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Krankenhaushaftung bei Geburtschäden – Aufklärungspflicht bei Kaiserschnittenbindung

LG Berlin, Az.: 35 O 47/12

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die darauf zurückzuführen sind, dass bei seiner Geburt am 31.03.2011 der Versuch einer vaginalen Geburt nach 18.00 Uhr fortgesetzt wurde, anstatt um 18.00 Uhr eine Schnittentbindung einzuleiten.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der am 31.03.2011 geborene Kläger nimmt die Beklagte auf Feststellung der Einstandspflicht für sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus behaupteten Fehlern anlässlich seiner Geburt in Anspruch.

Krankenhaushaftung bei Geburtschäden - Aufklärungspflicht bei Kaiserschnittenbindung
Symbolfoto: World Image/Bigstock

Die Mutter des Klägers war mit diesem zum zweiten Mal schwanger, die Entbindung von der ersten Schwangerschaft erfolgte 2009 durch sekundären Kaiserschnitt. Der Schwangerschaftsverlauf war unauffällig, die vorgeburtlichen Untersuchungen zeigten eine gesunde Entwicklung des Embryos. Die Mutter des Klägers begab sich am 31.03.2011 gegen 17.25 Uhr mit starken Wehen in die Klinik für Geburtsmedizin … der Beklagten. Bei Aufnahme war der Muttermund auf 2 cm eröffnet, es bestand regelmäßige Wehentätigkeit. Das Kardiotokogramm zur Messung der fetalen Herzfrequenz (nachfolgend: CTG) wurde um 17.29 Uhr angelegt und zeigte regelmäßige Wehen und frühe Dezelerationen. Das auch von dem Oberarzt mitbefundete CTG wurde als suspekt eingestuft.

Gegen 17.53 Uhr erfolgte unter Abschaltung des CTG durch die diensthabende Ärztin B. eine Ultraschallkontrolle der Lage des Kindes in utero, da der Verdacht auf eine Querlage bestand, es wurde eine Schädellage verifiziert. Ferner erfolgte eine Sonographie-Kontrolle im Ultraschallraum der Kreißsaalaufnahme mit Erfassung des Schätzgewichts durch eine Biometrie, deren Befund unauffällig war. Um 18.15 Uhr erfolgte ein spontaner Blasensprung mit Abgang von dick-grünem Fruchtwasser.

Um 18.27/18.29 Uhr erfolgte im Kreißsaal eine vaginale Untersuchung; der Muttermund war zu diesem Zeitpunkt vollständig eröffnet. Um 18.28 Uhr wurde der Kindesmutter erneut ein venöser Zugang gelegt. Nachdem der Versuch einer Fortschreibung des CTG um 18.31 Uhr misslang, wurde um 18.32 Uhr mittels Ultraschall eine fetale Bradykardie des Klägers festgestellt. Der hinzugerufene Oberarzt traf um 18.33 Uhr ein. Um 18.35 Uhr erfolgte nach vaginaler Untersuchung ein Pressversuch mit Kristellerhilfe, daran anschließend zwischen 18.38 Uhr und 18.40 Uhr der Versuch einer Vakuumextraktion, nach dessen Misslingen um 18.41 Uhr der Entschluss zur Schnittentbindung getroffen wurde.

Der Kläger wurde um 18.54 Uhr mit Atemstillstand geboren und musste wiederbelebt werden. Seitdem leidet er unter weißer Asphyxie, respiratorischer Insuffizienz, arterieller Hypotonie, zerebralen Anfällen, mildem Hirnödem, konnataler Pneumonie, Atelektase des rechten Oberlappens, pulmonaler Hypertonie und Thrombozytopenie.

Der Kläger trägt vor: Gegen 18.00 Uhr habe die Mutter des Klägers eindringlich um die Durchführung eines Kaiserschnitts gebeten. Das CTG hätte nach 17.57 Uhr fortgeschrieben werden müssen. In diesem Fall hätte sich ein pathologischer Befund ergeben. Es hätte dann sofort eine Schnittentbindung eingeleitet werden müssen.

