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Fehlerhafte Verspannung von Schaft und Halsteil bei eingesetzter Prothese

OLG Köln – Az.: 5 U 148/16 – Urteil vom 23.05.2018

Auf die Berufung des Klägers wird das am 8.11.2016 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Köln – 3 O 164/13 – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert.

Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 50.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.8.2012 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger alle künftigen immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 11 % und die Beklagten zu 89 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der am 7.7.1933 geborene Kläger, dem am 20.9.2008 eine Hüfttotalendoprothese rechts im Krankenhaus der Beklagten zu 1) eingesetzt worden war, litt Ende des Jahres 2009 unter schnell zunehmenden Schmerzen in der linken Hüfte. Während des stationären Aufenthalts vom 10.1.2010 bis 21.1.2010 implantierte der Beklagte zu 2) am 11.1.2010 eine Hüfttotalendoprothese links. Hieran schloss sich bis zum 6.2.2010 ein Aufenthalt in der Klinik für Rehabilitation der Beklagten zu 1) an.

Fehlerhafte Verspannung von Schaft und Halsteil bei eingesetzter Prothese
(Symbolfoto: Monstar Studio /Shutterstock.com)

Am 3.3.2010 stellte sich der Kläger wieder im Krankenhaus der Beklagten zu 1) vor. Er berichtete über seit zwei Wochen stark zunehmende Schmerzen in der linken Hüfte und wurde stationär aufgenommen. Die Leukozyten und der CRP-Wert waren nicht erhöht. Am 12.3.2010 erfolgte eine Magnetresonanztomografie des Beckens, bei der sich kein entzündlicher Prozess nachweisen ließ. Eine am 17.3.2010 vorgenommene Punktion des Hüftgelenks ergab am 20.3.2010 den mikrobiologischen Befund von Bacillus subtilis. Am 22.3.2010 unterzeichnete der Kläger eine Einwilligungserklärung, in der als vorgesehenes Operationsverfahren handschriftlich „Revision, Fasziennaht, ggf. Inlaywechsel“ eingetragen ist. Zu den vorgedruckten speziellen Risiken ist handschriftlich „ggf. Prothesenausbau, keine Prothese für 8 Wochen, ggf. Folgeoperationen“ hinzugesetzt. Der Beklagte zu 2) führte den Eingriff am 23.3.2010 durch. In dem Operationsbericht, der als Diagnose eine (a)septische Prothesenlockerung anführt, heißt es, dass zunächst lediglich ein Hüftkopfkeramikwechsel vorgesehen gewesen sei, sich jedoch bei einem hierzu erfolgten leichten Schlag die Prothese vollständig aus ihrem Zementmantel gelockert habe. Darauf nahm der Beklagte zu 2) eine Prothesenexplantation vor und schuf eine sog. Girdlestone-Situation. Postoperativ erhielt der Kläger das Antibiotikum Clindamycin intravenös. Die histologische Untersuchung des entnommenen Gewebes ergab keinen Anhalt für eine Infektion. Die intraoperativ entnommenen Abstriche zeigten nach Bebrütung keinen Bakteriennachweis. Nach Eingang des mikrobiologischen Befundberichts vom 3.4.2010 setzten die Beklagten Clindamycin am 6.4.2010 ab. Ab dem 11.4.2010 traten Durchfälle auf.

Wegen des Verdachts auf eine Antibiotika assoziierte Kolitis wurde der Kläger am 13.4.2010 in das F Krankenhaus L verlegt, wo er unter der Diagnose einer Clostridien-Enteritis bis zum 20.4.2010 behandelt wurde. Nach einer vorübergehenden Zurückverlegung in das Krankenhaus der Beklagten zu 1) schlossen sich Aufenthalte in der G Klinik in S und eine stationäre Kurzeitpflege an. Eine am 27.5.2010 im Krankenhaus der Beklagten zu 1) vorgenommene Punktion ergab nach Bebrütung keinen Bakteriennachweis.

