitere Unterhaltsansprüche wurde aufgrund unklarer zukünftiger Einkommensverhältnisse der Verstorbenen offen gelassen.
  • Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten, und das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung.

Arzthaftungsrecht bei seltenen Behandlungsfällen

Im Bereich des Arzthaftungsrechts stellen seltene Behandlungsfälle besondere Herausforderungen dar. Die Unterscheidung zwischen Behandlungsfehlern und Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung der Verantwortlichkeit. Medizinische Sachverständigengutachten spielen eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der Grobheit des Fehlers und der damit verbundenen Fahrlässigkeit. Die Rechtsprechung betont, dass eine klare Abgrenzung vorgenommen werden muss, da die Darlegungs- und Beweislast für Behandlungsfehler und Fahrlässigkeit bei seltenen Behandlungssituationen bei den Beteiligten liegt.

Die rechtlichen Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht variieren je nach Seltenheit und Komplexität der Behandlung. In solchen Fällen wird von Ärzten erwartet, dass sie über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und sich an etablierte medizinische Standards halten. Allerdings bleibt die Beurteilung der Grobheit von Behandlungsfehlern und fahrlässigen Verhaltensweisen eine komplexe Aufgabe, die eine sorgfältige Abwägung der Umstände des Einzelfalls erfordert.

Wenn Sie Fragen zu Arzthaftungsrecht bei seltenen Behandlungsfällen haben, zögern Sie nicht und fordern Sie noch heute unsere unverbindliche Ersteinschätzung an.

In einem tragischen Fall, der vor dem Landgericht Flensburg verhandelt wurde, standen schwere Vorwürfe im Raum: Ein gravierender Behandlungsfehler und Fahrlässigkeit in einer seltenen medizinischen Notfallsituation. Das Urteil vom 08.10.2021 unter dem Aktenzeichen 3 O 188/18 beleuchtet die düstere Seite medizinischer Eingriffe, bei denen der Ausgang lebensbedrohlich und fatal sein kann.

Eine Notfallbehandlung mit fatalen Folgen

Die Ereignisse begannen an einem Abend im August 2016, als eine Patientin über starke Brustschmerzen und Unwohlsein klagte. Ihr Ehemann brachte sie daraufhin in die Zentrale Notaufnahme eines Klinikums. Die Symptome wiesen auf einen akuten Herzinfarkt hin, woraufhin eine Koronarangiographie – eine Untersuchung der Herzkranzgefäße – durchgeführt wurde. Während dieser Untersuchung kam es zu einer Dissektion, also einer Aufspaltung der Wandschichten eines Hauptstammes der linken Koronararterie. Trotz dieser Diagnose führte der behandelnde Arzt weitere Aufnahmen durch und administrierte zusätzlich ein blutverdünnendes Medikament direkt ins Herz, was die Situation der Patientin weiter verschlechterte.

Tragödie im Operationssaal und der Kampf um Gerechtigkeit

Nachdem die Patientin einen kritischen Zustand erreichte, wurde sie für eine Notfall-Bypass-Operation in ein anderes Krankenhaus verlegt. Trotz intensiver Bemühungen verstarb sie dort aufgrund eines fulminanten Herzinfarkts in Verbindung mit einem massiven Blutverlust. Die Familie der Verstorbenen, bestehend aus ihrem Ehemann und drei Kindern, erhob daraufhin Klage gegen das Klinikum und den behandelnden Arzt auf Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz, darunter Beerdigungskosten und entgangenen Unterhalt.

Juristische Aufarbeitung eines medizinischen Dramas

Die rechtliche Aufarbeitung dieses Falles war komplex, da es um die Beurteilung eines möglichen Behandlungsfehlers in einer seltenen und akuten medizinischen Situation ging. Sowohl das Gericht als auch die herangezogenen medizinischen Sachverständigen standen vor der Herausforderung, die Angemessenheit und Sorgfalt der durchgeführten medizinischen Maßnahmen zu bewerten. Der Kern des juristischen Streits drehte sich um die Frage, ob die Entscheidungen und Handlungen des behandelnden Arztes unter den gegebenen Umständen als fahrlässig zu bewerten waren und ob diese direkt zum Tod der Patientin führten.

Entscheidung des Gerichts: Eine Frage der Beweislast

Das Landgericht Flensburg entschied, dass der behandelnde Arzt und das Klinikum einen schwerwiegenden Behandlungsfehler begangen hatten. Insbesondere wurde kritisiert, dass trotz der frühzeitigen Erkennung einer Dissektion weitere riskante Maßnahmen ergriffen wurden, die die Situation der Patientin verschlimmerten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Fehler grundsätzlich geeignet war, den Tod der Patientin zu verursachen. Aufgrund der Schwere des Fehlers kam es zu einer Umkehr der Beweislast zuungunsten der Beklagten. Das Urteil sprach dem Kläger zu 1, dem Ehemann der Verstorbenen, Beerdigungskosten in Höhe von 8.720,84 € zu. Hinsichtlich weiterer materieller Schäden und Schmerzensgeldansprüche wurde die Klage dem Grunde nach gerechtfertigt, jedoch in Teilen abgewiesen, da der Patientin selbst kein Schmerzensgeldanspruch entstand, der auf die Kläger übergehen konnte.

Fazit: Ein schmerzlicher Verlust und juristische Konsequenzen

Dieser Fall unterstreicht die Bedeutung sorgfältigen Handelns in der Medizin, insbesondere in kritischen und seltenen Notfallsituationen. Er zeigt auf tragische Weise, wie schnell medizinische Eingriffe zu irreparablen Schäden führen können, wenn nicht mit äußerster Vorsicht und nach medizinischen Standards vorgegangen wird. Das Urteil verdeutlicht zudem die rechtlichen Rahmenbedingungen, die im Falle von Behandlungsfehlern zum Tragen kommen, und betont die Verantwortung medizinischer Fachkräfte für ihre Entscheidungen und Handlungen.

✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt

Wie wird ein grober Behandlungsfehler im deutschen Recht definiert und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Arzt eindeutig gegen grundsätzliche, bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstößt. Dieser Fehler muss aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich erscheinen, weil ein solcher Fehler einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Mehrere Einzelfehler, die für sich genommen nicht besonders schwer wiegen, können in der Gesamtwürdigung ebenfalls einen groben Behandlungsfehler begründen.

Zivilrechtliche Konsequenzen

Das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers führt gemäß § 630h Abs. 5 BGB zu einer Beweislastumkehr. In diesem Fall muss der Arzt beweisen, dass der grobe Behandlungsfehler nicht ursächlich für den Schaden beim Patienten war. Der Patient hat Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, wenn der Behandlungsfehler zu einer gesundheitlichen Schädigung führt.

Strafrechtliche Konsequenzen

Ein grober Behandlungsfehler kann auch strafrechtlich relevant sein. Je nachdem, ob der Behandlungsfehler dem Arzt vorsätzlich oder nur fahrlässig unterlaufen ist, kommen Verurteilungen wegen vorsätzlicher Delikte, insbesondere wegen Körperverletzung in Betracht. Folgen können Geld- oder Freiheitsstrafe sein, auch auf Bewährung, und ein Berufsverbot.

