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Grober Behandlungsfehler bei Nichtbeachtung von klinischen Befunden

LG Köln – Az.: 25 O 302/13 – Urteil vom 06.07.2016

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein ererbtes Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,- EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.04.2009 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche vergangene materiellen Schäden, die ihr infolge der im August 2008 erfolgten fehlerhaften Behandlung ihres Vaters Herrn F, geboren 04.05.1946, gestorben 13.08.2008, entstanden sind, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 93% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 7%.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110% des zu vollstreckenden Betrages.

Tatbestand

Die am 13.11.1980 geborene Klägerin verfolgt mit der vorliegenden Klage ererbte und eigene Schadensersatzansprüche aufgrund einer grob fehlerhaften ärztlichen Behandlung ihres Vaters, des Patienten Herrn F, geboren 04.05.1946, gestorben im Haus der Beklagten zu 1) am 13.08.2008. Die Beklagte zu 1) ist Trägerin des Krankenhauses A. Chefarzt der chirurgischen Klinik ist der Beklagte zu 2).

Der Vater der Klägerin, im Folgenden der Patient, stellte sich am 28.07.2008 mit Bauchschmerzen unklarer Genese bei dem niedergelassenen Internisten Herrn P vor, es wurden die Diagnosen chronische Atriumgastritis und Verdacht auf ein Coecum-Karzinom (Blinddarm-Karzinom) gestellt. Zur operativen Versorgung überwies der Internist den Patienten zunächst in das G Hospital in Köln. Weil der Patient noch eine zweite Meinung einholen wollte, stellte er sich am 04.08.2008 im Haus der Beklagten zu 1) vor. Noch am selben Tag wurde er dort aufgrund des suspekten Coecumprozesses stationär aufgenommen.

Nach Aufklärung am 06.08.2008 wurde beim Patienten am 07.08.2008 eine Hemikolektomie (operative Entfernung der Hälfte des Dickdarms) durchgeführt, Operateur war der Beklagte zu 2). Er diagnostizierte eine bösartige Neubildung am Coecum. Es wurde offen operiert mit Anlage einer Seit-zu-Seit-Anastomose.

Der frühe postoperative Verlauf war zunächst unauffällig und der Patient wurde am 09.08.2008 von der Intensivstation auf eine normale Station zurückverlegt. Dort kam es zu einer nicht unerheblichen Verschlechterung, deren Beginn und Einzelheiten streitig sind. Der Patient litt ab dem 10.08.2008 unter Übelkeit, Erbrechen, reduziertem Allgemeinzustand, Schmerzen und Blähungen im Zusammenhang mit Darmuntätigkeit (Atonie). Jedenfalls in der Nacht vom 12.08. auf den 13.08.2008 verschlechterte sich der Zustand des Patienten erheblich und er wurde mehrfach von der Nachtschwester besucht, die den diensthabenden Chirurgen Dr. K verständigte. Der Pflegedienst vermerkte um 3:30 Uhr in den Behandlungsunterlagen: „Dr. H. Info. Patient baut ab, er scheidet nicht aus (Urin). Puls 120, Blutdruck 90/60, Kaltschweißig, Temperatur 37,5 … C, Blutzucker 108.“ Am 13.08.2008 um 7:15 Uhr morgens wurde der Patient tot in seinem Zimmer aufgefunden. Eine Obduktion wurde nicht durchgeführt.

Grober Behandlungsfehler bei Nichtbeachtung von klinischen Befunden
(Symbolfoto: beeboys/Shutterstock.com)

Die Klägerin behauptet, es sei auf grob fahrlässige Weise die Entwicklung eines Ileus (Dammverschluss) mit sich entwickelnder Sepsis und die daraus folgende operative Behandlungsbedürftigkeit verkannt worden. Es sei laborchemische Diagnostik unterlassen worden. In der Nacht vom 12.08. auf den 13.08.2008 sei verkannt worden, dass sich der Patient bereits in einem Schockzustand auf der Grundlage einer Sepsis befunden habe. Dass der Patient aufgrund dessen nicht sofort auf die Intensivstation verbracht worden sei, sei eindeutig falsch und schlechterdings unverständlich gewesen. Spätestens jetzt hätten sofortige laborchemische Kontrollen durchgeführt und eine Stabilisierung des Kreislaufes herbeigeführt werden müssen. Ohne Überwachung der Vitalfunktionen sei der Patient stattdessen in einem lebensbedrohlichen Zustand auf der Normalstation zurückgelassen worden und erst rund 4 Stunden später sei das Versterben des Patienten bemerkt worden. Der Tod sei qualvoll aufgrund der unterbliebenen Behandlung eingetreten. Insgesamt sei ein Todeskampf über mehrere Tage erfolgt, der von den Beklagten völlig verkannt worden sei. Die Klägerin stützt sich bei ihren Vorwürfen auf mehrere private Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. T und Dr. J.