Während des stationären Aufenthalts vom 14.6.2010 bis zum 28.6.2010 setzte der Beklagte zu 2) am 15.6.2010 links eine Hüfttotalendoprothese mit einem Schaft vom Typ Hyperion ein, der aus Schaft, Hals und Kopf bestand. Hierzu heißt es im Operationsbericht: „Einbringen des 160er Schaftes, 14 mm Durchmesser mit 15er-Hals gekoppelt“. Hieran schloss sich bis zum 23.7.2010 ein Aufenthalt in der Klinik für Rehabilitation der Beklagten zu 1) an.

Am 13.1.2011 stellte sich der Kläger ambulant im Krankenhaus der Beklagten zu 1) vor und berichtete über Schmerzen in der linken Hüfte. Am 12.4.2011 suchte er bei andauernden Hüftgelenksbeschwerden die Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums C auf. Hier ergab sich der Verdacht auf einen Bruch der Steckkonusverbindung. Bei der dort während des stationären Aufenthalts vom 26.5.2011 bis 10.6.2011 am 1.6.2011 durchgeführten Revisionsoperation zeigte sich, dass Schaft und Halsteil nicht fest miteinander verbunden waren. Der Operateur wechselte das Halsteil und den Kopf.

Der Kläger hat die Beklagten auf ein Schmerzensgeld von mindestens 60.000 EUR und Feststellung der Ersatzpflicht in Anspruch genommen. Er hat ihnen – teils gestützt auf zwei Bescheide der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler (Anlagen K 1 und K 2) und drei Gutachten von Prof. Dr. T (Anlagen K 3 und K 4 sowie Bl. 140 ff. d.A.) – vorgeworfen, dass die Implantation der Hüfttotalendoprothese auf der linken Seite nicht indiziert gewesen sei, dass die erforderlichen Hygienemaßnahmen nicht eingehalten worden seien, dass auf die bakterielle Infektion des Hüftgelenks nicht rechtzeitig reagiert worden sei, dass bei der Revisionsoperation vom 23.3.2010 ein einzeitiges und nicht ein zweizeitiges Vorgehen mit der Schaffung einer Girdlestone-Situation angezeigt gewesen sei und dass der Beklagte zu 2) bei dem Eingriff vom 15.6.2011 die Schaftteile der Prothese nicht ordnungsgemäß miteinander verspannt habe. Vor den drei Eingriffen sei er nicht über deren Risiken und Alternativen aufgeklärt worden. Er leide unter Schmerzen im linken Hüftgelenk bis in das Bein hinunter in Ruhe und bei Belastung, einer eingeschränkten Beweglichkeit des linken Hüftgelenks und einer Atrophie der Muskulatur. Er sei auf Gehhilfen und außerhalb des Hauses auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn aus der fehlerhaften Behandlung ab Januar 2010 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 60.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.8.2012,

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle künftigen immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung ab Januar 2010 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen

Sie sind den gegen sie erhobenen Vorwürfen entgegen getreten.

Das Landgericht hat ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. X eingeholt (Bl. 98 ff. d.A.) und den Sachverständigen angehört (Bl. 155, 205R d.A.). Ferner hat es den Beklagten zu 2) und den Zeugen Dr. T2 zum Ablauf der Operation vom 15.6.2010 vernommen (Bl. 204 ff. d.A.).