Berufsrechtliche Konsequenzen

Je nach Schwere oder Häufigkeit von Behandlungsfehlern drohen dem Arzt standes- oder berufsrechtliche Konsequenzen wie das Ruhen, der vollständige oder teilweise Entzug der Zulassung als Vertragsarzt oder der Entzug der Approbation.

Arbeitsrechtliche Konsequenzen

Arbeitsrechtlich können Behandlungsfehler eine Abmahnung oder Kündigung nach sich ziehen.

Versicherungsrechtliche Aspekte

Es ist wichtig, dass Ärzte abklären, wie umfassend sie über ihren Arbeitgeber versichert sind, insbesondere ob grobe Fahrlässigkeit mitversichert ist und ob generell auf einen Regress bei möglicher Fahrlässigkeit verzichtet wird.

Prozessuale Aspekte

Im Arzthaftungsprozess liegt die Beweislast für die Pflichtverletzung, also den Behandlungsfehler sowie für den Schaden und dessen Ursächlichkeit beim Patienten. Bei einem groben Behandlungsfehler kehrt sich die Beweislast jedoch um, und der Arzt muss beweisen, dass der Fehler nicht ursächlich für den Schaden war.

Unterstützung durch Krankenkassen

Patienten können bei einem Verdacht auf einen Behandlungsfehler Unterstützung durch ihre Krankenkasse erhalten, die ein Gutachten des Medizinischen Dienstes in Auftrag geben kann.

Die Konsequenzen eines groben Behandlungsfehlers sind somit vielfältig und können zivilrechtliche, strafrechtliche, berufsrechtliche und arbeitsrechtliche Folgen nach sich ziehen, wobei die Beweislastumkehr eine zentrale Rolle im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung spielt.


Das vorliegende Urteil

LG Flensburg – Az.: 3 O 188/18 – Urteil vom 08.10.2021

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger zu 1. 8.720,84 € nebst Zinsen hierauf in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.06.2017 zu zahlen.

Hinsichtlich des darüber hinaus geltend gemachten materiellen Schadensersatzes ist die Klage dem Grunde nach gerechtfertigt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Kläger begehren Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wegen einer vermeintlich fehlerhaft durchgeführten ärztlichen Behandlung der Frau B S H, Ehefrau des Klägers zu 1. und Mutter der Kläger zu 2. – 4. (nachfolgend: die Patientin) in der Klinik der Beklagten zu 1. durch den Beklagten zu 2. Die Kläger sind die Erben der Patientin.

Die Patientin klagte am 14.08.2016 gegen 20:20 Uhr über Unwohlsein und Stiche in der linken Brust, woraufhin sie der Kläger zu 1. in die Zentrale Notaufnahme des Klinikums der Beklagten zu 1. brachte. Bei Ankunft gegen 20:38 Uhr klagte die Patientin über seit 30 – 60 Minuten anhaltende akute Thoraxschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm und über bereits seit einer Woche auftretende belastungsabhängige Schmerzen. Ärzte der Beklagten zu 1. veranlassten zunächst eine klinische Untersuchung mit folgendem Ergebnis: Blutdruck 100/80 mmHg, Puls 60/min, Atemfrequenz 18/min, Temp. 36 C°. In der pflegerischen Dokumentation sind zudem ein sehr starkes subjektives Schmerzempfinden von 8/10 laut der visuellen Analogskala, starke Übelkeit und eine reduzierte periphere Rekapillarisierungszeit festgehalten. Ein durchgeführtes EKG zeigte einen Sinusrhythmus mit einer Frequenz von 62/min mit einer diskreten ST-Streckenhebung in der Ableitung aVL und diskreten ST-Streckensenkung in der Abteilung II, III, aVF mit präterminal negativen T-Wellen in III und aVF. Die Patientin erhielt noch in der Zentralen Notaufnahme intravenös 5.000 Einheiten Heparin und 500mg Aspirin zur Blutverdünnung. Zudem wurde ihr Morphin in unbekannter Menge verabreicht. Mit der Verdachtsdiagnose eines ST-Hebungsinfarkts wurde für die Patientin gegen 20:45 Uhr eine Notfall-Koronarangiographie veranlasst. Diese wurde durch den Beklagten zu 2. durchgeführt.

Gegen 21:11 Uhr begann die Koronarangiographie mit der ersten von insgesamt sechs Aufnahmen des Hauptstamms der linken Koronararterie. Die jeweilige Bildgebung erfolgte mithilfe eines durch einen Katheter injizierten Kontrastmittels. Nach dem Vortrag der Beklagten bereits bei der ersten, nach dem Vortrag der Kläger spätestens bei der zweiten Anlotung zeigte sich eine Dissektion des Hauptstammes der linken Koronararterie. Der Beklagte zu 2. führte dennoch weitere 4 Aufnahmen der linken Koronararterie durch und verabreichte intrakoronar einen Einzelbolus Aggrastat. Im Anschluss stellte er durch zwei Aufnahmen den Hauptstamm der rechten Koronararterie dar, der sich unauffällig zeigte. Bei der Darstellung der rechten Koronararterie trat erstmals ein Kammerflimmern auf, welches durch eine einmalige Defibrillation durchbrochen werden konnte. Gegen 21:20 Uhr begann ein durchgehendes Kammerflimmern, es kam zum totalen Zusammenbruch des Herzkreislaufsystems. Unter Hinzuziehung des Reanimationsteams wurde die Patientin intubiert und unter Gabe von Suprarenin 1mg / 3 min sowie Cordarex 300 mg bei azidotischen Blutgasverhältnissen, Puffung mit 100 ml NABi, reanimiert. Zur Reanimation wurde das Reanimationsgerät LUCAS eingesetzt. Unter Reanimationsbedingungen versuchte der Beklagte zu 2. erfolglos, die linke Koronararterie mittels Führungskatheters zu sondieren.

Das zu diesem Zeitpunkt um Übernahme der Patientin für eine Notfall-Bypass-Operation gebetene Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Campus Kiel – (nachfolgend: UKSH) sagte die Übernahme zu, woraufhin der Transport der Patientin mittels Rettungshubschraubers vorbereitet wurde. Der Beklagte zu 2. verabreichte der Patientin vor Transportbeginn 50mg Actilyse zur Notfalllyse. Weiter unter Einsatz des LUCAS begann gegen 22:30 Uhr der Lufttransport der Patientin.

Gegen 23:00 Uhr traf die Patientin unter unveränderten Reanimationsbedingungen in der Herzchirurgie des UKSH ein. Dort wurde die Patientin mit einem Extracorporeal-Life-Support-System (nachfolgend: ECLS) versorgt und in den Operationssaal gebracht. Nach Öffnung des Brustkorbs zeigte sich eine diffuse Blutungsneigung sowie ein rasch zunehmendes abdominelles Kompartmentsyndrom. Trotz der Versorgung mittels zweier venöser Bypässe auf der Vorderwand- und Seitenwandarterie brach der Kreislauf des ECLS-Systems aufgrund des fehlenden venösen Rückstroms zusammen. Die Patientin verstarb am 15.08.2016 gegen 03:50 Uhr.

Auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Kiel wurde die Patientin am 19.08.2016 obduziert. Im Gutachten des Institutes für Rechtsmedizin des UKSH wurde die Dissektion des linken Herzkranzgefäßhauptstammes festgestellt. Folge sei eine Sauerstoffmangelversorgung großer Teile des Herzens mit daraus resultierendem fulminanten Herzinfarkt gewesen. Zudem sei es zu einem höhergradigen Blutverlust in die Bauchhöhle als Folge einer Verletzung der Leber bei der Reanimation gekommen, welcher den Todeseintritt begünstigt haben könne. Als Todesursache sei ein fulminanter Herzinfarkt mit begleitenden Blutverlust festzustellen. Nicht mit der erforderlichen Sicherheit belegbar sei, dass der Tod ohne die Blutung nicht zum gleichen Zeitpunkt eingetreten wäre. Hinsichtlich des weiteren Inhalts wird auf Seite 17 des Gutachtens des Institutes für Rechtsmedizin (Blatt 33 der Akte) Bezug genommen.

Die Kläger werfen den Ärzten der Beklagten zu 1. und dem Beklagten zu 2. mehrere Behandlungsfehler vor:

Sie rügen, es habe zum Zeitpunkt der EKG-Aufnahme noch kein manifester Herzinfarkt vorgelegen, vielmehr sei die später diagnostizierte Dissektion des Hauptstammes behandlungsfehlerhaft erst durch die angiographische Untersuchung selbst hervorgerufen, mindestens deutlich verstärkt worden. Erst aufgrund der Dissektion seien die Reanimationsmaßnahmen notwendig geworden, bei denen es zu sechs Rippenfrakturen gekommen sei, was auf eine deutlich übertriebene Krafteinwirkung, eine fehlerhafte Reanimation, deute. Einige der gebrochenen Rippen hätten in der Folge eine schwere Leberverletzung hervorgerufen, an der die Patienten letztlich verstorben sei, wobei die massive Gabe von blutverdünnenden Medikamenten zu der Blutungsneigung beigetragen habe. Zudem sei die Verlegung in das UKSH zu spät erfolgt, sie hätte bereits zum Zeitpunkt der Koronarangiographie erfolgen müssen.

Die Kläger behaupten weiter, die „Herzproblematik“ sei bei einer Frau dieses Alters ohne Vorschädigung und ohne akute Belastung des Herzkreislaufsystems beherrschbar gewesen, so dass die Patientin ohne Schädigung der Leber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt hätte. Die Patientin habe nicht nur ihr Leben eingebüßt, sondern in den letzten Lebensstunden Qualvolles erlebt. Die Kläger selbst seien durch das katastrophale Ereignis naturgemäß psychisch geschädigt.

Mit der Klage begehren die Kläger die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds von mindestens 20.000,00 € aus eigenem Recht und aus übergegangenem Recht der Patientin, weiterhin den Ersatz von materiellen Schäden in Form der Beerdigungskosten der Patientin iHv. 8.720,84 € und entgangenen Unterhalts. Den Unterhaltsansprüchen sei ein zu erwartendes Gehalt der Patientin zugrunde zu legen, welches sich für ein am 01.07.2017 beginnendes, zukünftiges Anstellungsverhältnisses errechne; insoweit wird auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 12.07.2018 (Blatt 10 ff. der Akte) Bezug genommen.

Die Kläger beantragen letztlich,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Kläger – soweit es ererbte Schmerzensgeldansprüche der Patientin betrifft als Gesamtgläubiger – ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, welches in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch in Höhe von 20.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2017;

2. a) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu Ziffer 1) eine monatliche Geldrente in Höhe von 152,02 €, beginnend am 01.07.2018, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07, und 01.10. eines jeden Jahres, bis Dezember 2038 zu bezahlen;

b) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu Ziffer 1) 3.344,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 608,08 € seit dem 31.12.2016, auf einen Betrag in Höhe von 1.824,24 € seit dem 31.12.2017 und auf einen Betrag in Höhe von 912,12 € seit dem 30.06.2018 zu bezahlen;

c) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 1) jeden weiteren, über die Anträge zu a) und b) hinausgehenden Unterhaltsschaden, welcher diesem aus der fehlerhaften Behandlung von Frau B S H, geb. …1975, verst. 15.08.2016, während der stationären Behandlung am 14./15.08.2016 im Haus der Beklagten zu 1) entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden (sic);

3. a) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu Ziffer 2) eine monatliche Geldrente in Höhe von 357,89 €, beginnend am 01.07.2018, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07, und 01.10. eines jeden Jahres, bis 11.10.2023 zu bezahlen;

b) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu Ziffer 2) 7.873,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 1.431,56 € seit dem 31.12.2016, auf einen Betrag in Höhe von 4.294,68 € seit dem 31.12.2017 und auf einen Betrag in Höhe von 2.147,34 € seit dem 30.06.2018 zu bezahlen;

c) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 2) jeden weiteren, über die Anträge zu a) und b) hinausgehenden Unterhaltsschaden, welcher dieser aus der fehlerhaften Behandlung von Frau B S H, geb. …1975, verst. 15.08.2016, während der stationären Behandlung am 14./15.08.2016 im Haus der Beklagten zu 1) entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden (sic);

4. a) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu Ziffer 3) eine monatliche Geldrente in Höhe von 357,89 €, beginnend am 01.07.2018, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07, und 01.10. eines jeden Jahres, bis 23.08.2020 zu bezahlen;

b) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu Ziffer 3) 7.873,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 1.431,56 € seit dem 31.12.2016, auf einen Betrag in Höhe von 4.294,68 € seit dem 31.12.2017 und auf einen Betrag in Höhe von 2.147,34 € seit dem 30.06.2018 zu bezahlen;

c) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 3) jeden weiteren, über die Anträge zu a) und b) hinausgehenden Unterhaltsschaden, welcher dieser aus der fehlerhaften Behandlung von Frau B S H, geb. …1975, verst. 15.08.2016, während der stationären Behandlung am 14./15.08.2016 im Haus der Beklagten zu 1) entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden (sic);

5. a) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu Ziffer 4) eine monatliche Geldrente in Höhe von 357,89 €, beginnend am 01.07.2018, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07, und 01.10. eines jeden Jahres, bis 07.05.2028 zu bezahlen;

b) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu Ziffer 4) 7.873,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 1.431,56 € seit dem 31.12.2016, auf einen Betrag in Höhe von 4.294,68 € seit dem 31.12.2017 und auf einen Betrag in Höhe von 2.147,34 € seit dem 30.06.2018 zu bezahlen;

c) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 4) jeden weiteren, über die Anträge zu a) und b) hinausgehenden Unterhaltsschaden, welcher dieser aus der fehlerhaften Behandlung von Frau B S H, geb. …1975, verst. 15.08.2016, während der stationären Behandlung am 14./15.08.2016 im Haus der Beklagten zu 1) entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden (sic);

6. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu 1. einen Betrag in Höhe von 8.720,84 € nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.06.2017 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, gleich bei der ersten Kontrastmittelgabe habe sich eine spontane Dissektion des Hauptstammes der linken Herzkranzarterie mit vermindertem Fluss im distalen left main stem und einer filiformen Stenose gezeigt, nicht erst bei einer späteren Anlotung. Folglich habe die Herzkatheteruntersuchung die Dissektion nicht hervorgerufen. Die anschließende Reanimation sei durch die spontane Dissektion notwendig geworden, Fehler seien den Beklagten dabei nicht vorzuwerfen. Die durch den Beklagten zu 2. verabreichte Lyse habe zu dem großen Blutverlust der Patientin geführt, sei allerdings medizinisch notwendig gewesen, um einen Blutfluss im linken Herzkranzgefäß zu erreichen. Auch sei den Beklagten nicht der Vorwurf zu machen, sie hätten die Verlegung der Patientin in das UKSH früher veranlassen müssen. Die Beklagten untermauern ihren Vortrag durch ein privates Sachverständigengutachten des Herrn Prof. Dr. M, wegen dessen Inhalts auf die Anlage B1 (Blatt 197 ff. der Akte) Bezug genommen wird.

Die Beklagten meinen, das geltend gemachte Schmerzensgeld der Patientin aus übergegangenem Recht sei überhöht, da diese seit Reanimationsbeginn bewusstlos gewesen sei und das Bewusstsein bis zum Tod auch nicht wiedererlangt habe. Aus eigenem Recht könnten die Kläger keinen einheitlichen Schmerzensgeldanspruch als Gesamtgläubiger geltend machen. Der Höhe eines vermeintlichen Unterhaltsanspruchs sei entgegenzutreten, da die durch die Kläger in Bezug genommene Anlage K3 (Blatt 38 f. der Akte) offen lasse, ob die Patientin überhaupt das behauptete zukünftige Anstellungsverhältnis hätte antreten können.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Kammer hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 19.11.2019 (Blatt 118 ff. der Akte) Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das kardiologische Gutachten des Herrn Dr. R vom 07.07.2020 (Gutachtenhefter) Bezug genommen. Aufgrund des Beweisbeschlusses vom 09.12.2020 hat die Kammer weiter Beweis erhoben durch Einholung eines ergänzenden schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Ergänzung wird auf das kardiologische Gutachten des Herrn Dr. R vom 27.04.2021 (Gutachtenhefter) Bezug genommen. Der Sachverständige hat seine schriftlichen Gutachten schließlich in der mündlichen Verhandlung am 12.08.2021 erläutert und ergänzt; insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung (Blatt 206 ff. der Akte) Bezug genommen. Die Kammer hat zudem den Kläger zu 1. und den Beklagten zu 2. persönlich angehört; wegen des Ergebnisses der Anhörungen wird ebenfalls auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.08.2021 (Blatt 206 ff. der Akte) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Klage ist teilweise begründet, teilweise dem Grunde nach gerechtfertigt und im Übrigen unbegründet.

1. Der Erlass eines Teilgrund- und Teilendurteils ist hier gemäß §§ 301 Abs.1, 304 Abs. 1 ZPO zulässig und zweckmäßig. Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld und auf Ersatz materieller Schäden. Hinsichtlich des begehrten Schmerzensgelds und der Beerdigungskosten ist die Klage in Gänze entscheidungsreif, hinsichtlich des weiter begehrten Unterhaltsschadens aber nur dem Grunde, nicht dem Betrag nach – das zur Bemessung etwaiger Ansprüche auf Ersatz entgangenen Unterhalts maßgebliche Anstellungsverhältnis und Einkommen der Patientin sind streitig, insoweit sind (ggf. umfangreiche) weitere Feststellungen erforderlich.

2. Der Kläger zu 1. hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Ersatz der Beerdigungskosten iHv. 8.720,84 €. Des Weiteren steht den Klägern gegen die Beklagten dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung eines Unterhaltsschadens nebst Zinsen wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung der Patientin am 14.08.2016 zu. Diese Ansprüche folgen aus § 630b, § 618 Abs. 3 iVm. § 823 Abs. 1, § 831, § 844 Abs.1 und 2 BGB.

a) Der für die Beklagte zu 1. handelnde Beklagte zu 2. hat die Patientin pflichtwidrig nicht fehlerfrei behandelt.

aa) Nach den insoweit übereinstimmenden Ausführungen des gerichtlichen und des privaten Sachverständigen geht auch die Kammer davon aus, dass es ein allgemein anerkannter fachlicher Standard iSd. § 630a Abs. 2 BGB für die Behandlung der Patientin in der konkreten Notfallsituation nicht existierte. Der allgemein anerkannte fachliche Standard iSd. § 630a Abs. 2 BGB ist der jeweilige Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Dieser Begriff enthält ein Moment professioneller Akzeptanz. Entsprechend der nachvollziehbaren und für die Kammer überzeugenden Schilderung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R sah sich der Beklagte zu 2. bei dem Krankheitsbild der Patientin einer Situation ausgesetzt, die nur wenige Kardiologen deutschlandweit jemals während ihres ganzen Berufslebens erleben würden und die nicht zu trainieren sei, weil sie im Alltag zu selten auftrete, und für deren Behandlung es auch weder in Lehrbüchern, Leitlinien o.ä. Handlungsanleitungen oder -beschreibungen gäbe. Damit fehlt es aber an den zur Bestimmung eines Standards iSd. § 630a Abs. 2 BGB erforderlichen ärztlichen Erfahrungen und Erprobungen. Diese Einschätzung wird auch von den Beklagten geteilt.

bb) Dies bedeutet aber nicht, dass in einer solchen Behandlungssituationen keine Sorgfaltspflichten bestünden. Die in § 630a Abs. 2 BGB getroffene Regelung ist nur eine Ergänzung des Sorgfaltsmaßstands des § 276 Abs. 2 BGB. Für den Fall, dass ein allgemein anerkannter Standard für die Behandlung nicht existiert, ist daher die Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden einzuhalten (BGH, Urteil vom 27.03.2007 – VI ZR 55/05, juris; KG, Urteil vom 24.10.2011 – 20 U 67/09, juris; BT-Drs. 17/10488, 19). Dies ist hier bei der Behandlung der Patientin durch den Beklagten zu 2. nicht geschehen:

cc) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Kammer iSd. § 286 Abs. 1 ZPO davon überzeugt, dass der Beklagte zu 2. bei der Behandlung der Patientin am 14.08.2016 nicht unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen wie ein vorsichtig Behandelnder vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sodann sorgfältig durchgeführt hat. Gegen die einen vorsichtig Behandelnden treffenden Sorgfaltspflichten hat der Beklagte zu 2. verstoßen, indem er trotz der bereits nach der ersten Aufnahme gefällten Diagnose einer spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere Aufnahmen der linken Koronararterie anfertigte und die Patientin zusätzlich intrakoronar mit einem Einzelbolus von 15 ml Aggrastat versorgte.