Die Klägerin behauptet weiter, dass aufgrund des Todes ihres Vaters eine seit dem Mord an ihrem Bruder (1997 auf offener Straße in den USA erschossen) bestehende Depression sich massiv verschlimmert habe.

Die Klägerin ist daher der Ansicht, dass ihr aus ererbtem Recht und aus eigenem Recht ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.000 EUR zustehe.

Zudem macht die Klägerin einen Feststellungsantrag geltend wegen erheblicher finanzieller Einbußen. Hierbei geht es um die Beerdigungskosten sowie insbesondere um einen Anspruch auf Unterhaltsschaden sowie Verdienstausfall. Zum Unterhaltsschaden behauptet die Klägerin, dass sie wegen des Todes ihres Vaters ihre Ausbildung, ein Architekturstudium, nicht habe fortführen können, da sie zum einen seelisch aus der Bahn geworfen worden sei und zum anderen sich um ihr Erbe habe kümmern müssen, das aus mehreren Münz-Waschsalons, einem italienischen Restaurant, ganz erheblichen Schulden und weiterem bestand. Letztlich sei sie an der Herausforderung gescheitert. Seither habe sich ihre Depression noch verschlechtert.

Die Klägerin beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin aus der fehlerhaften Behandlung ihres Vaters Herrn F, geb. am 04.05.1946, verstorben am 13. August 2008, im August 2008 ein angemessenes ererbtes und eigenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Betrag in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes gestellt wird, mindestens jedoch insgesamt 20.000 EUR nebst 5 % Punkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.04.2009,

und festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihr infolge der fehlerhaften Behandlung ihres Vaters Herrn F, geb. am 04.05.1946, verstorben am 13. August 2008, im August 2008 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten bestreiten die geltend gemachten Ansprüche zum Grund und zur Höhe. Sie tragen vor, der Patient sei postoperativ engmaschig betreut und überwacht worden und die etwaige Notwendigkeit einer Relaparotomie sei dabei stets im Blick behalten und mehrfach überprüft worden. Gebotene Diagnostik sei durchgeführt worden, insbesondere seien Laborbefunde erhoben worden. Diese Werte belegten die nunmehr von der Klägerin dargestellte dramatische Entwicklung in den Tagen vor dem Tod des Patienten nicht, die klinischen Untersuchungen seien ebenfalls keineswegs von einem mehrtägigen Todeskampf gezeichnet gewesen. Septische Temperaturen hätten zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Im gebotenen Umfang seien Konsile durchgeführt worden. Einen massiven Einbruch des Patienten habe es nie gegeben. Insbesondere der CT-Befund vom 12.08.2008 habe ergeben, dass kein Infekt vorliege und eine Insuffizienz der Anastomose und ein Abszess ausgeschlossen werden konnten und deshalb einer Relaparotomie nicht habe durchgeführt werden müssen. Es habe eine ausführliche Erörterung des CT-Befundes mit dem Radiologen stattgefunden. Auch mit dem Internisten sei die Frage einer Relaparotomie am 12.08.2008 ausführlich erörtert worden. Aufgrund der sich an diesem Tag anzeigenden Besserung habe mit der Relaparotomie abgewartet werden dürfen, da sie ihrerseits nicht ohne Gefahren für einen kürzlich operierten Patienten sei. Der Patient habe am 12.08.2008 deutlich weniger krank gewirkt. Darmgeräusche seien festgestellt worden und hätten angezeigt, dass die Peristaltik (Darmtätigkeit) in Gang gekommen sei. Dass überhaupt ein Dünndarmileus vorgelegen habe, werde bestritten. Er werde durch die klinischen Befunde und die Laborwerte nicht belegt.