Daraufhin hat es die Klage abgewiesen. Ein Behandlungsfehler sei nicht erwiesen. Nach den klinischen und radiologischen Befunden sei die am 11.1.2010 vorgenommene Implantation einer Hüfttotalendoprothese indiziert gewesen. Es gebe keine Hinweise, dass dabei der hygienische Standard nicht beachtet worden sei. Da die bei der Revisionsoperation vom 23.3.2010 entnommenen Gewebeproben keine Bakterienbesiedlung gezeigt hätten, sei die zunächst vermutete Infektion des Implantats aus der Rückschau ohnehin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Auch bei negativen Probeergebnissen könne allerdings mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine septische Lockerung vorliegen, so dass ein abwartendes Vorgehen, wie es geschehen sei, vertretbar gewesen sei. Es bestehe dann eine größere Chance auf eine Ausheilung. Eine eindeutige Überlegenheit eines einzeitigen Verfahrens bei einer Revision gegenüber dem zweizeitigen Verfahren bestehe nicht. Die behauptete Längenabweichung der Beine von 2 cm entspreche bei Revisionsoperationen noch dem Facharztstandard. Es stehe nicht fest, dass der Beklagte zu 2) bei der Operation am 15.6.2010 die Prothesenteile nicht regelrecht miteinander verspannt habe. Zwar sei dem Operationsbericht keine den Vorgaben des Herstellers entsprechende Montage zu entnehmen. Der Beklagte zu 2) habe zumindest das Wort verspannen statt der Formulierung gekoppelt verwenden müssen. Aus der Aussage des Zeugen Dr. T2, der als Assistent an der Operation mitgewirkt habe, folge jedoch, dass der Beklagte zu 2) stets eine Verblockung bis hin zum angestrebten Bolzenbruch vorgenommen habe. Die Beklagten hafteten nicht wegen mangelhafter Aufklärung. Vor keinem der drei Eingriffe habe sich der Kläger in einem Entscheidungskonflikt befunden.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung, mit der er seine erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt. Hilfsweise begehrt er die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Mit der Berufungsbegründung hat er ein weiteres orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. X2 (Bl. 246 ff. d.A.) vorgelegt. Am 23.3.2010 seien der Ausbau der Prothese und die Schaffung einer sog. Girdlestone-Situation fehlerhaft gewesen. Beim Kläger habe kein Infekt, sondern eine Frühlockerung der Hüftprothese vorgelegen. Die Laborwerte hätten im Normbereich gelegen. Klinische Entzündungszeichen hätten niemals bestanden. Eine Magnetresonanztomografie habe keinen Hinweis auf eine Entzündung im künstlichen Hüftgelenk ergeben. Der nachgewiesene Keim Bacillus subtilis sei ein apathogenes Bakterium. Eine nicht entzündliche Lockerung sei durch die negativen Befunde der mikrobiologischen Untersuchung und der pathologischen Untersuchung bestätigt worden, so dass mit der Implantation einer neuen Hüftprothese nicht drei Monate habe zugewartet werden dürfen. Das Antibiotikum Clindamycin, welches zu der antibiotikainduzierten Darminfektion geführt habe, sei zu lange verabreicht worden. Am 15.6.2010 hätten die Beklagten die Prothesenkomponenten nicht ordnungsgemäß verspannt. Aus den postoperativen Röntgenbildern ergebe sich, dass der Haltsteil der Prothese um etwa 3 … verkippt aufgesetzt worden sei. Deshalb habe nur eine punktförmige Fixierung vorgelegen, die sich gelockert habe. Eine solche Achsabweichung erkenne man schon mit dem Auge und bei der Bildwandlerkontrolle. Über die Alternativen einer einzeitigen Operation oder einer Girdlestone-Situation sei er, der Kläger, nicht aufgeklärt worden. Insbesondere habe man ihm erläutern müssen, dass keine gesicherte Infektion vorgelegen habe. Er hätte es vorgezogen, einzeitig operiert zu werden statt drei Monate in einer überaus belastenden Situation zu verbringen.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Prof. Dr. L2 (Bl. 346 ff. d.A.) und, nachdem der Kläger ein Ergänzungsgutachten von Prof. Dr. X2 (Bl. 432 ff. d.A.) und ein Gutachten von Prof. Dr. N (Bl. 454 ff. d.A.) vorgelegt hat, durch Anhörung des Sachverständigen. Ferner hat der Senat den Zeugen Dr. H vernommen und den Kläger angehört (Bl. 504 ff. d.A.).

II.