Die Kammer verkennt nicht, das sich der Beklagte zu 2. in einer beruflichen Ausnahmesituation befand, in der er in äußerst kurzer Zeit die Entscheidung über sein weiteres Vorgehen treffen musste und sich unter diesem Eindruck für weiteren Aufnahmen entschied. Dies hat der Beklagte zu 2. in seiner persönlichen Anhörung auch eindrücklich geschildert. Trotz des Fehlens eines anerkannten fachlichen Standards war übergeordnetes Ziel der vorsichtigen Behandlung der erkannten Dissektion aber, diese jedenfalls nicht zu vergrößern, deswegen sowenig wie möglich zu manipulieren und das wahre Lumen des Hauptstammes der linken Herzkranzarterie zu erhalten. Das Vorgehen des Beklagten zu 2. weicht hiervon ab und stellt deshalb einen Behandlungsfehler dar. Diese Überzeugung hat die Kammer aufgrund der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R in dessen schriftlichen Gutachten und im Termin vom 12.08.2021 gewonnen. Dr. R ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, Leiter des klinischen Managements am Universitären Herz- und Gefäßzentrum des Universitätsklinikums H…, an seiner Sachkunde bestehen keine Zweifel. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die Behandlung spätestens ab der dritten Aufnahme der linken Koronararterie fehlerhaft gewesen sei.

Der Sachverständige hat in seinem Erstgutachten vom 07.07.2020 (Gutachtenband) erläutert, dass sich bereits bei der ersten Darstellung der Hauptstamm der linken Koronararterie mit vermindertem Blutfluss und distaler filiformer Stenose durch die Aufhellung in der Bildgebung gezeigt habe. Zu dieser Zeit sei der Fluss der Vorderwandarterie aber noch intakt gewesen, entsprechend einem sog. Thrombolysis in myocardial Infarction-Klassifikation III (nachfolgend: TIMI Fluss). In Videoschleife 2 zeige sich aus anderem Angulationswinkel als Ursache der Aufhellung eine langgestreckte Dissektion des Hauptstamms, dabei stehe der Katheter mit hoher Wahrscheinlichkeit im falschen Lumen der Dissektion, der wahre Lumen der Dissektion sei nur noch als schmaler dunkler Strich unterhalb der Dissektionslammelle zu erkennen. Zu dieser Zeit sei Fluss der Vorderwandarterie bereits zeitlich verzögert, entsprechend einem sog. TIMI Fluss II. In den Videoschleifen 3, 4, 5 und 6 werde die linke Koronararterie dann von weiteren Seiten dargestellt. Dabei sei zu sehen, wie der Fluss der Vorderwandarterie immer weiter abnehme, bis zuletzt kein Blutfluss mehr zu sehen sei, entsprechend TIMI Fluss 0. Demnach zeige bereits die Videoschleife 1 einen potenziell lebensbedrohlichen Befund. In der Videoschleife 2 sehe man deutlich das Vorliegen einer Dissektion des Hauptstamms vom Ostium des Hauptstamms bis mindestens zur Bifurkation (Auftrennung in Vorderwand und Hinterseitenwandarterie). Ab diesem Zeitpunkt sei das Vorgehen des Beklagten zu 2. nicht mehr vollständig nachvollziehbar. Stehe der Katheter im „falschen“ Lumen und würden weiter Kontrastmittel oder Medikamente in den Dissektionssack gedrückt, könne sich die Dissektion weiter ausdehnen und dadurch den Blutfluss stoppen, denn das „wahre“ Gefäßlumen werde weiter komprimiert. Es sei daher unverständlich, wieso der Beklagte zu 2. nach der Videoschleife 2 noch weitere 4 Aufnahmen angefertigt und somit zur Verschlechterung der Dissektion beigetragen habe. Auch sei unverständlich, wieso der Beklagte zu 2. in diese Dissektion noch Aggrastat, einen aggressiven Blutverdünner, als Bolus verabreicht habe. Der Beklagte zu 2. scheine in diesem Moment von einem Thrombus ausgegangen zu sein, den man unter bestimmten Umständen mit Aggrastat behandeln könne. Er habe sich offenbar von der Vorstellung, einen klassischen STEMI zu behandeln, noch nicht lösen können. Dabei trage seine Maßnahme zur Verschlimmerung der Gesamtsituation bei. Auf den Videoschleifen 3-6 sei gut zu verfolgen, wie innerhalb weniger Minuten der Blutfluss der Vorderwandarterie durch ein Fortschreiten der Dissektion zum Stehen komme und sich die klinische Situation dramatisch verschlechtere. Unverständlich sei auch, wieso am Ende der 6. Videoschleife – bei nachgewiesenem Stillstand des Blutflusses auf der Vorderwand – noch eine Diagnostik der rechten Koronararterie erfolgt sei. Dies sei unnötig gewesen und habe das Auftreten des ersten Kammerflimmerns zusätzlich erleichtert, denn die Gabe von Kontrastmittel in ein Koronargefäß führe vorübergehend zur fehlenden Perfusion mit sauerstoffhaltigem Blut.