Der in der Nacht vom 12.08.2008 auf den 13.08.2008 diensthabende Chirurg, Herr Dr. K, sei ein erfahrener Facharzt für Chirurgie gewesen und er habe den Patienten um 3:30 Uhr als ansprechbar, kreislaufstabil und schmerzfrei erlebt. Die klinische Untersuchung habe ein weiches und geblähtes Abdomen gezeigt. Daher hätte der Patient nicht auf die Intensivstation verlegt werden müssen. Auffällig sei lediglich ein Pulsanstieg auf über 100 Schläge pro Minute gewesen und deshalb habe er wegen des Verdachts einer Verstopfung des Harnblasenkatheters angeordnet, dass die Krankenschwester den Katheter durchspüle, was erfolgt sei. Der Patient habe darin eingewilligt, sich bei Persistenz seiner Beschwerden erneut zu melden. Die diensthabende Krankenschwester habe den Patienten zuletzt um 6:40 Uhr aufgesucht und unauffällig gefunden. Als der Beklagte zu 2) im Rahmen der Visite am 13.08.2008 um 7:15 Uhr den Patienten tot vorgefunden habe, habe der Anblick des verstorbenen Patienten gezeigt, dass es keinen Todeskampf gegeben haben könne, so dass von einem Sekundenherztod auszugehen sei. Der Beklagte zu 2) habe daraufhin gegenüber der Klägerin und weiteren Familienangehörigen auf die Durchführung einer Obduktion gedrängt. Damit sei die Familie des Patienten – unstreitig – jedoch nicht einverstanden gewesen. Daher könne kein Kausalzusammenhang zwischen der ärztlichen Behandlung und dem Tod festgestellt werden, da die konkrete Todesursache aufgrund der Verweigerung einer Obduktion nicht mehr feststellbar sei.

Die Beklagten bestreiten zudem eigene Ansprüche der Klägerin persönlich. Zum einen seien eigene Schmerzensgeldansprüche der Klägerin verjährt, da sie sie nicht vor September 2015 geltend gemacht habe. Weiterhin gelte, dass ein Schockschaden, der ein Schmerzensgeld für einen Angehörigen begründen könne, nicht belegt sei. Aussagekräftige Behandlungsunterlagen für den fraglichen Zeitraum gebe es nicht, es gebe nur rudimentäre und nicht hinreichend aussagekräftige Atteste bzw. Behandlungsunterlagen ab einem Zeitpunkt von mehreren Jahren nach dem Tod des Vaters. Gerichtsbekannt sei, dass ein Schockschaden mit pathologischem Krankheitsbild regelmäßig unmittelbar an das traumatische Erlebnis anschließe und nicht erst viele Jahre später auftrete.

Auch ein Anspruch auf Übernahme der Unterhaltskosten bestehe nicht. Ein Anspruch auf Ausbildungsunterhalt könne nur dann bestehen, wenn es sich um die erste Berufsausbildung handele und ihr zeitlich im üblichen Rahmen ernsthaft nachgegangen werde, dies sei nicht hinreichend dargetan. Die Klägerin habe nach dem Tod des Vaters die Geschäftsführung der Z GmbH übernommen und behauptet wird, dass sie eine sie dazu befähigende abgeschlossene Berufsausbildung gehabt habe. Bestritten wird, dass das Architekturstudium die erste Berufsausbildung der Klägerin gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Todes des Vaters habe die Klägerin zudem die Regelstudienzeit für ein Architekturstudium bereits um vier Jahre bzw. acht Semester überschritten und es mithin keinesfalls ernsthaft und im üblichen zeitlichen Rahmen betrieben. Die Klägerin sei seit dem Jahr 2008, in dem ihr Vater verstarb, bis zumindest Ende 2014 durchgängig berufstätig gewesen und sie habe ferner im Jahr 2013 eine Ausbildung beim Bundesverwaltungsamt begonnen; zudem verwalte sie den eigenen Immobilienbestand. Es gebe daher keine Anzeichen dafür, dass sie durch eine psychische oder sonstige Krankheit beruflich beeinträchtigt gewesen wäre.

Die Kammer hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 07.03.2014 (Bl. 83 ff. GA durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Q vom 02.09.2014 (Bl. 221 ff. GA) nebst schriftlicher Ergänzung vom 06.03.2015 (Bl. 233 ff. GA) und radiologischem Zusatzgutachten vom 18.08.2014 (Bl. 116 ff. GA) sowie durch Anhörung des chirurgischen Sachverständigen im Termin. Die Kammer hat mit Beschluss vom 22.07.2015 (Bl. 297 ff. GA) Hinweise zur Rechtslage erteilt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Soweit sie unbegründet ist, wird sie abgewiesen.

Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein ererbter Anspruch auf Schadenersatz aus §§ 611, 280, 823 BGB i.H.v. 4000 EUR zu. Die Klägerin hat beweisen können, dass in der Nacht vom 12.08. auf den 13.08.2008 gegen 3:30 Uhr grob fehlerhaft gebotenes ärztliches Handeln gegenüber ihrem Vater, dem Patienten, Herrn F, unterblieb und es nicht ausgeschlossen ist, dass er deshalb unter Schmerzen rund 4 Stunden später starb.

Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Q in seinen Gutachten vom 02.09.2014 (Bl. 221 ff. GA) und 06.03.2015 kann für den Behandlungszeitraum vor der Nacht des 12.08. auf den 13.08.2008 (noch) kein Behandlungsfehler festgestellt werden.

In den frühen Nachtstunden des 13.08.2008 sei jedoch auf die Situation eindeutig falsch und unverständlich reagiert worden. Es habe sich dann ein gänzlich desolater klinischer Zustand gezeigt. Dies werde belegt durch die Notiz der Pflegekraft: „Patient baut ab, er scheidet nicht aus (Urin). Puls 120, Blutdruck 90/60, Kaltschweißig“. Ansteigender Puls bei einem niedrigen Blutdruck mit Kaltschweißigkeit belegen nach den Feststellungen des Sachverständigen, dass der von der Pflege geschilderte Zustand des Patienten das Bild eines Schockzustandes wiedergebe (Bl. 163 unten GA). Insoweit stimmt der gerichtliche Sachverständige dem privaten Sachverständige Dr. J zu. Man spreche von einem septischen Schock, wenn die Symptome des systemischen inflammatorischen Response-Syndroms („SIRS“) vorlegen, eine infektiöse Ursache nachgewiesen werden könne und der systolischen Blutdruck trotz ausreichender Volumengabe mindestens 1 Stunde lang unter 90 mmHg liege. Vom diensthabenden Chirurgen Dr. K sei dieser Zustand komplett verkannt worden. Es sei fehlerhaft gewesen, dass Dr. K, ausgehend von seiner Dokumentation, auch seinem Nachtrag, keine Überprüfung der Kreislaufparameter im Einzelnen vorgenommen und festgehalten habe. Ausgehend von seiner Dokumentation habe er die Beobachtungen der Pflege unzureichend überprüft. Sein Nachtrag unklaren Datums verhalte sich zu den Beobachtungen der Pflegekraft gar nicht. Er sei daher nicht aussagekräftig. Ausgehend von den von der Pflege festgehaltenen Symptomen hätte Dr. K den diensthabenden Oberarzt und den diensthabenden Anästhesisten informieren müssen und er hätte eine Verlegung des Patienten auf die Intensivstation zur Überwachung organisieren müssen. Er hätte die Durchführung einer Blutgasanalyse (BGA) und eines Notfalllabors anordnen müssen. Zudem hätte ein EKG geschrieben werden müssen. Ausweislich der Dokumentation habe Dr. K lediglich eine Spülung des Katheters durch die Schwester angeordnet, dies sei unzureichend gewesen. Auch die Vereinbarung mit den Patienten, dass er sich melden solle, wenn die Beschwerden anhielten, sei vollständig unangemessen im Hinblick auf die gravierende Situation des Patienten gewesen. Dieses ärztliche Vorgehen ist für den gerichtlichen Sachverständigen nicht nachvollziehbar (Bl. 163). Es seien eminent klinische Befunde nicht beachtet und nicht entsprechend gehandelt worden. Auch eine Notfalloperation hätte zu diesem Zeitpunkt angedacht werden müssen. Insgesamt seien die Fehler so, dass sie einem Berufsanfänger nicht passieren dürften, einem Facharzt eindeutig nicht. Es sei zudem unverständlich, dass bei solchen Kreislaufparametern eine Kontrolle des Patienten auch von Seite der Pflege für einen Zeitraum von rund 3 Stunden nicht erfolgt sei. Auch wenn ein Überwachungsbogen vom diensthabenden Arzt nicht angeordnet worden sei, hätte die diensthabende Pflege die Verpflichtung gehabt, regelmäßig nach dem Patienten zu schauen (Bl. 164 GA).

