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Arzthaftung – Sturz eines Patienten mit Alkoholentzugserscheinungen im Krankenhaus

OLG Dresden – Az.: 4 W 123/12 – Beschluss vom 07.03.2012

I. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 11.11.2011 – 6 O 2921/11 – abgeändert und dem Kläger ratenlose Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., W., für folgenden Klageantrag bewilligt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung 6.500,00 EUR) zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

II. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

III. Die Beschwerdegebühr wird auf die Hälfte ermäßigt.

Gründe

I.

Arzthaftung - Sturz eines Patienten mit Alkoholentzugserscheinungen im Krankenhaus
Symbolfoto: Von Toa55/Shutterstock.com

Der Kläger nimmt die Beklagte auf immateriellen Schadensersatz und Feststellung der Einstandspflicht im Zusammenhang mit der Diagnose und Behandlung einer Luxation und Fraktur des rechten Zeigefingers nach einem auf Grund eines Verkehrsunfalls vom 14.10.2007 erforderlichen stationären Aufenthalt in deren Klinikum in Anspruch. Das Landgericht hat den Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen, weil der Kläger seine Behauptung, die Luxation des rechten Zeigefingers beruhe auf einem Sturz im Krankenhaus, trotz Bestreitens durch die Beklagte nicht näher dargelegt und unter Beweis gestellt habe. Für eine dem Betreuungspersonal zuzurechnende Verletzung im voll beherrschbaren Bereich des Krankenhauses bleibe er hiernach beweisfällig. Auch für die wahlweise Behauptung, die Fraktur könne auch auf dem Verkehrsunfall vom 14.10.2007 beruhen und sei daher bei einer Versorgung ab 24.10.2007 angesichts schon früher mitgeteilter Schmerzen erst verspätet behandelt worden, fehle es an substantiierten Ausführungen zum tatsächlichen Verlauf, weil nicht vorgetragen werde, zu welchem Zeitpunkt das ärztliche Personal der Beklagten auf Schmerzen im Bereich des rechten Zeigefingers hingewiesen worden sei.

Der Beschluss ist dem Kläger am 21.11.2011 zugestellt worden. Mit der am 29.11.2011 eingegangenen und mit Schriftsatz vom 04.01.2012 begründeten Beschwerde vertritt der Kläger die Auffassung, es könne ihm aufgrund des bei ihm bestehenden Durchgangssyndroms nicht angelastet werden, dass er nicht angeben könne, wann genau welche Schmerzen aufgetreten seien. Maßgeblich sei, dass der Zustand auf ein Sturzgeschehen im Krankenhaus der Beklagten bei erhöhter Überwachungs- und Sicherungspflicht zurückzuführen sei.

Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die sofortige Beschwerde des Klägers ist zulässig, insbesondere innerhalb der Frist des § 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO erhoben. Sie ist auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die auf die Verurteilung zu einem Schmerzensgeld in angemessener Höhe gerichtete Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg i.S.d. § 114 ZPO. Im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens sind die Erfolgsaussichten anhand des vorgetragenen Sachverhaltes und der angebotenen Beweise lediglich im Wege einer summarischen Prüfung zu beurteilen, die sich sowohl auf die rechtliche als auch auf die tatsächliche Seite, d.h. die Frage der Beweisbarkeit, erstreckt. Dabei ist – was die tatsächliche Ebene betrifft – auch eine Beweisantizipation nicht generell unzulässig, so dass Prozesskostenhilfe verweigert werden kann, wenn rechtlich erheblicher Vortrag erkennbar nicht zu beweisen ist (BGH VersR 1988, 174; OLG Stuttgart, VersR 2005, 524; Zöller-Philippi, ZPO, 29. Aufl., § 114 Rn. 26). Im Arzthaftungsrecht ist eine solche Beweisantizipation jedoch nur mit Zurückhaltung anzuwenden, weil hier das Gericht lediglich maßvolle Anforderungen an die Darlegungs- und Substantiierungslast des klagenden Patienten stellen darf, da diesem typischerweise die nötigen medizinischen Fachkenntnisse fehlen (BGH, Urteil vom 08.06.2004 – VI ZR 199/03 – juris; OLG Brandenburg, OLGR 2005, 489; OLG Brandenburg NJW-RR 2001, 160). Gemessen an diesen Grundsätzen ist das tatsächliche Vorbringen des Klägers zu einem Behandlungsfehler des im Klinikum der Beklagten beschäftigten ärztlichen und nichtärztlichen Personals als noch ausreichend anzusehen. Wie das Landgericht insofern zutreffend ausgeführt hat, ist zwar nicht hinreichend substantiiert vorgetragen, dass der Sturz sich außerhalb des normalen, alltäglichen Gefahrenbereichs, etwa während einer Behandlungsmaßnahme, ereignete. Unstreitig und aus den vorgelegten Kopien der Behandlungsunterlagen ersichtlich litt der Kläger aber während des gesamten Aufenthalts im Klinikum der Beklagten an einem Alkoholentzugsdelir mit „massiver Unruhe und Agitiertheit“ (Schriftsatz der Beklagten vom 22.08.2011) und einer hieraus resultierenden Gefahr der Selbstgefährdung. Bei einem derartigen Durchgangssyndrom kommt eine Pflichtverletzung in Betracht, wenn die Selbstgefährdung des Patienten für die behandelnden Ärzte vorhersehbar war und die im jeweiligen Einzelfall erforderlichen Maßgaben verabsäumt wurden. Bei der Beurteilung der Vorhersehbarkeit einer Selbstgefährdung aus der ex ante-Perspektive kann aber der eingetretene Erfolg noch nicht als Indiz für eine Pflichtwidrigkeit gewertet werden, denn die absolut sichere Voraussehbarkeit ist unmöglich (OLG Koblenz, OLGR 2000, 159; Wolfslast NStZ 1984, 105; Senat, Beschluss vom 20.05.2011, 4 U 209/11 n.v.). Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, dass die Gefahr der Selbstgefährdung diagnostiziert wurde oder aufgrund der vorhandenen Symptome hätte diagnostiziert werden müssen und dass sodann Maßnahmen derjenigen Sicherheitsstufe angeordnet werden, deren Anwendung zum Schutz des Patienten erforderlich ist. Hierbei ist den Ärzten und Betreuern ein weiter Beurteilungsspielraum zuzubilligen (Senat, Urteil vom 20.11.1997, Kza 3060/118; OLG Düsseldorf Kza 3060/12). Wird die Anordnung eindeutig gebotener Maßnahmen trotz eines ex ante erkannten oder erkennbaren Delirs verabsäumt und kommt es in der Folge zu einer Verletzung des Patienten, kann dies im Wege des Anscheinsbeweises auch dann für eine Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem Eintritt dieses Schadens sprechen, wenn die näheren Umstände der Verletzung nicht mehr aufgeklärt werden können. Vorliegend kann ohne sachverständige Beratung nicht entschieden werden, ob das Personal der Beklagten trotz des von ihm erkannten Durchgangssyndroms im Zeitraum bis zum 24.10.2007 die ex ante erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Klägers vor einer Selbstgefährdung getroffen hat und ob das im Schriftsatz der Beklagten vom 1.3.2012 behauptete „engmaschige Monitoring“ in Verbindung mit der intravenösen Verabreichung von Paracefan und Haloperidol und einer teilweisen Fixierung des Klägers ausreichend waren. Da aus den Behandlungsunterlagen eine Verletzung des rechten Zeigefingers bei Aufnahme im Klinikum der Beklagten am 14.10.2007 nicht ersichtlich ist, ist für das Prozesskostenhilfeverfahren auch davon auszugehen, dass sich diese Verletzung im nachfolgenden Zeitraum bis zum 24.10.2007 ereignete. Bei dieser Sachlage kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Luxation und die Fraktur des rechten Zeigefingers des Klägers auf einer unzureichenden Überwachung und Sicherung und damit auf einer Nebenpflichtverletzung des Krankenhauspersonals der Beklagten beruht. Geht man aufgrund des ungeklärten Verletzungsherganges davon aus, dass diese Fraktur bereits bei Aufnahme des Klägers im Klinikum der Beklagten am 14.10.2007 vorlag, so kommt ein Befunderhebungsfehler in Betracht, wenn die Ärzte der Beklagten auf Schmerzzustände in diesem Bereich hingewiesen wurden, hierauf aber nicht zeitnah reagiert haben. Hierzu hat der Kläger mit Schriftsatz vom 22.07.2011 Zeugenbeweis angeboten, dem das Landgericht ggf. nachzugehen haben wird. Die dargelegten Verletzungen sind auch grundsätzlich geeignet, ein Schmerzensgeld i.H.d. vorgestellten Betrages zu rechtfertigen.

Soweit darüber hinaus die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus der ärztlichen Behandlung im Zeitraum vom 14.10. bis 10.12.2007 begehrt wird, hat die Klage indes keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zum einen ist der Antrag insoweit zu weit gefasst, als er auch die gesamte Behandlung wegen der Unfallverletzung vom 14.10.2007 umfasst, die aber zum weit überwiegenden Teil nicht auf die Erkennung und Behandlung der Luxation und Fraktur des rechten Zeigefingers, sondern auf der Versorgung der Unfallfolgen bezogen war. Zum anderen besteht zumindest hinsichtlich der künftigen immateriellen Schäden ohnehin kein Feststellungsinteresse. Wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes scheidet eine Klage auf Feststellung der Ersatzverpflichtung für künftige immaterielle Schäden nämlich aus, wenn ausschließlich vorhersehbare Schädigungsfolgen geltend gemacht werden, die von der Zubilligung des bezifferten Schmerzensgeldbetrages umfasst sind, da mit dem insgesamt zuzuerkennenden Schmerzensgeld nicht nur alle bereits eingetretenen, sondern auch alle erkennbaren und objektiv vorhersehbaren künftigen unfallbedingten Verletzungsfolgen abgegolten sind. Verlangt ein Kläger für erlittene Körperverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den zuerkannten Betrag alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH VersR 2006, 1090). Nur diejenigen Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben müssen, können Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld sein. Nur in diesem Umfang besteht auch ein Feststellungsinteresse für einen immateriellen Vorbehalt. Hierzu ist dem klägerischen Vorbringen jedoch nichts zu entnehmen.

Da die Beschwerde teilweise Erfolg hat, war die Gerichtsgebühr (Ziffer 1812 KV GKG) auf die Hälfte zu ermäßigen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 127 Abs. 4 ZPO).

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