Der Kläger beantragt, festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche, auch in Zukunft noch entstehenden, materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die auf die fehlerhafte Behandlung in der Klinik der Beklagten am 31.03.2011 zurückzuführen sind, soweit nicht Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor: Beim Transport von der Aufnahme in den Kreißsaal habe sich die Kindesmutter den gerade gelegten venösen Zugang gezogen, sie sei kaum zu beruhigen gewesen. Eine Kommunikation sei schwierig gewesen, da die Mutter kein, der Vater sehr wenig Deutsch gesprochen habe. Die Behandlung sei dadurch erschwert worden, dass die Mutter des Klägers um sich geschlagen und jegliche Mitwirkung verweigert habe. Während der vaginalen Geburtsversuche habe sie die Oberschenkel zusammengepresst und um sich geschlagen. Das zum Gelingen einer vaginalen Entbindung erforderliche Mitpressen sei nicht erfolgt. Die Beklagte erhebt den Einwand der hypothetischen Einwilligung.

Die Kammer hat Beweis erhoben aufgrund der Beweisbeschlüsse vom 18.06.2012, 05.03.2013 und 26.11.2013 durch Einholung schriftlicher Gutachten und Ergänzungsgutachten sowie die Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. Sch., Facharzt für Gynäkologie am Diakoniekrankenhaus … gGmbH in H.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sachverständigengutachten vom 04.01.2013 sowie die Ergänzungsgutachten und die Sitzungsniederschrift vom 11.12.2015 Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der ausgetauschten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschrift vom 11.12.2015 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Das gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ist gegeben, da nicht auszuschließen ist, dass aus der streitgegenständlichen Behandlung materielle und immaterielle Schäden des Klägers erwachsen (vgl. BGH, Urteil vom 20.03.2001, VI ZR 325/99).

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung der Einstandspflicht für sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die diesem aus der streitgegenständlichen Behandlung entstanden sind und entstehen werden aus §§ 280 Abs. 1, 281, 278, 253 BGB in Verbindung mit einem zwischen dem Kläger, vertreten durch seine Eltern, und der Beklagten geschlossenen Behandlungsvertrag bzw. §§ 823, 831, 253 BGB, 229 StGB.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Fortsetzung der vaginalen Geburt des Klägers am 31.03.2011 nach 18.00 Uhr nicht mehr von einer wirksamen Einwilligung der Mutter des Kläger gedeckt war und damit als Verletzung des Behandlungsvertrages und rechtswidrige Körperverletzung zu werten ist. Denn spätestens um 18.00 Uhr hätte eine Aufklärung der Mutter des Klägers über eine Schnittentbindung als echte Behandlungsalternative zur vaginalen Entbindung erfolgen müssen.

Zwar ist die Gebärende nicht über die Möglichkeit einer Schnittentbindung aufzuklären, wenn eine solche nicht medizinisch indiziert ist, aber im Falle einer bestehenden Indikation hat eine entsprechende Aufklärung stattzufinden (vgl. BGH, Urteil vom 19.01.1993, VI ZR 60/92). Der Sachverständige hat hierzu – insoweit von den Parteien nicht angegriffen – ausgeführt, dass die sectio nach dem frustranen Versuch der Vakuumextraktion um 18.41 Uhr absolut indiziert war. Nach Auffassung der Kammer wäre jedoch die Klägerin bereits zu einem früheren Zeitpunkt darüber aufzuklären gewesen, dass eine sectio – jedenfalls relativ – medizinisch indiziert ist.

Nach der 2011 geltenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe [AWMF 015/054 (S1)] bestand bei der Mutter des Klägers aufgrund vorangegangener Schnittentbindung bereits anfänglich eine relative Indikation für eine erneute sectio. Letztlich kann dahinstehen, ob und unter welchen Umständen mit der Mutter des Klägers ursprünglich eine Kaiserschnittentbindung geplant und dieses Behandlungskonzept vor dem Entbindungstermin dahingehend abgeändert wurde, dass zunächst der Versuch einer vaginalen Geburt unternommen werden soll, denn auch im Rahmen des Behandlungskonzepts Vaginalgeburt wäre die Zäsurwirkung des Aufnahme-CTG in Verbindung mit den äußeren Begleitumständen zu beachten, die eine nochmalige Aufklärung der Mutter des Klägers über die Indikation einer sectio erforderlich machte.