Die Kammer hat diese Ausführung nachvollzogen und ist von ihrer Richtigkeit überzeugt. Der gerichtliche Sachverständige Dr. R hat seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung anhand der Videosequenzen eindrücklich erläutert und veranschaulicht. Dieser Überzeugungsbildung steht auch nicht die im schriftlichen Vorverfahren erfolgte persönliche Stellungnahme des Beklagten zu 2. entgegen. Dort führt der Beklagte zu 2. aus, dass die Diagnose einer spontanen Dissektion der linken Koronararterie bereits nach der ersten Aufnahme durch den Beklagten zu 2. erfolgt sei und er nicht von einem alltäglichen Infarkt ausgegangen sei. Die Entscheidung zur Verlegung der Patientin in das UKSH habe da bereits festgestanden. Aufgrund des drohenden Zeitablaufs habe der Beklagte zu 2. jedoch eine Koronaintervention angestrebt, um die Patientin zu stabilisieren. Für eine Stentversorgung seien dann weitere Aufnahmen erfolgt, um die Patientin im Anschluss ins UKSH zu verlegen. Dabei sei der Beklagte zu 2. davon ausgegangen, den Katheter in dem richtigen Lumen im Herzkranzgefäß links positioniert zu haben, in den die Gabe von Kontrastmittel und Aggrastat indiziert gewesen sei. Denn die Gabe von Aggrastat sei erfolgt, um sekundär gebildete Blutgerinnsel zu minimieren. Die bildgebende Untersuchung der rechten Koronararterie sei notwendig gewesen, da eine weitere Dissektion habe ausgeschlossen werden müssen. Auch sei diese Befundung für die Weiterbehandlung im UKSH notwendig gewesen. Der gerichtliche Sachverständige Dr. R hat in seinem schriftlichen Ergänzungsgutachten vom 27.04.2021 (Gutachtenband) ausgeführt, es sei in der interventionellen Kardiologie unumstritten, dass bei dem Verdacht auf eine Dissektion mit weiteren Manipulationen am Gefäß – mit Kather- oder Drahtbewegungen oder mit Gabe von Kontrastmittel – sehr vorsichtig umzugehen sei. Daher sei auch nach der Stellungnahme des Beklagten zu 2. als erfahrenem Untersucher unverständlich, warum fünf weitere linkskoronare Angiographien durchgeführt worden seien. Dieses Vorgehen widerspreche dem gebotenen vorsichtigen Vorgehen bei nachgewiesener Dissektion. Pro Angiographie würden etwa 6 ml Kontrastmittel über 4 Sekunden mit hohem Druck unmittelbar am Katheterausgang gegeben. Stehe der Katheter schräg zur Gefäßwand, bestehe u.a. die Gefahr, dass Kontrastmittel die Gefäßwand verletzte. Selbst wenn man als Behandler glaube, sich im richtigen Lumen zu befinden, müsse mit großer Vorsicht vorgegangen werden. Denn es sei nahezu unmöglich, die Katheterlage anhand der Angiographie zu beurteilen, daher sei immer so vorzugehen, als ob man sich im falschen Lumen befinde. An diesem Maßstab sei das Vorgehen des Beklagten nach wie vor als behandlungsfehlerhaft zu bewerten. Auch die koronare Gabe des Aggrastats sei weiterhin als behandlungsfehlerhaft zu bewerten. Eine „prophylaktische“ Gabe bei drohenden Thromben werde nicht empfohlen. Auch bei dem Komplikationsmanagement einer Dissektion werde die Gabe nicht routinemäßig empfohlen, sondern nur als mögliche Option bei bestimmten Bedingungen. Bei einer spontanen Dissektion werde die Gabe gar nicht empfohlen. Es sei zwar nicht davon auszugehen, dass die Gabe von Aggrastat ohne den Nachweis von Thromben als Wirkstoff einen zusätzlichen Schaden angerichtet habe, aber dabei seien eben 15 ml Flüssigkeit unter Druck in das komplett falsche Lumen der Dissektion injiziert worden, was zum Fortschreiten der Dissektion geführt haben könne.

Auch das durch die Beklagten vorgelegte private Sachverständigengutachten des Prof. Dr. M (Anlage B1, Blatt 197 ff. der Akte) veranlasst die Kammer nicht, an der Richtigkeit der Bewertung des gerichtlichen Sachverständigen zu zweifeln. Prof. Dr. M hat ausgeführt, die Anzahl der durchgeführten Aufnahmen der linken Herzkranzarterie könne ex post zwar „diskussionswürdig“ sein, eine allgemeine Empfehlung für diese besondere Konstellation existiere jedoch nicht. Insbesondere liege keine Leitlinie oder dezidierte Publikation noch Expertenmeinung hierfür vor. Auch die Gabe von Aggrastat könne diskutiert werden und werde in neuesten Publikationen (nach 2018) nicht empfohlen, jedoch existiere eine Veröffentlichung, die die Gabe bei Spontandissektionen einbeziehe. Damit bestätigt der private Sachverständige letztlich die auch vom Gericht getroffene Feststellung, dass ein anerkannter fachlicher Standard zur Behandlung der Patientin in der konkreten Notfallsituation nicht bestanden hat, entkräftet den Vorwurf, die Sorgfaltspflichten eines vorsichtig Behandelnden nicht eingehalten zu haben, aber nicht. Der gerichtliche Sachverständige Dr. R hat im Termin vom 12.08.2021 in Anwesenheit des Privatsachverständigen Prof. Dr. M seine schriftlichen Ausführungen mündlich erläutert und im Ergebnis bestärkt: Es sei zwar richtig, dass es sich jedenfalls in ihrer Gesamtheit um eine sehr seltene Situation gehandelt habe. Die Dissektion als solche gehöre aber schon zum Tagesgeschäft eines Kardiologen. Daher hätten auch bei der vorliegenden Behandlung die Grundsätze eines fachärztlich tätigen Kardiologen gegolten. Ziele der Behandlung einer Dissektion seien daher gewesen: 1. als übergeordnetes Ziel, die Dissektion jedenfalls nicht zu vergrößern; 2. sowenig wie möglich zu manipulieren, etwa durch Drähte oder Ballons; 3. das wahre Lumen zu erhalten. Diese Ziele seien durch den Beklagten zu 2. nicht verfolgt worden. Natürlich sei die Beurteilung ex post leichter, weil er – der Sachverständige – die Aufnahmen wieder und wieder am grünen Tisch ansehen könne. In der Situation selbst habe nur sehr wenig Zeit zur Verfügung gestanden. Gleichwohl halte er das Vorgehen des Beklagten zu 2. auch in der Situation ex ante für falsch. Der Beklagte zu 2. habe die Diagnose einer Dissektion bereits nach der ersten Aufnahme gestellt, jedenfalls nach der zweiten Aufnahme sei sie zu stellen gewesen. Danach sei aber keine Zeit zur Sicherung des wahren Lumens aufgewendet worden, sondern es seien weitere Aufnahmen gefertigt worden, obwohl sich der Blutfluss von Aufnahme zur Aufnahme verringert habe, bis dieser in der fünften Aufnahme an der Vorderwandarterie komplett zum Erliegen gekommen sei. Für fehlerhaft halte er dabei die weitere Gabe von Kontrastmittel, denn selbst wenn man glaube, man sei im richtigen Lumen, könne man sich dessen nicht sicher sein, weshalb man mit der Kontrastmittelgabe vorsichtig sein müsse. Vorliegend sei ab der zweiten Schleife zudem davon auszugehen gewesen, dass man sich wahrscheinlich im falschen Lumen befinde. Jedenfalls ab der dritten Aufnahme sei erkennbar, dass das Lumen verschlossen sei, da habe es aus seiner Sicht auch keine andere Differenzialdiagnose mehr gegeben. Richtig sei, dass mit weiteren Aufnahmen zwingend eine Kontrastmittelgabe verbunden gewesen sei, ohne eine solche machten solche Aufnahmen keinen Sinn. Nach der zweiten Aufnahme seien weitere Aufnahmen unter Kontrastmittelgabe aber überflüssig und deswegen falsch gewesen. Denn die Manipulation mit Kontrastmittelgabe könne die Dissektion vergrößern. Die Erkrankung der Patientin als solche sei absolut lebensgefährlich gewesen. Es gelte in einer solchen Situation, das Fortschreiten der Dissektion aufzuhalten und nicht durch weitere Aufnahmen zu verschlimmern. Auch die Gabe des Aggrastats von 15 ml durch einen Diagnostikkatheter sei nach wie vor als fehlerhaft zu bewerten. Die Kritik richte sich dabei nicht gegen die Gabe des Mittels als solches, sondern gegen die Applikation intrakoronar. Die gegebene Menge entspreche etwa der Menge an Kontrastmitteln zweier weiterer Aufnahmen. Gegen eine etwa intravenöse Gabe hätte er keine Bedenken geäußert. Auch halte er an seiner Einschätzung fest, dass die Aufnahmen der rechten Koronararterie fehlerhaft gewesen seien – wenn der Beklagte zu 2. gerade zugesehen habe, wie der Blutfluss in der linken Vorderwandarterie zum Erliegen gekommen sei, sei die Aufnahme im rechten Herzkranzgefäß in zwei Ebenen eine zusätzliche Belastung und gleichwohl fehlerhaft. Von allen Punkten, die er an der Behandlung durch den Beklagten zu 2. kritisiere, sei dies allerdings der am wenigstens schwerwiegende Punkt. Grundsätzlich gehöre die Untersuchung der rechten Arterie zur Routine. Hier sei nun keine Routinesituation eingetreten gewesen.