Der Sachverständige bezeichnet die Versäumnisse in der Nacht auf den 13.08.2008 als eindeutig falsch und als unverständlich (Bl. 166 GA). Die Kammer schließt sich seiner Einschätzung in allen Einzelheiten an und bewertet die Behandlungsfehler als grob fahrlässig. Die Fehler sind den Beklagten zuzurechnen.

Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist nicht auszuschließen, dass auf diese Versäumnisse der Tod des Patienten zurückzuführen ist und er sich in dem rund vierstündigen Zeitraum unter Schmerzen gequält habe. Zwar sei aufgrund der unterlassenen Obduktion nicht mit Eindeutigkeit zu sagen, woran der Patient gestorben sei. Der von den Beklagten vorgebrachte Sekundentod sei indes unwahrscheinlich, weil die Zeichen eines Kreislaufversagens klinisch dokumentiert seien. Der Patient sei auf dem Boden der manifesten Sepsis an einem zunehmenden oder einem plötzlichen Ereignis verstorben. Zwar sei fraglich, ob der Patient bei Vornehmen des gebotenen Handelns um 3:30 Uhr noch zu retten gewesen wäre, aber auch dies ist vom Sachverständigen nicht ausgeschlossen worden. Dass der Patient bei Auffinden um 7:15 Uhr am 13.08.2008 keine schmerzverzerrten Gesichtszüge gezeigt habe, lasse nicht den Rückschluss zu, dass ein Todeskampf ausgeschlossen werden könne.

An dieser Einschätzung hat der Sachverständigen nachvollziehbar festgehalten auch im Hinblick auf die von den Beklagten eingewandte, streitige Einschätzung der Pflegekraft Frau B vom 13.08.2008 um 6:40 Uhr, die dann das Zimmer des Patienten aufgesucht und ihn als völlig unauffällig wahrgenommen haben soll. Hierzu finde sich nichts in der Dokumentation und als wahr unterstellt sei dies nicht hinreichend aussagekräftig. Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer an.

Da bereits der schriftliche Vortrag der Beklagten zu den von den Zeugen Dr. K und B zu bekundenden Wahrnehmungen nicht den Anforderungen des Sachverständigen an ein kunstgerechtes Vorgehen entspricht, ist nicht geboten gewesen, diese Zeugen zu vernehmen.

Vor diesem Hintergrund misst die Kammer dem verstorbenen Patienten für seinen rund vierstündigen Sterbeprozess ein Schmerzensgeld i.H.v. 4000 EUR zu.

Im Hinblick auf die vorangegangene Behandlung des Patienten zwischen dem 09.08.2008 und dem 12.08.2008 einschließlich hat die Klägerin keine haftungsbegründenden Behandlungsfehler der Beklagten beweisen können, so dass für die Zumessung nur dieser kurze Zeitraum zu berücksichtigen ist.

Denn für den vorangegangenen Zeitraum hat der Sachverständige keine haftungsbegründenden Fehler festgestellt. Der Sachverständige hat mit großer Sorgfalt die einzelnen Einträge in der Behandlungsdokumentation der Ärzte und der Pflege aus allen postoperativen Tagen überprüft und sie im Einzelnen ausführlich und überzeugend gewürdigt (Bl. 121 ff., Bl. 143ff. GA). Die Dokumentation zeige, dass die behandelnden Ärzte ab dem 11.08.2008 die Differenzialdiagnosen Ileus und protrahierte postoperative Darmatonie im Blick hatten. Das Auftreten eines paralytischen Ileus sei keine seltene Komplikation in der Dickdarmchirurgie und etwa 4,5% der Patienten zeigten einen mechanischen Ileus. Symptome eines mechanischen Ileus zeigten sich typischerweise zwischen dem 5. bis dem 14. postoperativen Tag. Die Entscheidung zur CT-Untersuchung am 12.8.2008 sei lege artis gewesen. Die Bewertung des Bildes sei jedoch nicht so, wie die Beklagten vorbringen, dass eine Insuffizienz der Anastomose oder ein Abszess hätten ausgeschlossen werden können, vielmehr seien sie nur nicht nachzuweisen gewesen. Dies sei ein Unterschied. Nach der Erfahrung des Sachverständigen könne ein CT in etwa 10% der Fälle einen falsch-negativen Befund liefern (Bl. 150 GA). Da die CT-Untersuchung aber den Übertritt des Kontrastmittels in das Colon descendens belegt habe, habe ein mechanischer Ileus hochwahrscheinlich nicht vorgelegen.