Die Berufung ist zum überwiegenden Teil begründet.

Der Kläger kann von den Beklagten gemäß §§ 280 Abs. 1, 823 Abs. 1, 831 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB die Zahlung eines Schmerzensgelds von 50.000 EUR verlangen. Der Feststellungsantrag ist begründet. Ein weitergehender Schmerzensgeldanspruch besteht nicht. Den Beklagten fällt ein schadensursächlicher Behandlungsfehler zur Last.

1. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Beklagte zu 2) bei der Operation vom 15.6.2010 den Schaft und das Halsteil der eingesetzten Prothese vom Typ Hyperion fehlerhaft miteinander verspannt hat, was sich die Beklagte zu 1) zurechnen lassen muss.

Anders als durch einen Fehler beim Verspannvorgang ist die bei der Revisionsoperation vom 1.6.2011 festgestellte Tatsache, dass der Schaft und das Halsteil nicht fest miteinander verbunden waren, nicht zu erklären. Andere den Befund erklärende Tatsachen wie ein Materialfehler oder ein Trauma des Klägers stellen sich entweder als theoretische und damit für die Würdigung der Beweise gemäß § 286 ZPO unerhebliche Möglichkeit dar oder sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Für einen Sturz oder ein sonstiges Trauma des Klägers nach der Operation vom 15.6.2010 gibt es keine Anhaltspunkte. Da der Kläger den Vollbeweis eines Behandlungsfehlers geführt hat, kann dahinstehen, ob im vorliegenden Zusammenhang nicht auch eine Beweislastumkehr nach den Grundsätzen über den voll beherrschbaren Risikobereich zu seinen Gunsten eingreift.

Der Sachverständige Prof. Dr. L2 hat insbesondere bei seiner Anhörung ausgeführt, dass es für die Lockerung der Prothesenbestandteile keine andere logische Erklärung gebe als eine Unzulänglichkeit bei der Einbringung der Prothese. Die Wahrscheinlichkeit eines Materialfehlers hat er als so gering angesehen, dass er – nach Erläuterung der Anforderungen an eine richterliche Überzeugungsbildung durch den Senat – keine vernünftigen Zweifel hatte, dass die Verantwortung für die Lockerung beim Operateur lag. Anders als Prof. Dr. X2 hat Prof. Dr. L2 zwar den postoperativen Röntgenbildern ein verkipptes und verkantetes Aufsetzen des Halsteils auf den Schaft nicht entnehmen können und ergänzend dargelegt, dass ein verkantetes Aufsetzen bei normalem Umgang mit den Prothesenteilen nicht möglich sei. Er hat aber andere Fehlerquellen beschrieben, die zu der am 1.6.2011 festgestellten Lockerung führen konnten. Es könne vom Operateur nicht fest genug oder umgekehrt zu fest gedreht worden seien. Auch könne es vergessen worden seien, überhaupt zu verspannen.

Die Ausführungen von Prof. Dr. L2 überzeugen. Sie decken sich mit den Darlegungen von Prof. Dr. X., der die Wahrscheinlichkeit eines Materialfehlers sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei seiner Anhörung als sehr gering beschrieben hat. Prof. Dr. X2 und Prof. Dr. N sind im Ergebnis ebenfalls von einem Fehler beim Verspannvorgang ausgegangen. Entscheidend kommt hinzu, dass die fachkundigen Beklagten – auch in der auf die mündliche Anhörung von Prof. Dr. L2 nachgelassenen Stellungnahmefrist – keine Fallberichte oder Studien aufzeigt, vortragen oder vorlegt haben, nach denen es in der Vergangenheit in einem oder mehreren anderen Fällen aufgrund eines Materialfehlers zu einer Lockerung von Schaft und Halsteil einer Hyperionprothese, wie sie hier verwendet wurde, gekommen ist. Dies unterstreicht, dass eine andere Ursache als ein Fehler das Operateurs nur eine theoretische und damit im Rahmen der Beweiswürdigung unbeachtliche Möglichkeit darstellt.