dd) Nach alldem ist ein Behandlungsfehler festzustellen, weil der Beklagte zu 2. trotz der bereits nach der ersten Aufnahme erkannten Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere Aufnahmen der linken Koronararterie anfertigte und die Patientin zusätzlich intrakoronar mit einem Einzelbolus von 15 ml Aggrastat versorgte. Weil bereits hieraus eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach folgt (dazu sogleich), bedarf es keiner weiteren Feststellungen zu den vom gerichtlichen Sachverständigen ausgeführten weiteren Sorgfaltspflichtverletzungen.

c) Durch die fehlerhafte Behandlung ist der Patientin ein Gesundheitsschaden entstanden.

aa) Allerdings konnte der Sachverständige nicht sicher feststellen, ob der Behandlungsfehler, nämlich die trotz der Diagnose der spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie erfolgten weiteren Aufnahmen der linken Koronararterie und die zusätzliche intrakoronare Gabe eines Einzelbolus von 15 ml Aggrastat, für das Fortschreiten der Dissektion und den letztlich festgestellten fulminanten Herzinfarkt mit begleitendem Blutverlust und Todesfolge ursächlich war. Er halte dies zwar für hoch wahrscheinlich, es sei jedoch theoretisch möglich, dass das Fortschreiten der Dissektion zufällig zeitlich koexistent zu den Behandlungsmaßnahmen erfolgt sei. Gleichzeitig bestehe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der fatale Verlauf auch unter mutmaßlich optimierten Abläufen gleich geendet hätte, wobei eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spreche, dass die Behandlung ohne die Behandlungsfehler nicht fatal verlaufen wäre. Letztlich sei die Beantwortung der Frage, ob der klinische Verlauf ohne die Behandlungsfehler günstiger gewesen wäre oder der Tod verhindert worden wäre, aber spekulativ. Auf der Grundlage dieser Ausführungen des Sachverständigen ist es der Kammer nicht möglich, sich eine Überzeugung iSd. § 286 Abs. 1 ZPO davon zu bilden, dass der festgestellte Behandlungsfehler für die tödliche Gesundheitsbeeinträchtigung der Patientin ursächlich gewesen ist.

bb) Diese Unsicherheit geht hier zu Lasten der Beklagten. Bei dem festgestellten Behandlungsfehler handelt es sich um einen groben Behandlungsfehler, der grundsätzlich geeignet war, die tödliche Gesundheitsbeeinträchtigung der Patientin herbeizuführen. Aufgrund dessen wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für die Gesundheitsbeeinträchtigung ursächlich war. Den Beklagten ist der Beweis, dass der Gesundheitsschaden der Patientin nicht auf dem Behandlungsfehler des Beklagten zu 2. beruht, nicht zur Überzeugung der Kammer iSd. § 286 Abs. 1 ZPO gelungen.

Im Einzelnen:

(1) Ein Behandlungsfehler ist gemäß § 630h Abs. 5 BGB als grob zu bewerten, wenn ein medizinisches Fehlverhalten vorliegt, das aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabs nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Dabei ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache für den Schaden ist. Es genügt, dass er generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (BGH, Urteil vom 13.09.2011 – VI ZR 144/10, juris Rn. 8; BGH, Urteil vom 02.07.2013 – VI ZR 554/12, juris Rn. 16). Hier liegen die Voraussetzungen einer Beweislastumkehr bei einem groben Behandlungsfehler vor:

(2) Die trotz der bereits erfolgten Diagnose der spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie erfolgten weiteren Aufnahmen der linken Koronararterie und die zusätzliche intrakoronare Gabe eines Einzelbolus von 15 ml Aggrastat waren grob fehlerhaft.

Der gerichtliche Sachverständige hat in seinem schriftlichen Erstgutachten vom 07.07.2020 unmissverständlich und für die Kammer überzeugend ausgeführt, dass der Beklagte zu 2. dadurch, dass er trotz der Diagnose der spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie unter fortgesetzter Gabe von Kontrastmittel die linke Koronararterie weiter befundete und zusätzlich intrakoronar die Gabe eines Einzelbolus von 15 ml Aggrastat erfolgte, eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln verstoßen und einen elementaren Fehler begangen habe, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheine, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe (“grober Behandlungsfehler“). An dieser Einschätzung hat der gerichtliche Sachverständige auch nach erneutem Vorhalt der Definition des groben Behandlungsfehlers in seinen mündlichen Ausführungen in dem Termin am 12.08.2021 festgehalten: Für ihn persönlich seien die von ihm benannten Fehler nicht nachzuvollziehen. Aus seiner Sicht dürften diese einem interventionell tätigen Kardiologen nicht passieren. Diese Ausführungen überzeugen auch vor dem Hintergrund, dass sich der Sachverständige intensiv und selbstkritisch mit der Bewertung der Schwere der Fehler des Beklagten zu 2. auseinandergesetzt hat, was sich nicht zuletzt dadurch gezeigt hat, dass er in seinen mündlichen Ausführungen – aufgrund der persönlichen Schilderungen des Beklagten zu 2., dass bereits die Verlegung der Patientin geplant gewesen sei – die Aufnahmen im rechten Herzkranzgefäß in zwei Ebenen zwar als fehlerhaft, aber nicht mehr als grob fehlerhaft bewertet hat.

(3) Eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich wäre. Wie bereits ausgeführt, konnte der Sachverständige nicht ausschließen, dass die fehlerhafte Behandlung für die konkrete Gesundheitsbeeinträchtigung der Patientin mitursächlich war. Seinen Ausführungen lässt sich aber entnehmen, dass der haftungsbegründende Ursachenzusammenhang jedenfalls nicht als gänzlich unwahrscheinlich anzusehen ist, sondern bei einer Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs von 50% gelegen habe.

d) Ob den Klägern aufgrund der obigen Feststellungen ein ersatzfähiger materieller Schaden entstanden ist, kann derzeit nicht in Gänze beurteilt werden.

aa) Unstreitig sind dem Kläger zu 1. Beerdigungskosten in Höhe von 8.720,84 € entstanden und ersatzfähig. Der Kläger zu 1. hat dies bereits in der Klageschrift vorgetragen, auch wenn ein entsprechender Klageantrag zunächst – offenbar versehentlich – nicht angekündigt worden ist. Die Beklagten sind dem in der Folge weder in der Klageerwiderung nach in der mündlichen Verhandlung, nachdem die Klage um den fehlenden Antrag erweitert worden ist, entgegengetreten. Die Bezifferung entspricht auch den als Anlagenkonvolut K6 (Blatt 73 ff. der Akte) eingereichten Rechnungen. Insoweit war durch Teilendurteil zu entscheiden.

bb) Ob die Kläger der Höhe nach den jeweils geltend gemachten Unterhaltsanspruch haben, hängt von den damals zukünftigen Anstellungs- und Einkommensverhältnissen ab, die zwischen den Parteien streitig sind. Feststellungen hierzu werden im Betragsverfahren zu treffen sein. Insoweit war durch Teilgrundurteil zu entscheiden.

3. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1, § 286 BGB.

4. Die Kläger haben gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds. Insoweit war die Klage durch Teilendurteil abzuweisen. Ein solcher Anspruch folgt weder aus eigenem Recht der Kläger gem. § 823 Abs. 1 BGB (dazu unter a) noch aus übergegangenem Recht der Patientin gem § 630a, § 280 Abs. 1, § 278, 253, 249, § 823 Abs. 1 BGB iVm. § 1922 BGB (dazu unter b).

a) Den Kläger haben gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds aus eigenem Recht.

aa) Ansprüche auf Hinterbliebenenentgeld gem. § 844 Abs. 3 BGB kommen nicht in Betracht, da dessen Einführung zum 23.07.20217 nach der Behandlung der Patientin lag (Art. 229 § 43 EGBGB).

bb) Darüber hinaus ist das Leid von Angehörigen Verstorbener juristisch nur schwer zu erfassen und abzugelten. Einzig verbleibende Anspruchsgrundlage ist § 823 Abs. 1 BGB, dessen Voraussetzungen hier nicht erfüllt sind.

Das Leid der Angehörigen Verstorbener kann nicht ohne Weiteres als eigene Gesundheitsbeeinträchtigung iSd. § 823 Abs. 1 BGB bewertet werden. Zwar können auch psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB darstellen. Seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, sind aber auch dann nicht ohne Weiteres eine Gesundheitsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Die Anerkennung solcher Beeinträchtigungen als Gesundheitsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB widerspräche nämlich der Absicht des Gesetzgebers, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch nach den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken und Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten zurückzuführen sind, mit Ausnahme der §§ 844, 845 BGB ersatzlos zu lassen. Psychische Beeinträchtigungen können in diesen Fällen deshalb nur dann als Gesundheitsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, Urteil vom 21.5.2019 – VI ZR 299/17, juris Rn. 7). Dies gilt ebenso, wenn das haftungsbegründende Ereignis kein Unfallereignis im eigentlichen Sinne, sondern eine fehlerhafte ärztliche Behandlung ist (BGH aaO.).

Die Kläger führen aus, dass sie naturgemäß durch das katastrophale Ereignis des Todes der Patientin psychisch schwer geschädigt seien (Seite 10 der Klageschrift vom 12.07.2018, Blatt 10 der Akte). Die Kammer will – gerade auch in Anbetracht der eindrücklichen Äußerungen des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung – nicht in Zweifel ziehen, dass die Kläger durch den Tod der Ehefrau und Mutter hart getroffen wurden und Schlimmes haben durchleben müssen. Dass sie unter psychischen Beeinträchtigungen leiden, die über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind, haben sie aber nicht dargelegt.

b) Die Kläger haben gegen die Beklagten auch aus übergegangenem Recht der Patientin keinen Anspruch auf Schmerzensgeld.

Trotz der fehlerhaften Behandlung (dazu oben) ist auch der Patientin selbst kein Schmerzensgeldanspruch entstanden, der auf die Kläger übergehen konnte.

aa) Das Gesetz sieht einen Schmerzensgeldanspruch nur für eine erlittene Körperverletzung, nicht aber für den Tod oder die Verkürzung der Lebenserwartung selbst vor. Schmerzensgeldansprüche können deshalb ebenso wie in Fällen, in denen die Verletzungshandlung sofort zum Tod führt, selbst bei schwersten Verletzungen dann zu verneinen sein, wenn diese bei durchgehender Empfindungslosigkeit des Geschädigten alsbald den Tod zur Folge haben und dieser nach den konkreten Umständen des Falles, insbesondere wegen der Kürze der Zeit zwischen Schadensereignis und Tod, sowie nach dem Ablauf des Sterbevorgangs derart im Vordergrund steht, daß eine immaterielle Beeinträchtigung durch die Körperverletzung als solche nicht faßbar ist und folglich auch die Billigkeit keinen Ausgleich in Geld gebietet (BGH, Urteil vom 12.05.1998 – VI ZR 182-97, juris). Die Bemessung des Schmerzensgeldes bei einer Körperverletzung, an deren Folgen eine verletzte Person alsbald verstirbt, erfordert eine Gesamtbetrachtung der immateriellen Beeinträchtigung unter besonderer Berücksichtigung von Art und Schwere der Verletzungen, des hierdurch bewirkten Leidens und dessen Wahrnehmung durch den Verletzten wie auch des Zeitraums zwischen Verletzung und Eintritt des Todes (BGH aaO).

bb) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Kammer iSd. § 286 Abs. 1 ZPO überzeugt, dass die Patientin durch die fehlerhafte Behandlung keine wahrnehmbare Schmerzsteigerung erlebt hat, die aus Billigkeitsgründen eine Bemessung in Geld erforderte, weil ab dem Zeitpunkt des ersten Kammerflimmerns bei der Patientin bis zu dem Eintritt des Todes eine durchgehende Empfindungslosigkeit vorlag, die ein weiteres Schmerzempfinden ausschloss.

Diese Überzeugung hat die Kammer aufgrund der mündlichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R im Termin vom 12.08.2021 gewonnen. Der gerichtliche Sachverständige hat insoweit ausgeführt, die Patientin sei schon in einem schwerst kompromittierten Zustand in der Zentralen Notaufnahme angekommen. Ihre Schmerzen seien mit 8 von 10 beschrieben worden. Die Patientin habe Morphin erhalten, sie habe also schon unter maximaler Schmerztherapie die Koronarangiographie erlebt. Die Einführung des Herzkatheters geschehe unter lokaler Betäubung, schmerzhaft sei grundsätzlich der Einstich, nicht die Einführung des Herzkatheters oder die Manipulation selbst. Der folgende Verschluss der Vorderwandarterie werde zusätzliche Luftnot und Schmerzen herbeigeführt haben, wie viel das in der Gesamtsituation aber ausgemacht hat, sei seriös nicht zu beantworten. Es sei davon auszugehen, dass die Patientin ab dem Zeitpunkt des ersten Kammerflimmerns das Bewusstsein verloren habe. In der kurzen Zeit dazwischen sei aus gutachterlicher Sicht davon auszugehen, dass die ärztlichen Maßnahmen keine zusätzlichen Schmerzen verursacht hätten. Die Kammer hat diese Ausführungen nachvollzogen und ist von ihrer Richtigkeit überzeugt.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und S. 2 ZPO.

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