Insgesamt sei es aufgrund der spärlichen Dokumentation für den 12.08.2008 so, dass das Handeln der Ärzte weder als falsch bewertet könne, noch die Vorgehensweise als richtig befürwortet werden könne (Bl. 151 GA). Noch am 12.08.2008 sei ein internistisches Konsil veranlasst worden und der Internist habe dabei klinisch eindeutige Zeichen eines Ileus festgehalten: „Abdomen distendiert, keine Abwehrspannung, Druckschmerz ubiquitär, Darmgeräusche hoch gestellt, klingend, spärlich“. Der Sachverständige stellt fest, dass diese Darmgeräusche als Alarmzeichen im Sinne eines Ileus zu verstehen sind, was im Gegensatz zum Ergebnis des CT, wonach eine Darmpassage möglich war, gestanden habe. Dies zeige, dass die Symptome des Patienten schwierig zu deuten und nicht einheitlich waren. Aus Sicht ex post hätte die Indikation zur Relaparotomie an diesem Tag gestellt werden sollen (Bl. 153 GA). Anscheinend sei eine solche auch erwogen worden und deshalb der Internist hinzugezogen worden. Der Internist habe ausgehend von seiner Dokumentation die klinischen Zeichen des Ileus deutlich erkannt, mangels chirurgischer Erfahrung dann aber den Chirurgen einen aus Sicht ex post falschen Rat gegeben (Bl. 153 unten GA). Da das CT einen Flüssigkeitsverhalt in dem Bereich gezeigt habe, wo kurz zuvor die Drainage gezogen wurde, sei dies als Residuum der Drainage interpretiert worden, auch weil kein Kontrastmittelaustritt auf dem CT zu sehen gewesen sei. Ex ante ergebe sich daher nur eine schwer herleitbare Indikation zur Revisionsoperation. Zusammengefasst hat der Sachverständige für den 12.08.2008 einen Diagnosefehler konstatiert (Bl. 155 oben GA), der ausgehend von seinen Feststellungen in seinem Ergänzungsgutachten noch nicht unvertretbar war (Bl. 244 GA). Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer an.

Weitere Beweiserhebung ist in diesem Zusammenhang nicht geboten, da der Sachverständige bereits wegen der Bedeutung des CT vom 12.08.2008 ein nachvollziehbares radiologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. P vom 18.08.2014 (Bl. 116 ff. GA) veranlasst hat und dessen Ergebnisse in seinen differenzierten Feststellungen umfassend berücksichtigt hat.

Eigene Schmerzensgeldansprüche der Klägerin, die sie erstmals mit Schriftsatz vom 23.09.2015 (Bl. 312 ff. GA) geltend gemacht hat, sind verjährt. Seitens der Beklagten wurde nur bis Ende des Jahres 2013 auf die Erhebung der Einrede der Verjährung verzichtet, wie die Klägerin mit Schriftsatz vom 15.04.2016 vorgebracht hat. Dass ihre außergerichtlich und gerichtlich geltend gemachten Ansprüche von vornherein auch eigene Schadensersatzansprüche beinhaltet hätten, ist nicht zu erkennen gewesen.

Der von der Klägerin dargelegte psychische Schaden erfüllt überdies nicht die Anforderungen der Rechtsprechung an einen Schockschaden. Für den Nachweis eines kausalen psychischen Schadens fehlen zudem hinreichende aussagekräftige Anknüpfungstatsachen in den von der Kammer beigezogenen Behandlungsunterlagen der Klägerin persönlich.

Ein Feststellungsinteresse der Klägerin besteht für kausale vergangene materielle Schäden, insbesondere im Hinblick auf die Beerdigungskosten.