2. Die fehlerhafte Verspannung von Schaft und Halsteil hat einen gesundheitlichen Schaden des Klägers verursacht.

a) Die unmittelbare Folge des Behandlungsfehlers und der primäre Schaden lagen darin, dass die Prothese locker war oder sich bis zur Revisionsoperation vom 1.6.2011 sukzessive lockerte. Dies bewirkte während eines Zeitraums von etwa einem Jahr, wie Prof. Dr. L2 dargelegt hat, eine Fehlfunktion der Hüftprothese und eine Zunahme der Beschwerdesymptomatik, die sich in zunehmenden Schmerzen und einer Reduktion der Gehfähigkeit äußerte. Dabei ist aber zu bedenken, dass der Kläger auch bei fehlerfreier Durchführung der Operation vom 15.6.2010 nicht sofort beschwerdefrei gewesen wäre. Vor der Operation vom 23.3.2011 war er nicht geh- und stehfähig. Hieran schloss sich über einen Zeitraum von fast drei Monaten die Girdlestone-Situation an, in der sich der Zustand nicht besserte.

b) Der Kläger hat ferner mit der erforderlichen Gewissheit im Sinne von § 287 Abs. 1 ZPO bewiesen, dass die heute bestehenden, dauerhaften Beeinträchtigungen auf dem Behandlungsfehler und dem Primärschaden beruhen.

Der Sachverständige Prof. Dr. L2 hat bei der von ihm vorgenommenen Untersuchung des Klägers festgestellt, dass dieser, wie von ihm vorgetragen, unter Schmerzen im linken Hüftgelenk und einer eingeschränkten Beweglichkeit des linken Hüftgelenks leidet sowie bei kurzen Strecken auf Gehhilfen oder eine Hilfsperson und im Übrigen auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass diese Beschwerdebild heute nicht vorliegen würde und beim Kläger eine Hüftfunktion bestünde wie gewöhnlich nach der Implantation einer Prothese, wenn den Beklagten der festgestellte Fehler nicht unterlaufen und die Prothese im Zeitraum bis zum 1.6.2011 nicht gelockert gewesen wäre. Prof. Dr. L2 hat dargelegt, dass der Verlauf für den Kläger bei ordnungsgemäßer Durchführung der Operation vom 15.6.2010 sicher günstiger gewesen wäre. Er, der Sachverständige, gehe davon aus, dass der Kläger wieder gehfähig geworden wäre. Auch wenn man dies nicht sicher sagen könne, hätte es eine gute Chance gegeben.

Die Ausführungen von Prof. Dr. L2 überzeugen. Denn der Sachverständige hat dargelegt, warum ein nach Implantation oder Reimplantation einer Hüftprothese üblicher Verlauf ohne den Behandlungsfehler der Beklagten und die Lockerung der Prothese überwiegend wahrscheinlich gewesen wäre. Er hat darauf hingewiesen, dass die vorübergehend bestehende Girdlestone-Situation keine dauerhaften Schäden mit sich gebracht habe, weil die Einbringung der Prothese am 15.6.2010 regelrecht möglich war oder möglich gewesen wäre. Ferner hat er erläutert, dass man den Kläger ohne die Lockerung der Prothese nach dem 15.6.2010 wesentlich besser hätte mobilisieren und rehabilitieren können. Von der knöchernen Seite her sei alles in Ordnung gewesen, so dass die Behandler sich nur um die Weichteile hätten kümmern müssen.

In rechtlicher Hinsicht stellen sich die Beeinträchtigungen, die nach der erfolgreichen Revisionsoperation vom 15.6.2011 andauern, als Sekundärschäden dar, hinsichtlich derer die haftungsausfüllende Kausalität nur nach dem herabgesetzten Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO festzustellen ist. Es handelt sich um mittelbare Folgen, die nach der Beseitigung der den Beklagten unmittelbar anzulastenden Prothesenlockerung fortbestehen. Nach den Darlegungen von Prof. Dr. L2 beruhen sie im Wesentlichen darauf, dass in dem Zeitraum, in dem die Prothesenlockerung bestand, keine ausreichende Mobilisation und Rehabilitation des Klägers möglich war, was zur Verfestigung der Funktionseinschränkung und des Beschwerdebildes führte.