Eine ursprüngliche hinreichende Aufklärung der Mutter des Klägers über die relative Indikation einer erneuten sectio nach vorangegangener sectio kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden. Die Mutter des Klägers hat sich in Kenntnis dessen entschieden, zunächst den Versuch einer vaginalen Entbindung zu unternehmen. Bei dieser Sachlage oblag es den für die Beklagte handelnden Ärzten nicht, die Mutter des Klägers stets daran zu erinnern, dass alternativ eine Schnittentbindung in Betracht käme. Eine solche erneute Aufklärungspflicht trat jedoch in dem Zeitpunkt erneut ein, in dem sich Tatsachen ergaben, die eine neue Beurteilung der Indikation einer Schnittentbindung begründeten. Wenn sich nachträglich Umstände ergeben, die zu einer entscheidenden Veränderung der Einschätzung der mit den verschiedenen Entbindungsmethoden verbundenen Risiken und Vorteile führen und die unterschiedlichen Entbindungsmethoden in einem neuen Licht erscheinen lassen, ist zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren diese zu informieren und ihr eine erneute Abwägung der für und gegen die jeweilige Methode sprechenden Gründe zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 28.10.2014, VI ZR 125/13).

Eine solche Tatsachenlage, die eine erneute Beurteilung der Indikation einer sectio aufgrund veränderter Umstände erforderlich machte, lag nach Auffassung der Kammer hier um 18.00 Uhr vor. Grund dafür war das Aufnahme-CTG, welches nach den Ausführungen des Sachverständigen als zumindest suspekt einzuordnen ist und daher eine Fortschreibung des CTG erforderlich machte. Die Kammer hält diese Einschätzung des Sachverständigen für überzeugend und schließt sich ihr uneingeschränkt an. Die Ausführungen des kompetenten Sachverständigen sind durch die einschlägige Fachliteratur belegt und in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Zwar ist es nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht als behandlungsfehlerhaft zu bewerten, dass das CTG zur Durchführung einer Ultraschalluntersuchung zur Lagebestimmung unterbrochen wird. Eine solche Untersuchung nimmt jedoch nur wenige Minuten in Anspruch, so dass bei Beginn der Untersuchung um 17.53 Uhr bei der hier gebotenen Eile mit einem Abschluss der Untersuchung vor 18.00 Uhr zu rechnen war. Soweit die Beklagte einwendet, die Fortschreibung des CTG sei aufgrund des abwehrenden Verhaltens der Mutter des Klägers nicht rechtzeitig möglich gewesen, liegt darin der Grund für die Erforderlichkeit einer nochmaligen Aufklärung der Mutter des Klägers über die veränderte Beurteilung der Indikation einer sectio. Nach der Darstellung der Beklagten habe die Mutter des Klägers eine Untersuchung der Herztöne des Klägers verhindert und eine vaginale Entbindung mit körperlicher Gegenwehr verweigert. Unter diesen Umständen war es nach Auffassung der Kammer erforderlich, die Mutter des Klägers nochmals auf die aufgrund neuer Tatsachen verstärkte Indikation einer Schnittentbindung hinzuweisen, da diese nunmehr als echte Behandlungsalternative neben die vaginale Geburt trat, wobei eine vaginale Geburt mangels erforderlicher Mitwirkung der Schwangeren geringere Erfolgsaussichten hatte als im Zeitpunkt der Aufklärung vor Geburtsbeginn, als noch von einer Mitwirkung ausgegangen wurde. Der Vortrag der Beklagten, eine entsprechende Aufklärung der Mutter des Klägers sei aufgrund deren erregten Zustandes nicht möglich gewesen, verfängt nicht, denn die Beklagte legt nicht dar, dass überhaupt ein entsprechender Versuch unternommen wurde.

Die Kammer geht weiter davon aus, dass sich die Mutter des Klägers bei entsprechender erneuter Aufklärung für die sofortige Durchführung der sectio entschieden hätte. Für den von der Beklagten pauschal erhobenen Einwand der hypothetischen Einwilligung fehlt es an objektiven Anhaltspunkten. Dass die Mutter des Klägers, vor die Wahl gestellt, vaginal oder durch sectio zu entbinden, sich für eine vaginale Entbindung entschieden hätte, steht in Widerspruch zu den tatsächlichen Geschehnissen. Die Beklagte selbst führt aus, die Mutter des Klägers habe sich körperlich gegen eine vaginale Entbindung gewehrt, die Oberschenkel zusammengepresst und das erforderliche Mitpressen verweigert. Die Mutter des Klägers hat in ihrer Anhörung unter anderem ausgeführt, dass sie einer sectio zugestimmt hätte. Dies ist überzeugend aus ihren Ängsten hervorgerufen durch die Erlebnisse bei der ersten Geburt, und dass mit der Beklagten im Rahmen einer Voruntersuchung im März 2011 nur der „Versuch” einer vaginalen Geburt besprochen wurde und die Mutter des Klägers bereits eine Aufklärung für eine mögliche sectio im März 2011 erhalten hatte.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.

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