Der von der Klägerseite geltend gemachte Anspruch auf Ausbildungsunterhalt ist nicht hinreichend dargetan, auch nicht nach den Hinweisen der Kammer in ihrem Beschluss vom 22.07.2015 (Bl. 297 ff. GA). Es ist nicht hinreichend dazu vorgetragen worden, dass die Klägerin nicht bereits über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügte, die sie zur Übernahme der Geschäftsführung in der Z GmbH befähigte und auch nicht, dass das Architekturstudium ihre erste Berufsausbildung war und sie es ernsthaft und zielstrebig betrieb. Relevante Daten des Lebenslaufs (Schulabschluss, Zeitpunkt der Immatrikulation, Absolvieren von maßgeblichen Zwischenprüfungen) sind nicht dargelegt worden. Soweit die Klägerin auf diese Hinweise der Kammer behauptet hat, sie habe wegen der durch den Tod ihres Vaters verschlimmerten Depression ihr Architekturstudium nicht mit konstanter Intensität verfolgen können und habe sich nach dem Tod des Vaters in der Pflicht gesehen, das Erbe anzupacken und sich deshalb in Arbeit gestürzt, begründet dies weder einen Anspruch auf Ausbildungsunterhalt noch auf Schmerzensgeld. Die Klägerin verkennt, dass sie bei Eintritt des Todes die Regelstudienzeit des Architekturstudiums schon um vier Jahre überschritten hatte und von ihr Belege für eine Studientätigkeit nur für einen kurzen Zeitraum innerhalb ihres mehrjährigen Studiums beigebracht worden sind. Nicht nachvollziehen kann die Kammer den zuletzt mit Schriftsätzen vom 07.04.2016 und 11.04.2016 (Bl. 468 ff. GA) geltend gemachten Anspruch auf Verdienstausfallschaden, zu dessen Höhe ein weiteres Privatgutachten beigebracht worden ist, da insoweit zum Haftungsgrund nicht substantiiert vorgetragen worden ist. Eine kausale Kette zu den Behandlungsfehlern der Beklagten ist nicht hinreichend dargetan und auch nicht ersichtlich. Die Beweislastumkehr gilt für materielle Folgeschäden nicht, so dass von Seiten der Klägerin der Grund der Haftung voll zu beweisen gewesen wäre.

Soweit sich der Feststellungsantrag auf künftige materielle Schäden richtet, ist er ebenfalls nicht begründet, da nicht substantiiert behauptet wird, dass die Klägerin beabsichtigt, ihr Architekturstudium fortzusetzen oder welche anderen kausalen Schäden zukünftig möglich sind.

Die Zinsforderung ist begründet gemäß § 286, 288, 291 BGB.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 709 ff. ZPO. Hinsichtlich des Feststellungsantrags ist die Kammer von einem Obsiegen der Klägerin in einem Umfang von 10.000 EUR ausgegangen.

Streitwert: 199.892,49 EUR

Antrag zu 1): 20.000 EUR

Antrag zu 2): 179.892,49 EUR (Verdienstausfallschaden in Höhe von 159.892,49 EUR gemäß Schriftsatz vom 13.04.2016 zzgl. der mit der Klageschrift im Umfang von 20.000 EUR im Rahmen des Feststellungsantrags geltend gemachten Ansprüche)

Berichtigungsbeschluss vom 15. September 2016

Gemäß § 320 ZPO wird der Tatbestand des Urteils vom 06.07.2016 wie folgt berichtigt:

Gründe:

1.) auf Seite 2, in Absatz 2 werden die Sätze 3 und 4 umformuliert in: „Der Patient stellte sich am 29.07.2008 im Haus der Beklagten zu 1) vor. Am 04.08.2008 wurde er dort aufgrund des suspekten Coecumprozesses stationär aufgenommen.

2.) auf Seite 3, in Absatz 3 werden in Satz 2 Worte gestrichen: „nicht unerheblichen“.

Der weitergehende Antrag auf Berichtigung wird zurückgewiesen, da eine Unrichtigkeit des Tatbestandes nicht vorliegt. Hinsichtlich der geforderten Berichtigungen unter Ziffer 3 bis Ziffer 6 im Schriftsatz vom 21.07.2016 wird auf den Klägervortrag im Schriftsatz vom 26.11.2015 (Bl. 364 ff. GA) Bezug genommen. Auf die Verwendung einer bestimmten Formulierung besteht kein Anspruch. Eine zusammenfassende Wiedergabe ist erforderlich um den Vortrag einer Partei in einen Abschnitt in einem Tatbestand fassen zu können. Daher erfolgt zum Ende eines Tatbestandes stets der Hinweis, dass hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand auf den Akteninhalt Bezug genommen wird; so auch hier.

Hinsichtlich der geforderten Berichtigung unter Ziffer 7 im Schriftsatz vom 21.07.2016 wird darauf hingewiesen, dass Gegenstand einer Berichtigung gemäß § 320 ZPO nur der Tatbestand, nicht auch Urteilsformel und Entscheidungsgründe sind (Zöller/Vollkommer ZPO, 30. Aufl., § 320 Rz. 4).

 

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