3. Zum Ausgleich der immateriellen Beeinträchtigungen, die sich aus den fehlerbedingten Schmerzen und der eingeschränkten Beweglichkeit des linken Hüftgelenks sowie der eingeschränkten Gehfähigkeit ergeben, hält der Senat ein Schmerzensgeld von 50.000 EUR für erforderlich. Dabei hat er das hohe Ausmaß der Beschwerden, welches auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, bei der der Kläger anwesend war, deutlich geworden ist, und den langen Zeitraum berücksichtigt, in dem die Schmerzen und die erhebliche Einschränkung des Gehvermögens bestanden und voraussichtlich noch bestehen werden.

4. Ein höheres Schmerzensgeld ist nicht gerechtfertigt. Insbesondere sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht einzubeziehen, die zwischen der ersten Hüftoperation auf der linken Seite am 11.1.2010 und der Operation vom 15.6.2010 bestanden.

a) Ein schadensursächlicher Behandlungsfehler der Beklagten lässt sich für die Zeit vor der Operation vom 15.6.2010 nicht feststellen.

aa) Soweit der Kläger geltend gemacht hat, dass die am 11.1.2010 durchgeführte Implantation der Hüfttotalendoprothese nicht indiziert gewesen sei, dass dabei die erforderlichen Hygienemaßnahmen nicht eingehalten worden seien und dass auf die bakterielle Infektion des Hüftgelenks oder den entsprechenden Verdacht hin nicht rechtzeitig reagiert worden sei, sind seine Vorwürfe weder durch die Gutachterkommisssion noch durch Prof. Dr. T, Prof. Dr. X, Prof. Dr. X2, Prof. Dr. L2 oder Prof. Dr. N bestätigt worden. Entgegen den Ausführungen auf S. 10 der Berufungsbegründung ergibt sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. X2 nicht, dass der Primäreingriff nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprach.

bb) Prof. Dr. L2 und Prof. Dr. X haben überzeugend begründet, warum am 23.3.2010 nicht nur ein einzeitiges Vorgehen, sondern auch ein zweizeitiges Vorgehen ohne den Einsatz eines Spacers unter Schaffung einer sog. Girdlestone-Situation indiziert war. Den durch Studien belegten Ausgangspunkt, dass ein zweizeitiges Vorgehen trotz der damit verbundenen Nachteile (vorübergehende Beinverkürzung, Instabilität in der Hüfte, Immobilität, weitere Operation) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu einer Infektausheilung führt, ziehen auch Prof. Dr. X2 und Prof. Dr. N nicht in Zweifel. Dass bei seit Mitte Februar 2010 zunehmenden Beschwerden und einer intraoperativ festgestellten Prothesenlockerung ungeachtet aller weiteren Befunde ein Infekt aus Sicht des Operateurs als Ursache nahe lag, ist für den Senat, der oft mit vergleichbaren Fällen befasst ist, ohne weiteres nachvollziehbar. Hinsichtlich des von den Beklagten nicht eingesetzten Spacers hat Prof. Dr. L2 schlüssig darauf hingewiesen, dass dieser die Hüftpfanne, für die im Operationsbericht bereits ein Defekt beschrieben ist, weiter hätte schädigen können.

cc) Der Umstand, dass sich die Revisionsoperation nach der Schaffung der Girdlestone-Situation am 23.3.2010 länger als nach dem Standard des Jahrs 2010 üblich hinauszögerte, kann nach der schlüssigen Beurteilung von Prof. Dr. L2 schon deshalb nicht als Behandlungsfehler gewertet werden, weil beim Kläger eine Clostridien-Enteritis diagnostiziert worden ist, die vorrangig behandelt und saniert werden musste.

dd) Die Weitergabe des Antibiotikums Clindamycin vom 4.4.2010 bis zum 6.4.2010 stellte jedenfalls keinen zur Beweislastumkehr führenden groben Behandlungsfehler dar. Da sich nach den Ausführungen von Prof. Dr. L2 nicht sicher angeben lässt, ob die um drei Tage längere Verabreichung zur Entstehung der im Fn Krankenhaus L behandelten Clostridien-Enteritis geführt hat, bleibt der Kläger für einen auf einem etwaigen Behandlungsfehler beruhenden Schaden beweisfällig. Die Weitergabe des am 23.3.2010 angesetzten Antibiotikums über den 4.4.2010 hinaus, als der unauffällige mikrobiologische Befund des am 23.3.2010 intraoperativ entnommenen Abstrichs vorlag, ist nicht objektiv unverständlich. Denn Prof. Dr. L2 hat erläutert, dass sich das Zeitintervall, nach dem mikrobiologische Untersuchungen bewertet würden, seit dem Jahr 2010 auf 14 Tage verlängert habe. Diese heute maßgebliche Frist überschreitet die von den Beklagten ohne positiven Keimbefund veranlasste Antibiotikagabe nicht.

b) Die Beklagten haften dem Kläger nicht wegen mangelhafter Eingriffs- und Risikoaufklärung.

In der Berufungsinstanz verfolgt der Kläger die von ihm erhobene Aufklärungsrüge nach dem Inhalt der Berufungsbegründung nur insoweit weiter, als es um die unterlassene Aufklärung über Behandlungsalternativen vor dem Revisionseingriff vom 23.3.2010 geht.

Es kann dahinstehen, ob die Beklagten den Kläger unter Erläuterung der jeweiligen Vor- und Nachteile darüber hätten aufklären müssen, dass, sofern sich intraoperativ eine auf einen Infekt hinweisende Prothesenlockerung zeigen sollte, ein bloßer Ausbau der Prothese und ein Wiedereinbau nach einer Wartezeit (zweizeitiges Vorgehen) oder aber ein sofortiger Prothesenwechsel (einzeitiges Vorgehen) möglich waren. Ebenfalls kann offen bleiben, ob die Beklagten dem Kläger entweder präoperativ die Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten hätten überlassen müssen oder sich, da eine endgültige Festlegung entsprechend den Erläuterungen von Prof. Dr. L2 sinnvoll erst während des Eingriffs möglich war, von ihm zu einer intraoperativen Entscheidung je nach Befund hätten ermächtigen lassen müssen.

Jedenfalls greift der von den Beklagten erhobene Einwand einer hypothetischen Einwilligung durch. Der Kläger hat diesen nicht entkräftet, indem er für den Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht hat. Er hat bei seiner Befragung durch den Senat angegeben, dass er, wenn die Ärzte ihm gesagt hätten, dass das ihre Entscheidung sei, dass man das ihnen überlassen müsse, ja wohl keine Chance gehabt habe. Dann müsse man es wohl dem Operateur überlassen. Der Kläger hat hierdurch deutlich gemacht, dass er sich in jedem Fall nach der gemäß den Erläuterungen von Prof. Dr. L2 gebotenen ärztlichen Empfehlung gerichtet hätte, dem Operateur die Wahl zwischen einem einzeitigen und einem zweizeitigen Vorgehen je nach intraoperativen Befund einzuräumen. Angesichts der Schwierigkeiten einer Beurteilung vor der Operation liegt ein solches Verhalten eines Patienten auch besonders nahe.

4. Die Beklagten schulden gemäß § 288 Abs. 1 BGB Verzugszinsen ab dem 21.8.2012.

5. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die entscheidungserheblichen Fragen sind solche des Einzelfalls.

Berufungsstreitwert: 90.000 EUR

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